In Detroit sind manche Straßen menschenleer, zahlreiche Häuser werden für 100 Dollar verscherbelt. Für die einen ist es eine Katastrophe, für andere aber eine Chance
Manche würden wohl sagen, dass Jon Brumit sich abzocken ließ, weil er für ein komplettes Haus 100 Dollar (umgerechnet etwa 75 Euro) gezahlt hat. Wenn man heute in Detroit durch Viertel fährt, in denen sich einst die Autos stauten, welche die Stadt zum Stolz Amerikas machten, dann sieht man Häuser, die bereits ab einem Dollar zu haben sind. Sie stehen neben zugenagelten und ausgebrannten Gebäuden entlang ausgestorbener Straßen.
„Ich komme aus Chicago und habe von einem Freund erfahren, dass man in Detroit für weniger als 500 Dollar ein Haus bekommt“, sagt Brumit, ein Künstler, der sich niemals hätte träumen lassen, dass er mal Hausbesitzer werden würde. „Eine Woche später mailte mir mein Freund das Foto eines
Übersetzung der gekürzten Fassung: Christine Käppeler
oto eines Hauses, das 100 Dollar kosten sollte. Mir kam das vollkommen verrückt vor. Warum also nicht?“ Es sei eine gute Möglichkeit, die Lebenskosten niedrig zu halten und so mehr Zeit für künstlerische Projekte zu haben, da er nun nicht mehr für die Miete arbeiten müsse.In den USA erzählt man sich schon länger die urbane Legende von den Häusern, die im Zuge der Finanzkrise für einen Dollar verscherbelt werden. Doch hier in Detroit ist die Legende wahr geworden. In der Stadt, die das Zeitalter des Automobils einläutete, die Wiege der amerikanischen Mittelschicht war und die Welt mit Motown beglückte, steht jedes fünfte Haus leer.Detroit ist seit Jahrzehnten eine Stadt im Niedergang; die Bevölkerungszahl sinkt, im Moment liegt sie unter einer Million – die Hälfte des Höchststands in den Fünfzigern. Ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos. Die Immobilienpreise sind in den vergangenen drei Jahren in den meisten Vierteln um 80 Prozent oder mehr gefallen. Die Krise führte zu zahllosen Zwangsvollstreckungen. Diejenigen, die ihre Hypotheken nicht bedienen konnten oder deren Häuser so sehr im Wert gesunken waren, dass sie nur noch ein Bruchteil der Summe wert waren, mit der sie beliehen wurden, mussten die Immobilien ihren Gläubigern überlassen.Schneewehe auf dem SpeicherGenaugenommen bezahlte Jon Brumit 95 Dollar für das Grundstück und fünf Dollar für das Gebäude – Immobilienmakler nennen so etwas gern „eine Gelegenheit“. Sein neues Haus, erzählt Brumit, hatte im Dach ein großes Loch, Resultat von zwei Feuerwehreinsätzen. Die früheren Besitzer hatten versucht, das Haus in Brand zu setzen, um aus ihren Hypotheken herauszukommen. „Da war dieses sieben Meter lange Loch und fast alle Wasserleitungen und Stromkabel waren herausgerissen. Im Prinzip war das Haus eine angekokelte Hülle mit intakter Bausubstanz und einer Schneewehe auf dem Speicher.“Brandstiftung ist in Detroit kein ungewöhnliches Mittel, um Versicherungssummen zu kassieren und so Hypotheken loszuwerden. Häufiger kehren Besitzer den Häusern und Hypotheken aber einfach den Rücken und machen sich aus dem Staub.Auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Brumits Grundstück räumen Jim Feltner und seine Angestellten ein Haus aus, das von der Bank beschlagnahmt worden ist. „Früher war ich Bauunternehmer. Ich habe Immobilien gekauft und hergerichtet. Jetzt räume ich sie für Zwangsversteigerungen aus. Wir entrümpeln pro Tag ein bis zwei Gebäude“, erzählt er. „Ich lebe seit 40 Jahren in Detroit, ich habe miterlebt, wie der Wert für Häuser bei 100.000 Dollar stand, die heute maximal 20.000 Dollar wert sind.“Feltners Arbeiter schleppen Kleider, Schuhe und Möbel aus den Zimmern. Sie laden die Sachen im Vorgarten ab, bis ein Müllcontainer gebracht wird. Eine Kiste mit Motown-Platten aus den Siebzigern ist umgekippt, daneben liegt ein Teddybär. „Man könnte für dieses Haus fünf Riesen bekommen“, meint Feltner. „Ist ein hübsches Haus, wenn es ordentlich entrümpelt ist. Die Wasserleitungen und die Elektrizität sind in Ordnung. Das Dach ist dicht.“Anybody out there?Brumit erzählt, ein Mann namens Jesse habe dort gewohnt. „Jesse sagte, er würde abhauen. Er wusste, dass die Hypothek auf sein Haus weit höher war, als das, was er woanders für ein neues Haus bezahlen würde. Es ist schlimm. Man will nicht dabei zusehen, wie ehrbare Leute wie Kriminelle verschwinden müssen.“ Auch Brumits unmittelbares Nachbarhaus ist verwaist. In der nächsten Straße ist ein Drittel der Gebäude zugenagelt.Geschichten wie jene von Jesse bekommt man in der ganzen Stadt erzählt. Die Maklerin Joan Wilson hat gerade wieder ein Haus mit drei Schlafzimmern für einen Dollar im Angebot. Sie sagt, über die Hälfte der Häuser, die sie verkaufe, seien Zwangsversteigerungsobjekte. „Die meisten Kunden, die bei uns anrufen, sagen ohne Umschweife, dass sie Interesse an einem Haus haben, das zwangsversteigert wird. Ich bekomme Anrufe von Leuten aus England, die noch nie einen Fuß in diese Gegend gesetzt haben“, erzählt sie. „Diese Leute rufen mich an, weil sie online ein bestimmtes Haus entdeckt haben. Ich erkläre ihnen dann, dass sie sich die Nachbarschaft ansehen müssen. Womöglich ist es das einzige Haus im Radius von einer Meile, bei dem noch ein Stein auf dem anderen steht.“Einige in Detroit begreifen den Niedergang allerdings auch als Chance, um zumindest Teile der Stadt zu erneuern. Das Viertel Old Redford hat genug trostlose Tage gesehen. Die Polizeiwache, das Gymnasium und das Gemeindezentrum sind geschlossen. Doch eine Bürgerinitiative kümmert sich nun darum, dass marode Häuser abgerissen werden. An deren Stelle legen sie Gemeindegärten an und pflanzen Gemüse, von dem jeder nehmen darf.Gesund schrumpfenDer Kopf der Gruppe, die sich „Blight Busters“ nennt, ist John George. „Es gibt hier Häuser, die stehen seit acht, neun Jahren in schlechtem Zustand herum. Wir gehen da ohne Genehmigung rein und reißen sie ab“, sagt er. „Wenn ein Besitzer sein Eigentum so in meiner Nachbarschaft verrotten lässt, dann ist es ihm offensichtlich egal oder er ist nicht in der Lage, Verantwortung dafür zu übernehmen. Also kümmern wir uns darum.“Die Blight Busters haben bereits über 200 Häuser abgerissen. „Wir müssen diese Gemeinde zurechtstutzen, indem wir Wohnblocks entfernen und Bauernhöfe mit großen Gärten und Windmühlen anlegen“, sagt George. „Wir wollen Detroit gesundschrumpfen.“