Jetzt kann das Problem nicht länger geleugnet werden. France Télécom, das ehemals stolze und effiziente französische Staatsunternehmen, ist in Schwierigkeiten, in großen Schwierigkeiten. 22 Mitarbeiter des Unternehmens haben sich im Verlauf der vergangenen 20 Monate umgebracht. Alle hatten zuvor – teils auch in Abschiedsbriefen – über ihre belastenden Arbeitsbedingungen geklagt. Vergangene Woche versuchte ein weiterer Mitarbeiter sich das Leben zu nehmen. Einige haben diesen Akt der Verzweiflung sogar in ihrem eigenen Büro begangen.
Monatelang leugnete France Télécom, dass diese „Unfälle“ etwas mit der Arbeitsatmospähre des Unternehmens zu tun hätten. Nun ist man bereit, dem Problem ins Auge zu sehen. In der vergangenen Woche hat das Unternehmen zum ersten Mal zugestimmt, Gewerkschaftsvertreter zu treffen und Seminare über „Stress am Arbeitsplatz“ durchzuführen. Außerdem kündigte die Unternehmenführung an, neue Personalveränderungen zumindest bis zum 31. Oktober auszusetzen.
Die französische Tageszeitung Libération zitierte am vergangenen Freitag einen Mitarbeiter, der zusammen mit Kollegen vor dem Hauptgebäude in Paris demonstrieren wollte: „In meiner Abteilung sind wir 50 Leute und die Hälfte von uns nimmt Antidepressiva.“ Kern der Forderungen der Beschäftigten ist ein dauerhaftes Moratorium der erzwungenen Neuverteilung der Arbeitsbereiche und der „erzwungenen Mobilität“.
Seitdem das Unternehmen 1997 an die Börse ging und dann 2004 vom Staat mit 9 Milliarden Euro rekapitalisiert wurde, wurden Umstrukturierungsmaßnahmen im großen Stil durchgeführt – Mitarbeiter mussten von einem Tag auf den anderen eine andere Arbeit verrichten und an einen hunderte Kilometer entfernten Arbeitsplatz wechseln. Das ist sehr schwierig, wenn man Ende Vierzig ist und die vergangenen 20, 30 Jahre den gleichen Job innerhalb des Unternehmens gemacht hat. Nach Gewerkschaftsangaben gibt es Mitarbeiter, die seit 2004 schon zwanzig Mal einen neuen Arbeitsbereich zugewiesen bekommen haben. Seit 1997 hat das Unternehmen 60.000 Arbeitsplätze abgebaut und in einem heute 100.000 Mitarbeiter zählenden Unternehmen 70.000 Arbeitsplätze neu verteilt.
Wenn man sich die Klagen der Beschäftigten ansieht, kommen sie einem auf merkwürdige Art und Weise bekannt vor. Viele beklagen den Verlust der Personalverantwortlichen, von denen die meisten aus Kostengründen entlassen und durch anonyme Call-Center-Stimmen ersetzt wurden. Sie hatten die Mitarbeiter beraten und unterstützt. Wenn sie heute Schwierigkeiten haben, müssen die Mitarbeiter von France Telecom jedes Mal mit einer anderen Stimme sprechen, ihr ihre Situation innerhalb des Unternehmens schildern und ihre Beschwerde jedes Mal aufs Neue vortragen.
Den Kunden geht es ähnlich
Das hört sich haargenau nach dem an, was auch Kunden von France Télécom erleben, wenn sie eine Anfrage haben. Wer hat noch nicht dieses Gefühl verzweifelter Wut gespürt, als er versuchte, mit seiner Telefongesellschaft ein echtes Gespräch zu führen? Menschliche Roboter werden darauf abgerichtet, denselben Satz so oft zu wiederholen, bis der Anrufer am anderen Ende der Leitung in die Knie geht und vor Erschöpfung aufgibt.
Wie sollte man mit den Angestellten der France Télécom kein Mitleid haben, die über Mobbing, ein terroristisches Management und eine Zahlen-Besessenheit in ihrem Unternehmen klagen? Gerne schieben wir diese Dinge auf den American Way oder, noch allgemeiner, auf die Globalisierung. Aber stehen wir hier nicht alle in der Verantwortung? Europa ist doch nicht gezwungen, den gleichen Weg einzuschlagen. Als größter Binnenmarkt mit 495 Millionen Einwohnern und einem größeren Bruttoinlandsprodukt als die USA, wäre Europa durchaus in der Lage, den Trend umzukehren. Die Blindheit, die France Télécom in der Vergangenheit an den Tag gelegt hat und ihr nun nur schleppend erfolgender Prozess der Kenntnisnahme, ist charakteristisch für die Gesellschaft, in der wir leben. Es ist an der Zeit, dass wir aufwachen.