Gerade mal ein Monat ist vergangen seit dem Mord an einer Ägypterin in einem Dresdener Gerichtssaal. Doch die Stadt ist inzwischen schon wieder mit sich im Reinen
Man bekommt immer die Antwort, nach der man fragt“, sagt Anja Glenk. Die junge Frau meint ihre Arbeit im Dresdener Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik. Aber der Satz gilt für so ziemlich alles, was mit dieser Geschichte zu tun hat: für die Stadt, für die Politik, für die Gesellschaft, für die Medien. Alle suchen sie die Geschichten, die sie immer erzählen, malen sich die Bilder, die sie für die Wirklichkeit halten, und was darin nicht vorkommt, das hat darin keinen Platz. Auch wenn es die Realität ist. Die Realität ist in dieser Geschichte schwer zu fassen und nicht leicht zu ertragen. Aber es bleibt die Realität.
Am 1. Juli wird am Dresdner Landgericht bei einer Berufsverhandlung eine Zeugin von dem Angekl
dem Angeklagten erstochen. Der Ehemann der Zeugin, der ihr zu Hilfe eilt, wird lebensgefährlich verletzt, ein hinzugerufener Polizist schießt auf ihn statt auf den Angreifer.Das ist die Version, die nicht nur Teymuras Kurzchalia, Gruppenleiter am Max-Planck-Institut, am Abend in den Nachrichten hört. Eine Meldung aus der Rubrik Vermischtes, Polizeibericht. Am nächsten Mittag findet er eine Mail in seinem Briefkasten, die der geschäftsführende Direktor verschickt hat. Marino Zerial erklärt darin, dass es sich bei dem verletzten Mann der Zeugin um einen Mitarbeiter handle. Zerial bittet, die Persönlichkeitsrechte zu wahren und Anfragen an den Pressesprecher weiterzuleiten. „Darüber hinaus haben wir die Haupteingänge des Instituts geschlossen, um zu verhindern, dass Medienvertreter unerlaubt Zutritt zum Institut nehmen.“ Am heutigen Donnerstag kommt die Oberbürgermeisterin Helga Orosz (CDU) ins Institut, um mit den Kollegen des verletzten und verwitweten Kollegen zu sprechen. Schließlich. Nach über einem Monat.Am Anfang ist der Mord im Landgericht ein Fall für den Boulevard. Am Tag danach stehen die Reporter vor der Tür, rufen an. Der Pressesprecher, Florian Frisch, sagt, dass es eine Tragödie sei und alle entsetzt wären. Mehr nicht. Das Max-Planck-Institut ist eine stolze Adresse, man befriedigt hier nicht Sensationsgelüste von Zeitungen mit großen Buchstaben, den Namen des verletzten Mitarbeiters gibt Frisch bis heute nicht heraus. Bald wird alles vorbei sein.Dann herrscht wieder Ruhe.Diese Ruhe ist das eigentlich Beunruhigende. Die ermordete Frau ist Ägypterin, Muslima, die Berufungsverhandlung, in der sie als Zeugin geladen war, ging gegen einen rechtsradikalen Russlanddeutschen, der seit über fünf Jahren in Dresden lebt und die Frau, die ein Kopftuch trägt, auf einem Spielplatz beleidigt hatte.In einem Artikel in der Welt vom 10. Juli steht, dass die Dimension des Mordes „schnell klar gewesen sei“. Dieser Annahme steht eine andere mediale Wahrnehmung gegenüber: Die Berichte in den großen Zeitungen und die großen Berichte in den Regionalzeitungen datieren von Mitte Juli. Verdeutlicht wird die Dimension des Mordes durch die aufgeregten Reaktionen aus Ägypten (Freitag vom 16. Juli), aber das ist eine neue Dimension. Es geht nicht mehr um Gesten, Beileid, um die Empörung darüber, dass es in Deutschland möglich ist, in einem Gerichtssaal erstochen zu werden, um die Wut, die eine Gesellschaft haben müsste, wenn sie sieht, welchen Anfeindungen bis hin zur krassen Tat jene ausgesetzt sind, die anders aussehen als die Mehrheit.Die neue Dimension liegt eine Ebene höher: Es geht um Außenpolitik, um Instrumentalisierung, um Strategien. Man kann davon ausgehen, dass die deutsche Politik Angst hat vor dem Aufruhr in Ägypten, vor einer Welle des Hasses, wie sie nach den Mohammed-Karikaturen Dänemark traf, und man kann diese Angst zum Teil verstehen. Nur schaut sie zuerst auf die anderen und sieht von sich selbst ab. Die Gefühle, von denen man glaubt, dass es um sie gehen müsste, sind weit weg. „Es ging um Deeskalation“, gibt Sachsens Regierungssprecher Peter Zimmermann zur Antwort auf die Frage, warum Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) nicht die Trauerfeier für Marwa el-Sherbini in Dresden besuchte.Die Fotos von Marwa el-Sherbini zeigen eine schöne Frau, die Geschichten über sie erzählen von einer begabten, klugen Mutter eines Kindes, die schwanger war mit dem zweiten, von einer Handballspielerin, die es bis in die Nationalmannschaft geschafft hatte, von einer Tochter aus bester Familie, von einem Mann, der Spezialist ist auf seinem Gebiet. Man kann sich fragen, was einer bürgerlichen deutschen Gesellschaft fehlt, um die Getötete und ihren verletzten Mann als ihresgleichen zu begreifen.Teymuras Kurzchalia will darüber reden, was die Tat bei ihm bewirkt hat, aber er weiß nicht recht, wie. „Ohnmacht“ ist ein Wort, das immer wieder fällt. Ein Wort, hinter dem Erfahrungen, Wissen, Gefühle stecken, die skeptisch machen, aber für die es schwer ist, öffentlich Relevanz zu beanspruchen. Ein Wissen, das tief sitzt und nicht aufbegehrt gegen Dinge, die selbstverständlich sein sollten, es aber nicht sind. Kurzchalia, der lange in Deutschland lebt, in Berlin verheiratet ist, sagt Sätze, die ohne den Mord verhallen würden: „Ich glaube nicht, dass Dresden eine Weltstadt ist.“ „Es gibt hier Plätze, wo man als Ausländer nicht hingeht.“ Der Wissenschaftler sagt, dass er ratlos sei, dass er nicht wisse, was man machen solle. Diese leise Verzweiflung ist ein Hilferuf, eine Hoffnung darauf, dass die Erschütterungen, die der Mord über die extreme Tat hinaus bei Menschen wie Kurzchalia verursacht hat, auch in Dresden wahrgenommen werden. Dass keine Ruhe einkehrt, bei den Bürgern, bei der Politik.Die Ratlosigkeit hängt auch mit dem Ort zusammen, den sie erreicht hat. Das Max-Planck-Institut ist ein Utopia. Mit wem man auch spricht, der sagt „Insel“, „Glückseligkeit“ oder „Seifenblase“. Und dabei geht es nicht um die Arbeitsbedingungen, die hier paradiesisch sind, verglichen mit dem universitären Normalbetrieb. Es geht um das „Dresdener Modell“. So nennt sich das Forschungszentrum, um innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft seine Sonderstellung zu beschreiben. Es gibt flache Hierarchien, sechs Direktoren und 25 Leiter wie Kurzchalia, die eigenständig ihre Gruppen führen. Man will den Austausch, im großen Atrium, in Gesprächsecken auf allen Fluren. Jeden Freitagnachmittag ist „Bier Hour“, dann sitzt man ungezwungen beisammen, die Mitarbeiter bringen ihre Familien mit. Der Kindergarten ist in Laufnähe, der Anteil von Frauen beträgt 45 Prozent, Sitzungen finden um 16 Uhr statt, damit Zeit für die Familie bleibt. Das Institut hat das größte Doktorandenprogramm Deutschlands, die Mehrzahl ist nicht deutsch, Internationalität kommt hier aus 45 Ländern. „Wenn Sie mich eine Woche vor dem Mord gefragt hätten, ob unsere Mitarbeiter sich in Dresden wohlfühlen, hätte ich geantwortet: Es gibt keine Probleme“, sagt Pressesprecher Frisch. Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher.Im Institut spricht selbst die Verwaltung Englisch, es gibt Freizeitangebote, alles wird getan, um den Forschern, für die 70-Stunden-Wochen Normalität sind, das Leben zu erleichtern. Man kann hier leben und arbeiten, ohne in Dresden zu sein. Das Max-Planck-Institut ist nicht Dresden, es steht nur hier. Umgekehrt funktioniert der Trugschluss auch: Für die, denen die Außenwahrnehmung der Stadt nicht egal ist, muss das Institut wirken wie ein Traum von Weltoffenheit, dem das Marketing von Stadt und Land nachhängt.Wenn man die Leiter an Gedanken hinab gestiegen ist, die man sich hier über das Miteinander macht, steht man im Büro von Anja Glenk. Das International Office hilft den Mitarbeitern bei alltäglichen Fragen. Anja Glenk ist Dresdnerin, die sich über die Vogel-Strauß-Mentalität ihrer Stadt ärgert, über die „Verschnarchtheit“ im Rathaus. Die Oberbürgermeisterin hat ihren Urlaub nicht unterbrochen, um zur Trauerfeier zu kommen, weil es kurzfristig keine Flugverbindung gegeben habe, die ihr An- und Rückreise ermöglicht hätten, wie es offiziell hieß. Bei der Trauerfeier waren weniger als die offiziell vermeldeten 1.500 Menschen, sagen Teilnehmer.Irgendwo geht Verschnarchtheit in Gleichgültigkeit über, und die Grenze ist nicht leicht zu bestimmen. Anja Glenk kennt als Einheimische den Blick der Fremden: Sie macht, mit der prominenten Institution im Rücken, Erfahrungen in einer Realität, von der deutsche Deutsche wenig mitbekommen. Wenn sie um die Rückzahlung von Kautionen kämpfen muss und den Eindruck hat, die Vermieter würden darauf spekulieren, dass Ausländer ihre Rechte nicht kennen. Wenn sie auf der Ausländerbehörde ist, wo es zwei Etagen gibt, den zweiten Stock für die VIPs, wie es tatsächlich heißt, wo alles problemlos läuft, und den ersten, wo die Doktoranden häufig landen, weil sie noch als Studierende gelten. Dort spricht kaum einer Englisch, und Anja Glenk fragt sich dann, wie es für jemanden sein muss, der hier allein Formulare ausfüllt, der kein International Office hat, an dass er sich wenden kann. „Wir puffern einiges ab an Realität“, sagt die junge Frau nachdenklich über ihre Arbeit. Manchmal erfährt sie von Briefen, in denen sich Nachbarn wüst über ihre Mitmieter aufregen. Von den Erfahrungen, die sie machen, berichten die Mitarbeiter nicht immer. Auf die Frage: Fühlen Sie sich diskriminiert, werden die wenigsten mit Ja antworten. „Man bekommt immer die Antwort, nach der man fragt“.Wenn man Regierungssprecher Peter Zimmermann nach dem Rechtsextremismus in Sachsen fragt, heißt es, das habe man ganz gut im Griff, Ausländerfeindlichkeit sei mangels Masse, der Anteil beträgt zwei Prozent, kein großes Problem. Das Land habe ein Programm aufgelegt, „Weltoffenes Sachsen“, das bürgerschaftliche Initiativen gegen Extremismus fördert. Es gibt positive Beispiele, die Stadt Pirna etwa, der es gelungen sei, gegen Links- und Rechtsextremismus vorzugehen. Man möchte Zimmermann Recht geben, dass der Kampf für Toleranz eine zivilgesellschaftliche Aufgabe ist, die die Politik nur anschieben kann. Aber dann fragt man sich, welche Gefahr vom Linksextremismus in Pirna ausgehen mag und sieht, dass in einem scheinbar umfassenden Begriff wie „Extremismus“ kleinmütige Parteipolitik beginnt.Wenn man Grit Hanneforth vom Kulturbüro Sachsen fragt, die das geförderte Engagement begleitet, wie sie den Mord bewertet, dann sagt sie, dass er in dieser Form ein Einzelfall ist, die dahinter stehende Einstellung, die sich 2008 in 400 rechtsextremen Gewalttaten in Sachsen äußerte, aber nicht. Sie sagt, dass das Land Demokratieentwicklung nicht als Querschnittsaufgabe definiert habe, dass die Auseinandersetzung mit der Fremdenfeindlichkeit keine Chefsache sei und dass die öffentliche Anerkennung fehle für eine Arbeit, wie sie die Aktivisten machen. Am 13. Februar, dem Tag der Bombardierung Dresdens, findet mittlerweile die größte europäische Demonstration von Rechtsextremen statt. Peter Zimmermann verweist darauf, dass sie von überall her anreisen. Grit Hanneforth sagt, dass es im Moment undenkbar sei, dass die Oberbürgermeisterin hinter dem Transparent der Gegendemonstration mitmarschiere, „da würde sie neben der Linkspartei stehen.“Wer die Pressestelle der Bundespolizei fragt, ob es stimme, dass der hinzugerufene Polizist im Gerichtssaal auf den Mann der Ermordeten geschossen habe, weil er ihn ob der dunkleren Hautfarbe für den Täter hielt, erfährt, dass aufgrund des laufenden Verfahrens hierzu keine Auskunft gegeben werden kann.„Dresden versteht die Dimension dieses Verbrechens nicht“, steht über einem offenen Brief, den ein Professor an der Technischen Universität geschrieben hat und der allen aus dem Herzen spricht: dem Forscher, dem Regierungssprecher, der Aktivistin. Nur ob Dresden ihn versteht, bleibt ungewiss.