In Bayreuth ist die Oper per Public Viewing wieder öffentlich geworden. Das Massenpublikum findet das toll - und die Bayreuther Chi-Chi-Gesellschaft bangt um ihr Privileg
Der Typ im rosa Lacoste-Shirt hat sich bereits das zweite Glas Sekt vom Frühstücksbuffet genommen. Auf seinem Weg durch den Hotelgarten macht er am Tisch einer Festspiel-Bekannten halt – in unmittelbarer Nähe meines Platzes, an dem ich mir gerade ein Mohn-Brötchen mit Margarine und Nutella bestreiche. Aus unerfindlichem Grund können Leute wie der Pink-Polo-Panther nicht leise sprechen. Wahrscheinlich, weil sie der festen Auffassung sind, dass der Rest der Welt auf ihre Worte wartet.
Auf jeden Fall meinte mein Hotel-Genosse mitteilen zu müssen, dass er gestern freiwillig einen sozialen Abstieg vorgenommen hätte. Selbstverständlich nur auf Probe und lediglich, weil man sich ja mal eine Meinung bilden müsse – über das, was das gew
das gewöhnliche Volk so treibe. Schließlich hat er Karten für den gesamten Ring-Zyklus auf dem Grünen Hügel: Vier Opern, live im Festspielhaus. Auf die hat er auch nicht zehn Jahre gewartet wie echte Wagnerianer, sondern er hat die Tickets bekommen, weil er einen Job hat, in dem einem solche Karten eben zugesteckt werden. Seine Frau hat er auch mitgebracht. Aber die war an diesem Morgen noch nicht wach.Lauschen, essen, genießenMein Hotel-Mitbewohner hatte einen opernfreien Tag zwischen Walküre und Siegfried. Da hat er sich vergangenes Wochenende entschlossen, auf den Bayreuther Festplatz zu gehen. Dorthin, wo die Intendantin der Bayreuther Festspiele, Katharina Wagner, neuerdings „Wagner für alle“ anbietet: dieses Jahr eine Live-Übertragung von Tristan und Isolde. 30.000 Menschen waren gekommen. Viele, um Oper zu hören. Manche, um einfach nur ein bisschen zu lauschen und zu essen. Einige haben ihre Kinder mitgebracht, andere dicke Partituren. Nur der Mann im pinken Polohemd hatte einen anderen Grund. Er wollte sehen, wie es ist, wenn der Pöbel teil hat an der Leitmotivspeisung vom Festspielgral. Und: Es war fürchterlich!„Da wird das größte Leiden gezeigt, und die Leute fressen sich den Magen voll“, hat er uns anderen Hotelgästen erklärt. Und überhaupt: „Wagner vor 30.000 Menschen. Da muss man sich einlassen – da braucht man Ruhe.“ Aber letztlich zeigte der Mann Milde: „Na ja, wenn die das brauchen.“Statt aufzustehen, habe ich still in mein Nutella-Brötchen gebissen. Schließlich war ich befangen. Schon letztes Jahr habe ich das erste „Public Viewing“ moderiert, in den Pausen Interviews geführt, den Inhalt erklärt, am Ende die Sänger in Empfang genommen. Dieses Jahr bin ich zurückgekommen, weil es so eine öffentliche Oper nirgendwo anders gibt: Nicht in Salzburg, wo die Leute jeden Abend in den Straßen zufällig irgendwelche Opern schauen können, und nicht in München und Berlin, wo „Public Viewing“ zum Marketing-Trick geworden ist.Versinken und trinkenIn Bayreuth kommen die Menschen und gehen mit Wagner um, wie sie es für richtig halten. Wer auf den Stühlen vor der Leinwand sitzt, hört den Gastro-Betrieb am Rand des Festplatzes nicht, versinkt und ertrinkt im Liebesmotiv. Wer ein „Maisel’s“ braucht, um sich an Wagner zu berauschen, kann es im Liegestuhl schlürfen, und wer nur mal schauen will, wie die Stimmung ist, kommt und geht, wie er will. Die Festspielnacht in Bayreuth ist eine zutiefst individuelle Angelegenheit. Ohne Dünkel, ohne Regeln und vor allen Dingen: ohne pinke Poloshirts!Ich wäre gern aufgestanden und hätte im Hotelgarten eine flammende Rede gehalten. So wie Richard Wagner es in Bayreuther Kneipen auch getan hat. Ich hätte dem Mann davon erzählt, dass sein Lieblingskomponist für ein Bier schon mal Kopfstand auf der Theke gemacht hat, dass Wagners „Gesamtkunstwerk“ nicht allein das Miteinander von Klang, Wort und Bild, sondern auch von Kunst und Gesellschaft fordert, dass der Ring spätestens seit George Bernhard Shaws Deutung ein zutiefst radikales Opern-„Kapital“ ist, und dass es höchste Zeit ist, Bayreuth als Ort der nationalen Repräsentationskultur neu zu definieren. Und ich hätte ihm gern gesagt, dass modernes Sponsoring darin besteht, eine Festspielnacht und mich zu bezahlen statt ihm Freikarten für den Ring zu geben. Aber, wie gesagt, ich habe all das mit meinem Nutella-Brötchen heruntergeschluckt.Das Establishment auflösenBayreuth hat sich immer mit dem Land gewandelt egal wie rot, braun oder schwarz es gerade war. Die Vorstellung, dass jeder, der den Grünen Hügel besucht, einen Kotau vor dem System macht, ist absurd geworden. Die Festspiele haben sich stets geöffnet: den Regie-Enfant-Terribles Patrice Chereau, Heiner Müller, Christoph Schlingensief und nun eben Christoph Marthaler. Und damit auch einem immer neuen, ewig anderen Publikum. Mein Frühstück nach der Festspielnacht war eine Momentaufnahme unserer Nation. Das Establishment wird von der Masse des Pöbels aufgelöst. Und das Schönste daran ist: Es hat diesen Wandel noch gar nicht mitbekommen. Im neuen Bayreuth kommt es darauf an, wer wirklich Interesse daran hat, zu sehen, ob die Oper als erstes Multimedium auch heute noch Bestand hat.Schade, dass ich meinen Hotel-Mitbewohner am Abend vorher nicht gesehen hatte, als ich Katharina Wagner fragte, welche Oper im nächsten Sommer auf der Großbildleinwand gezeigt werde. Ihre Antwort: die Walküre. „Oh“, habe ich gesagt, „nach dem erotischen Tristan also noch einen hemmungslosen Liebesrausch.“ – „Ja“, hat Katharina Wagner geantwortet, „mit Inzest und allem…“Ob der Hotelmann überhaupt mitbekommen hat, worum es in den Opern geht? Um Menschen in Not? Um in Verträge verwickelte Herrscher? Um die Götterdämmerung der Lacoste-Hemden? Eines ist sicher: Um all das zu wissen, brauchen die Leute, die beim Public Viewing waren, keine Oper. Sie wissen es aus ihrem eigenen Leben. Und es tut gut, dass man das in Bayreuth inzwischen auf der Großbildleinwand sehen kann.