Mike Tyson hat im Ring fast alle großen Boxer besiegt. Nur einen bekommt der Ex-Schwergewichts-Weltmeister auch nach Ende seiner Karriere nicht in den Griff: sich selbst
Die Temperatur sinkt gefühlt um 20 Grad, als Mike Tyson und seine Aufpasser den Raum betreten. „Muss ich nett zu diesem Typen sein?“, fragt der Boxer den Filmemacher James Toback. „Nein,“ antwortet der.
Tyson scheint aber gerade nicht die Energie für Bösartigkeiten zu haben. Sein Nadelstreifenanzug schlabbert und unter dem schwarzen Hemd quillt sein Bauch hervor. Sein Kopf fällt zur Seite, als könne sein Pitbull-Nacken das Gewicht nicht tragen. Alles bedeutet Anstrengung für Tyson, der leise und lethargisch spricht wie jemand, der zu lange auf einer zu hohen Dosis Antidepressiva gewesen ist. Sein Maori-Gesichtstattoo, das ihm einst das Aussehen eines Kriegers verlieh, wirkt heute gutmütig.
„Guten Tag, Legende“, begr
ende“, begrüße ich Tyson. Er schaut irritiert und murmelt, er könne nicht gut mit Komplimenten umgehen. Doch so ist es nun mal, er ist eine Legende. Die meisten Experten teilen die Ansicht, dass er der größte Schwergewichts-Boxweltmeister ist – oder es zumindest hätte sein sollen. Sicher, er hatte nicht Muhammad Alis Spritzigkeit oder dessen Anmut, doch als K.o.-Schläger kam niemand an Iron Mike heran, der seine ersten 19 Profikämpfe durch Knock-outs gewann, mit 20 der jüngste Schwergewichtsweltmeister wurde, drei Jahre ungeschlagen blieb und dem Rest so weit voraus war, dass es keinen Rivalen für ihn geben konnte. Bis die Dinge begannen, aus der Bahn zu laufen.Als Junge klein, fett, mit Brille1988 trat Tysons Frau, die Schauspielerin Robin Givens, neben ihrem Mann vor amerikanische Fernsehkameras und erklärte, er sei ein furchterregender Manisch-Depressiver, ihre Ehe die Hölle. 1990 verlor Tyson erstmals einen Kampf – gegen den Underdog Buster Douglas. Er war faul und selbstgefällig geworden, hatte sich von Drogen und Alkohol verführen lassen. 1992 wurde er wegen Vergewaltigung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Man könnte meinen, dies hätte ihn zerstört, manchmal behauptet er das auch selbst. Doch erstaunlicherweise erlangte er ein Jahr nach seiner Entlassung den Weltmeistertitel zurück. Und warf dann aufs Neue alles weg.Vor vier Jahren hat sich Tyson aus dem Sport zurückgezogen. Mit seinem Leben hat er seither außer ein paar Schaukämpfen wenig angefangen. Er hat Gewicht zugelegt und ist erneut mit dem Gesetz in Konflikt geraten: 2007 wurde er wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt. Außerdem wurden bei ihm drei Tüten Kokain gefunden. Er musste einen Tag in Haft, bekam drei Jahre auf Bewährung und wurde zu einer Rehabilitationsmaßnahme verpflichtet. Zu dieser Zeit fragte sein alter Freund James Toback den heute 42-jährigen Tyson, ob er einen Film über ihn drehen dürfe.Herausgekommen ist dabei ein 90 Minuten langer Monolog, ein Bewusstseinsstrom, in dem Tyson erzählt: von seiner Kindheit mit einer Mutter, die mit ständig wechselnden Männern schlief, vielleicht sogar eine Prostituierte war; von seinem Vater, den er nie kennenlernte, davon, wie er als Zwölfjähriger den Dealern Drogen klaute und von den Jugendstrafanstalten. Und er erzählt, wie der Boxtrainer Cus D’Amato ihn unter seine Fittiche nahm, als er gerade mal ein Teenager war. Tyson ist kein Mann, der vom rechten Weg abkam. Er wurde schon abseits davon geboren. Und irgendwie gelang es ihm dann, wenngleich viel zu kurz, seiner traumatischen Bestimmung zu entkommen.Toback gesteht entwaffnend offen ein, was Tyson zu einem so hervorragenden Protagonisten macht: „Für gewöhnlich endet eine Tragödie mit dem Tod. Doch hier sehen wir eine tragische Figur, die überlebt hat und sich fragt: Was mache ich jetzt?“ Der Regisseur und der Boxer sind bereits seit 23 Jahren befreundet. Der von allem Sexuellen besessene Experimentalfilmer hatte gerade The Pick-Up Artist mit Robert Downey junior beendet, da tauchte Tyson auf der Abschlussparty auf. „Er war 18 und noch nicht Weltmeister. Er hatte von den Orgien im Haus des Football-Spielers Jim Brown gehört und wollte unbedingt mehr wissen.“ Dann kamen die Acid-Trips.„Wenn ich weine, bin ich ein Arsch“Zu unserem Treffen in den Hollywood Hills kommt Tyson ein paar Stunden zu spät. Vor einigen Jahren hätten Dutzende Leute zu seiner Entourage gehört, heute sind es drei. Einer von ihnen steht breitbeinig neben mir und beäugt mich. Das schüchtert ein, ist aber auch ziemlich lustig – er scheint weniger seinen Boss zu beschützen, als sicherzugehen, dass ich nicht abhaue. Es ist ein heißer Tag in L.A., die Sonne brennt. Wir setzen uns in den Garten. Ich frage Tyson, an dessen Nase ein Schweißbach herunterläuft, was er durch den Film über sich gelernt habe.„Mir wurde klar, dass ich gereizt werden würde, wenn ich neben mir selbst sitzen müsste. Der Typ auf der Leinwand war impulsiv, unberechenbar.“ Was hat ihn am meisten erschreckt? „Ich finde, wenn ich weine, bin ich ein Arsch.“ Hier spricht Tyson, der Machoman, der vor seinen Kumpels nicht das Gesicht verlieren will. Dabei ist dieser Moment, in dem er davon erzählt, wie er als Kind gehänselt wurde, einer der berührendsten des Filmes. „Das ist nur deine Meinung, mehr nicht“, entgegnet Tyson leise.Als Junge war Tyson klein, fett und trug eine Brille. Er war von einer Asthma-Erkrankung geschwächt und ein Außenseiter, weil er mit dem Geld, das er stahl, Tauben kaufte. Wenn die anderen Kinder auf ihm rumhackten, rannte er weg. Eines Tages nahm einer der älteren Tyrannen eine seiner Tauben und drehte ihr vor dem jungen Mike den Hals um. Da schlug er zum ersten Mal zu. Er war selbst überrascht, was für ein guter Kämpfer er war. Danach wollten alle mit ihm befreundet sein.K.o. in acht SekundenD’Amato war es dann, der Tysons Leben veränderte. Nachdem die Polizei den jungen Tyson mit 1.500 Dollar in der Tasche aufgesammelt hatte, wurde er in eine Jugendstrafanstalt geschickt, wo er das Boxen lernte. Bei seiner Entlassung wurde der Kontakt zu D’Amato hergestellt, einem Trainer aus der Bronx, der die 70 schon überschritten und Rocky Marciano sowie Floyd Patterson entdeckt hatte. D’Amato nahm den Jungen bei sich auf, gab ihm Essen, unterrichtete ihn, trainierte, disziplinierte und liebte ihn. Die beiden wurden unzertrennlich.1982 nahm der 14-jährige Tyson an der Junioren-Olympiade teil und brach dort jeden Rekord, darunter auch den für das schnellste K.o. (nach acht Sekunden). D’Amato sagte ihm, er brauche nie wieder Angst zu haben, belästigt zu werden, und Tyson wusste, dass das stimmte. Jetzt verschluckt er seine Tränen. „Weil ich wusste, dass ich sie verdammt noch mal umbringen würde, wenn sie sich mit mir anlegen würden.“Millionen träumen davon, Champion zu sein. Fühlt es sich gut an, einer der wenigen zu sein, die es geschafft haben? Da ist sie wieder, die Zaghaftigkeit: „Ich glaube, dass jeder es schaffen kann, weil ich nicht viel von mir selbst halte. Ich denke, wenn ich es kann, kann es jeder.“ Das Problem sei, dass er Stimmen im Kopf habe und sie so oft im Wettstreit miteinander liegen würden.Welches Gefühl überwiegt bei ihm? Der Stolz auf die großen Dinge, die er erreicht hat, oder die Scham für die schlimmen Dinge, die er getan hat. „Ich weiß es nicht. Denke ich über die schlimmen Dinge nach, fühle ich mich deprimiert. Denke ich über die guten Dinge nach, werde ich nur stolz und egoistisch. Also versuche ich, beides sein zu lassen.“ Vielleicht ist es die große Tragödie in Tysons Leben, dass D’Amato bereits tot war, als er Weltmeister wurde.Er verlor seinen moralischen Kompass. Er kaufte Häuser dutzendweise, besaß mehr als 300 Autos, beschenkte Frauen überschwänglich, die ihm nur ein paar Minuten lang schöne Augen gemacht hatten. In seinen besten Zeiten konnte er 30 Millionen Dollar pro Abend verlangen, insgesamt verdiente er mehr als 300 Millionen Dollar. 2003 war er bankrott.Die Antidepressiva machen es leichterIm Film nennt er Desiree Washington, wegen deren Vergewaltigung er verurteilt wurde, eine „jämmerliche Drecksau von Frau“ und beharrt auf seiner Unschuld. Dennoch spricht er unverblümt über seine sexuellen Vorlieben: „Ich mag starke, selbstbewusste Frauen und will sie sexuell dominieren. Ich schaue sie gern an, wie ein Tiger die Beute, die er gerade verwundet hat. Ich habe vielleicht Frauen ausgenutzt, aber niemals sie (Washington).“Er hält inne, der Schweiß tropft von seinem Kopf. „Wenn man zu einem Arzt oder Psychologen geht und der einen fragt, ob man Stimmen hört, sagt man natürlich Nein, weil sie einen sonst in eine Zwangsjacke stecken. Dabei hören wir Stimmen. Unser Kopf spricht zu uns. Er ist also nicht dein Freund, wenn du ihn nicht kontrollierst.“ Zum Glück, sagt er, fühle er nicht mehr so intensiv. Vielleicht haben die Antidepressiva es ihm leichter gemacht.„Bleib mit deinen Fragen beim Film“, sagt einer der Aufpasser zu mir. „Über diese Dinge wollen wir nicht reden.“ Sein Schützling ignoriert die Anweisung. „Ich rede über alles. Mir ist klar, dass ich auf eine bestimmte Weise verkauft werden muss. Aber ich schäme mich für nichts, was ich in meinem Leben getan habe.“ Für eine Sekunde glaubt er wohl, was er da sagt. Doch in seinem Leben gibt es vieles, das er nicht rechtfertigen kann. Nachdem Evander Holyfield ihm 1997 einen Kopfstoß verpasst hatte, biss er diesem Gegner beim Rückkampf sieben Monate später ein Stück des Ohres ab und spuckte es in den Ring. Er erhielt die maximale Geldstrafe von drei Millionen Dollar und musste seine Lizenz abgeben. Doch der Boxsport brauchte Tyson wie dieser das Boxen, und so erhielt er eine letzte Chance. Inzwischen hatte er aber seine Geschwindigkeit, seine Treffsicherheit und seinen Hunger verloren. Auch mit seinem Sinn für fair play war es vorbei. 1999 wurde ihm vorgeworfen, im Ring versucht zu haben, seinem Gegner Frans Botha die Arme zu brechen. Er kämpfte gegen Orlin Norris und schlug ihn K.o., nachdem die Glocke bereits geläutet hatte. Ein Sieg gegen Andrzej Golota im Jahr 2000 wurde ihm aberkannt, weil er positiv auf Marihuana getestet worden war. 2003 ließ sich Monica Turner, die Mutter von zweien seiner sechs Kinder, von ihm scheiden. Bei seinem letzten Kampf gegen den Boxer Kevin McBride gab er eine bemitleidenswerte Figur ab – mit gespreizten Beinen war er in einer Ecke zusammengesackt und konnte oder wollte nicht aus eigener Kraft aufstehen. Danach gab er seinen Rückzug bekannt.Wenn er jetzt darüber redet, wie er Holyfields Ohr abgebissen oder den Boxpromoter in der Öffentlichkeit zusammengeschlagen hat, sagt er einfach, er sei von Sinnen gewesen. Heute lebt Tyson allein in einem bescheidenen Haus in Las Vegas. Ein Freund ist oft bei ihm und regelt seine Angelegenheiten. Für die Zukunft hofft er, seinen Kindern ein Vater sein zu können. „Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet, um ihnen ein gutes Leben bieten zu können, und habe es nie mit ihnen genossen.“Tyson wirkt erschöpft. Von diesem Nachmittag, von seinem Leben, seinem Kopf, von allem. Er sagt, es sei unwahrscheinlich, dass er je wieder etwas mit dem Boxen zu tun haben werde. Warum zieht er keine Karriere als Kommentator in Betracht? Er denkt eine Weile nach: „Ich schäme mich für so viele Dinge, die ich getan habe.“ Beim Boxen oder in seinem Privatleben? „Auch im Ring.“ Hatte er nicht eben noch erzählt, er schäme sich für nichts? Er lächelt und zeigt auf seinen Kopf, um zu sagen, dass das Letzte, das man von Mike Tyson erwarten sollte, Beständigkeit ist.Gekürzte Fassung.Übersetzung: Zilla Hofman