Von Tocotronic bis HGich.T geht einiges: Beim zweiten „Bootboohook“-Festival in Hannover proben Diskurs und Disko den schweißgetriebenen Schulterschluss
Ein junger Mann steht nur von Wasser und Seife berührt auf der Bühne und schreit manisch Sprechchöre in ein Mikro. „Ich, mein Vater und der Rohrstock, eins, zwo, drei“. Darunter erschallt ein Klangbett aus Goa-Beats. Die ödipal-problematische Beziehung zu den Eltern wird mit dem Flehen um Aufmerksamkeit in einen Imperativ der Fäkal-PO-esie verwandelt: „Mama, ich muss mal Bubu!“ Daneben wedelt ein Tänzer mit seinem Geschlechtsteil, zwei junge Damen malen Penis-Graffitis auf Leinwände und eine andere pustet im Skianzug Seifenblasen ins Publikum. Die Menge tobt. Und schreit in einem Chor der totalen Trash-Affirmation den Namen des bisher bekanntesten Werkes der Truppe: „Hauptschuhle, Hau
2;Hauptschuhle, Hauptschuhle, Hauptschuhle!“HGich.T aus Hamburg haben eine Botschaft: Botschaften sind blöd.Rückblende: Freitag, ca. 17 Uhr: Es gibt keinen Schlamm. Feiern heißt hier, nicht durch den Matsch waten zu müssen. Urbanität ist ein Merkmal des „BootBooHook“-Festivals. Zwar liegen rund um das Gelände Wiesen und ein Fluss, doch in fünf Laufminuten ist man an der U-Bahnhaltestelle in Hannover-Linden. Einem Stadtteil, der durch Straßencafés mit Frühstück bis Nachmittags um fünf geprägt ist. Auf dem Gelände laufen fröhliche junge Menschen herum, die in blauen Mülltonnen Pfandbecher sammeln. Christian und Sonia arbeiten für „Viva con Aqua“, eine Hilfsorganisation, die sich um sauberes Trinkwasser in Entwicklungsländern kümmert.Es ist die zweite Ausgabe des „BootBooHook“ und die Zahl der Besucher hat sich auf einige tausend erhöht. Und trotzdem hat sich der „We-are-family“-Spirit soweit erhalten, dass lebende Pete-Doherty-Imitate Mittfünfziger-Rocker in der Schlange vortreten lassen. Etwas, das vielleicht nur ein Festival mit drei Bühnen und kurzen Wegen schafft: Heroin-Chickis und Testosteron-Monster üben hier Verständigung.Freitag, ca. 22 Uhr, Blue Stage, open air„Pure Vernunft darf niemals siegen“, ein Zitat, dreimal gezählt auf T-Shirts im näheren Steh-Umkreis. Auf der Bühne stehen vier junge Männer, deren Haarschnitte und Hemden sich fast selbst ironisieren. So wenig ist von der einstigen Tocotronic-Optik übrig geblieben. Die Veranstalter haben insgesamt dreißig Bands eingeladen, mit den Headlinern ist man kein Risiko eingegangen. Mit Kettcar und Tocotronic spielen die Musterjungen der Hamburger Schule die beiden Hauptrollen, geistige Kinder und Enkel wie Tele, Fotos und Knut und die herbe Frau sind auch vertreten.Im Publikum gibt es optische Reminiszenzen an eine Zeit, in der viele der Anwesenden erwachsen geworden sind. Blässe im Gesicht, ein Blick, der von Ernsthaftigkeit und dem Verdruss jener Tage erzählt, als alles noch konsequent doof war und postpubertäre Rebellion eine Lebenshaltung. Die Herren auf der Bühne versuchen den Brückenschlag zwischen damals und heute. Tocotronic wollen zeigen, dass auch sie sich von Trainingsjacken- zu Hemdenträgern ohne gesellschaftsanalytische Einbußen entwickelt haben. Viele Songs aus den letzten Jahrzehnten werden mit Gitarren-verzerrter Romantik gespielt: „Sag 'Hallo' zu einem Fremden, der dem Zug entsteigt (…), die Idee ist gut, aber die Welt noch nicht bereit.“Slogans einer Generation, die noch an Kommunikationsguerilla mit verfremdeten Werbeslogans auf T-Shirts geglaubt hat. Der „Diskursrock“ ist zu großen Teilen zur Nostalgie geworden. Doch was ersetzt ihn? Gar nichts. HGich.T-Besucher treten selbstverständlich den Gang zu Tocotronic an. Bühnen-Hedonismus und Misanthropie in engem Schulterschluss.Samstag, ca. 16 Uhr, Festivalgelände, auf roten SitzbänkenDer Leadsänger von HGich.T ist seit gestern verschollen. „Die sind so“, sagt Gunther Buskies, Inhaber des Indie-Labels Tapete Records und Organisator des Festivals. Man müsse sich aber keine Sorgen machen. „Die nehmen das, was sie machen, total ernst.“ Gunther ist ein T-Shirt-Typ Mitte Dreißig von der zurückhaltend-jovialen Sorte. Mineralwasser und ein „Du-gehörst-dazu-Gefühl“ gibt's geschenkt.„Popmusik mit Ecken und Kanten“ möchte Gunther zeigen. Deswegen habe man Bands eingeladen, die etwas mitzuteilen haben. Das eine sie alle.Samstag, ca. 23 Uhr, Green Stage, unter einer Dusche aus MineralwasserDas erste Sexangebot des Festivals kommt von einem Mädchen mit dunklen Locken und schrägem Schlafzimmerblick. „I love you, do you wanna have sex with me?” Ekstase in Hannover. Eine Frau in Strapsen schüttet Wasser auf einen Pulk aus Menschen, die singen: „You know too much, too much, too much.“ Ein Bär, ein Wolf und eine Krähe in einer schwarzen Zwangsjacke taumeln über die Bühne. Bonaparte sind die Headliner des Festivals für die, die bei gefühlten 60 Grad eine Trash-Pop-Transen-Revue mit fliegendem Obst, viktorianischen Tänzerinnen und viel nackter Haut erleben wollen. Zum Schluss hin dürfen alle den Trikottausch der Meinungen vollziehen: Nass, glücklich und „geflasht“ sind Teenager und Hauptstadt-Hipsters gleichermaßen. Und warum auch nicht: das "BootBooHook“-Festival schafft etwas, das eine große Utopie der Menschheit darstellt: Grenzen aufzuheben. In dem Punkt sind sogar Tocotronic mal dafür und nicht dagegen: „Let there be rock, verflixt nochmal!“