Was tun, wenn die Jagd nach Geld müde macht? Der Autor Henry David Thoreau hat es im 19. Jahrhundert gezeigt: Er zog für zwei Jahre in den Wald. Ein Selbstversuch
Vor sechs Jahren steckte ich in einer wirklich miserablen Lage. Ich war gefangen in der zermürbenden Pendelei zwischen unserem kleinen Hof im Südosten Schottlands und einem seelen-verzehrenden Bürojob in Edinburgh. Jeden Tag verließ ich in aller Frühe, wenn meine Familie noch schlief, das Haus und konnte abends, wenn ich nach Hause kam, gerade noch unseren zwei kleinen Jungs gute Nacht sagen. Wir liebten unser Heim, konnten es uns aber eigentlich nicht leisten und so fand ich mich damit ab, das Halb-Leben eines Pendlers zu führen. Acht Stunden am Tag saß ich am Schreibtisch, drei weitere in meinem Auto.
Ich hatte mir meine Situation selbst zuzuschreiben. Auch ich jagte dem Geld hinterher, in der Hoffnung, dass es uns behilflich sein könnte, Raum und Z
Gekürzte Fassung. Übersetzung: Zilla Hofman
Raum und Zeit und die Aussicht auf Glück zu kaufen. Die Realität war aber, dass wir Schulden, geisttötende Jobs und kaum Zeit hatten, die wir in unsere Familie oder Leben hätten investieren können. Irgendetwas musste passieren. Ich begann die Stunden im Auto zur Erstellung eines Fluchtplans zu nutzen. Das Ergebnis klang wie der blanke Wahnsinn: Ich würde meinen Job schmeißen und in die Wildnis reisen, in der Hoffnung einen neuen Weg zu finden.Drei Stunden Autofahrt - und ein irrer PlanDie Idee wurde keineswegs aus dem Nichts geboren. Seit meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, einen wilden Ort zu finden, an dem ich eine Hütte bauen und einfach, rein und in Einklang mit der Natur leben würde. In den letzten Monaten hatte dieser Traum mich immer wieder heimgesucht, wohl weil ich das Buch Walden oder Leben in den Wäldern von Henry David Thoreau entdeckt hatte.Ein Freund hatte es mir gegeben, er ahnte nicht, welche Auswirkung es einmal auf mein Leben haben sollte. Auch Thoreau waren die Illusionen über die Verlockungen der modernen Gesellschaft (im Gegensatz zu mir lebte er allerdings in den 1840ern) abhanden gekommen, auch er hatte sich auf der Suche nach einem einfacheren, selbst-genügsameren Lebensstil in die Natur zurückgezogen.Den Gedanken dann Taten folgen zu lassen, war für mich allerdings nicht einfach. Angefangen damit, dass ich es Freunden und Familie beibringen musste. Wie kaum anders zu erwarten, reagierten die meisten wenig begeistert. Einige von ihnen vermuteten, ich hätte unter dem Stress des Pendelns eine Art Nervenzusammenbruch erlitten. Andere dachten, ich würde meine Verantwortung vernachlässigen. Meine Frau hingegen verstand mich sofort.Der BefreiungsschlagJuliet fühlte sich in unserer Situation ebenfalls gefangen. Kein Geld der Welt war das wert, fanden wir beide und trafen eine Abmachung: Ich würde irgendwie eine Hütte in der Wildnis bauen und dort ein Jahr lang allein leben. Die Familie mitzunehmen war unmöglich – die Kinder waren zu jung, es wäre zu gefährlich gewesen. Juliet würde sich derweil einen eigenen Traum erfüllen und mit den Jungs auf die Isle of Mull zurückkehren, auf der sie geboren wurde.Allmählich nahm unser Plan Gestalt an und nach viel harter Arbeit und einer fristgerechten Kündigung fand ich mich endlich inmitten von Alaska wieder, 300 Meilen von der nächsten Straße entfernt. Ich hatte wirklich zu kämpfen und hasste mich selbst dafür, so naiv gewesen zu sein zu glauben, dass ich an einem so abgelegenen und unwirtlichen Ort leben könnte. Die ersten Monate lebte ich nur in Gesellschaft meines Hundes in einem Zelt aus Segeltuch und arbeitete ununterbrochen daran, meine fünf mal fünf Meter große Unterkunft vor Wintereinbruch fertig zu stellen. Es gelang mir grade eben: Die Temperatur sank auf minus 50 Grad Celsius und bald musste ich mit fast vier Meter hohem Schnee zurechtkommen und damit, dass es immer nur den halben Tag lang hell war. Erst nachdem ich beinahe verhungert wäre, hatte ich den Dreh raus. Ich lebte von Biberfleisch und bewegte mich mit dem Hundeschlitten fort. Endlich lebte ich das Leben, von dem ich geträumt hatte.Nach einem Jahr kehrte ich dann nach Hause zurück und obwohl wir nun arbeitslos waren, waren wir reich. Meine Reise in die Wildnis hatte mein Leben für immer verändert. Auch Juliet hatte ihr Leben neu ausgerichtet und unser Haus in den Scottish Borders verkauft, damit wir nie mehr dorthin zurück könnten. Nun lebten wir auf Mull, in der Nähe unserer Freunde und unserer Familie und nahe der See, die Juliet immer geliebt hatte.Ein Buch, ein BegleiterIn den seltenen Augenblicken, in denen ich nicht voll und ganz mit dem mühseligen Überleben beschäftigt war, las ich. Unter anderem natürlich auch die eselsohrige Walden-Ausgabe. Das Buch ließ mich weitermachen, wenn es schwer wurde und auch in den Jahren nach meiner Rückkehr habe ich immer wieder danach gegriffen.Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, zum Walden Pond zu reisen, jenem See in der Nähe der kleinen Stadt Concord im US-Bundesstaat Massachussetts, der Thoreaus Buch seinen Titel gab. 1845 baute er dort inmitten eines seinem Freund Ralph Waldo Emerson gehörendem Waldgebiets eine Hütte, in der er zwei Jahre lang lebte. Obwohl er nie behauptete, wirklich in der Wildnis zu sein, erzählt sein Buch von einem wunderschönen Versuch, das Leben radikal zu vereinfachen. An den besten Stellen konzentriert er sich dabei auf die Schilderung der Entfremdung und der Sinnlosigkeit ständigen Fortschritt- und Verbesserungsstrebens und beschreibt auf zutiefst persönliche Weise, wie das Leben mit der Natur die Seele nähren kann.Thoreau wetterte gegen die Arbeitskultur, welche die Menschen dazu bringe „einen Teil der besten Zeit des eigenen Lebens damit zu verbringen, Geld zu verdienen, um dann in dessen am wenigsten wertvollen Teil eine fragwürdige Freiheit genießen zu können.“Außerdem schrieb er wunderbar über den Walden Pond, dessen mit Eichen und Pinien bewaldete Umgebung und die Qualität seines Wassers. Er lotete den See aus, von dem es hieß, er sei bodenlos, und fertigte eine detaillierte und akkurate Karte mit den Tiefen und Umrissen des Grundes an. Der Ort hatte ihn inspiriert, wie sein Buch wiederum viele andere inspiriert hatte. Mich eingeschlossen.Wo alles begann, ist heute ein ParkplatzIch hatte schon seit langem zum Walden Pond pilgern wollen, als eine Art Hommage an den Mann, dessen Gedanken mir zur Umkehr meines Lebens verholfen hatten. Irgendwie schien aber auch ein Risiko dabei zu sein. Die Welt hatte seit Thoureaus Zeiten Veränderungen erlebt und ich lief Gefahr, die Vision dieses Ortes zu zerstören, die ich in meinem Kopf trug. Nichtsdestotrotz landete ich schließlich am Flughafen von Boston, meine Walden-Ausgabe in der Tasche. Ein Mitreisender den nach dem Weg zum Walden Pond fragte, antwortete ohne überlegen zu müssen. „45 Minuten Fahrzeit von hier“. Ich bedankte mich, wenn auch irritiert darüber, dass ihm die Antwort so leicht gefallen war: Entweder war ich auf einen seltenen Thoreau-Verehrer gestoßen oder mein Ziel lag kein Stück abseits der Touristenpfade.Ich hatte keine Zeit gehabt mir eine Karte zu kaufen und ließ mich deshalb ziemlich verlegen auf das Navigationssystem meines Mietwagens ein. Schweren Herzens gab ich „Walden Pond“ ein und stellte mir dabei vor, was Thoreau wohl von so einem Gerät gehalten hätte. Eine Computerstimme befahl mir, mich anzuschnallen und leitete mich dann durch die Stadt und über verschiedene Highways, bis mir schließlich, exakt 45 Minuten später, ein Schild den Weg auf einen ordentlichen, asphaltierten Parkplatz zwischen wogenden Eichen wies.Es war so kalt, dass meine Biberfellmütze gerechtfertigt war. Außerdem steckte ich mit geschichtsträchtigem Gefühl meinen heiligen Wasserkessel ein, weil ich hoffte, mir an einem geeigneten Fleckchen einen Tee kochen zu können. Es war mitten in der Woche und niemand war zu sehen. Der ausgetretene Pfad verriet mir aber, dass dieser Ort viel besucht wurde. Ein Schild wies mich darauf hin, dass Feuer verboten seien und mein Herz wurde noch schwerer, als ich mich erinnerte, welche Freude der Feuerrauch Thoreau bereitet hatte. Und dennoch, trotz der tristen Schilder und den eindeutigen Beweisen, dass schon tausende Menschen hier gewesen waren: als ich ihn endlich erreicht hatte, war der See atemberaubender als ich es mir vorgestellt hatte. Thoreaus Metapher vom „Auge der Erde“ und den Bäumen als „Wimpern, die es säumen“, kam mir inden Sinn.Manchmal ist schiere Existenz schon ein ÜbelLangsam folgte ich dem Pfad weiter zu einer kleinen Bucht, die die Besucherkarte als Standort Thoreaus’ Hütte auswies. Ein paar Jogger schossen an mir vorbei, und erhoben grüßend die Hand. Bald erreichte ich die angemessen schmucklos markierte Stätte und ging sehr langsam darauf zu.Ich wollte mehr von dem See sehen. Also machte ich mich auf den Weg, wobei ich eine Gruppe japanischer Geschäftsleute überholte, die höflich beiseite traten. Das Gewässer lag still und tief. Ich setzte mich ein Weilchen hin um alles in mich aufnehmen zu können. Ich genoss den Anblick der trockenen Eichenblätter, die anmutig auf dem blau-grünen Wasser landeten. Dieser See wird jährlich von 600.000 Menschen besucht. Ich musste mich schon ziemlich anstrengen, mir durch diesen Umstand nicht das Gefühl verderben zu lassen, eine persönliche Entdeckung gemacht zu haben. Ich dachte an den Zaun, die Schilder, den Parkplatz und die Busse. Ich betrachtete die Info-Broschüre und die Karte, die ich erhalten hatte und verübelte ihnen ihre Existenz. Ein paar Augenblicke lang bereute ich es hergekommen zu sein.Doch dann sprang ein Fisch in die Luft und ich schaute hinüber und sah die Ringe, die sich auf einem Teil des Wassers ausbreiteten, der zu Glitzern begonnen hatte, als eine Wolke an der Sonne vorbei zog. Ich streckte mich in die Höhe, zupfte ein paar grüne Nadeln von einer Pinie, zerrieb sie zwischen meinen Finger und fing mit der Nase ihren sauberen Duft ein. „Jede kleine Piniennadel dehnte sich und erschwoll vor Sympathie und wurde Freund mit mir,“ hatte Thoreau geschrieben und ich saß nun hier, so weit ich wusste, unter dem selben Baum. Ich spürte ein Gefühl von Kontinuität, davon, dass Lebenswege einander kreuzten und fühlte mich wieder hergestellt.Als ich an diesem Abend zurück nach Boston fuhr, dachte ich darüber nach, was Thoreau wohl mit der modernen Welt angefangen hätte. Vielleicht würde es sich in diesen unglücklichen Zeiten, in denen die Welt die Taschen auf der Suche nach den letzten Pfennigen umstülpt, auszahlen, zurück zu den Wurzeln zu gehen und der Natur spirituelle Werte abzugewinnen. Es könnte sich doch auszahlen, sich zu erinnern, dass wo immer ein Stück Natur ist, auch eine Chance auf Glück, Gelassenheit und Wahrheit besteht.