Nachtigallen zählen zu den besten Sängern unter den Vögeln. Wie in der Natur üblich, machen sie auch das nicht zum Spaß: In regelrechten Wettkämpfen geht es ums Revier
Der erste Auftritt wirkte noch etwas improvisiert. Leiser waren manche Töne, während er andere geradezu herauszuschreien schien. Und auch die Übergänge zwischen den Strophen nach den Pausen klangen noch etwas schräg. Manchmal versägte er aber auch die Harmonien in den Strophen ins schrill Kratzende. Der Nachtigallenhahn schmetterte in diesem Jahr bereits in der Nacht zum 23. April seine Lieder in den Victoriapark im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Das war wieder etwas früher als noch im vergangenen Jahr.
Seit fünf Jahren singt in den Bäumen, die an die Methfesselstraße grenzen, regelmäßig ein Nachtigallenhahn seine Lieder in die Nacht – in den Vorjahren kam er immer in der ersten Maiwoche. Ob es derselbe ist, wissen wir zwar ni
ir zwar nicht genau, aber wahrscheinlich ist es. Nachtigallen können über Jahre immer wieder an denselben Standort zurückkehren und von einem Hahn im Treptower Park, den Wissenschaftler der Freien Universität Berlin mit einem Ring gekennzeichnet haben, weiß man genau, dass er seit fünf Jahren, wenn er aus Afrika zurückkehrt, denselben Ort als Revier wählt.Das spricht für eine enorme Navigationsleistung, wenn man die Strecke zwischen Berlin und dem südlichen Afrika, in dem Nachtigallen ihre Winterquartiere suchen, bedenkt. Und es spricht nicht zuletzt für Geschicklichkeit und Glück. Denn Feinde haben die kleinen, zart wirkenden, grau-braunen Vögel zur Genüge. Zu ihnen zählen nicht nur andere Tiere, die sie fressen wollen, sondern auch Menschenjäger, die mit Leimruten an der Küste Nordafrikas von Marokko bis Tunesien jeden Vogel schlachten, der an den Stangen hängen bleibt.Dass unser Hahn nach dieser Reise in der ersten Nacht noch nicht zum gewohnten Meistersänger geworden war, ist also mehr als verständlich. Dazu kommt, dass sich das gewohnte Revier des vergangenen Frühjahrs für den Rückkehrer verändert hat: Seit ein paar Wochen nistet hier erstmals ein Habichtpaar und die haben unter den Amseln bereits Angst und Schrecken verbreitet, die den Nachtigallen in der Gesangskunst kaum nachstehen. Mehrmals konnte man sich hier bereits jenes Diktum Hegels vergegenwärtigen, nachdem jedes Tier im Tod seine eigene Stimme hat. Habichte verzehren ihre Beute nämlich häufig bei noch lebendigem Leib und der Schrei dieser Amseln im Park war die eigene Stimme im Tod.HahnenkonkurrenzEs gab in diesem Frühjahr allerdings auch wieder Vertrautes für unseren Nachtigallenhahn. Nur ein paar hundert Meter weiter begann fünf Tage nach dem alten Bekannten wieder ein anderer Nachtigallenhahn zu singen, der auch schon im vergangenen Jahr hier war. Das lässt einerseits Raum für Spekulationen und zum zweiten bietet sich dadurch die Möglichkeit, die beiden Hähne nachts in ihrem nachbarschaftlichen Konkurrenz-Dialog zu verfolgen.Aber zuerst die Spekulation: In Berlin aufgewachsene Nachtigallen landen, wenn sie nach ihrem ersten im Süden Afrikas verbrachten Winter zurückkehren, bevorzugt in der Nähe ihrer eigenen Geburtsorte. Häufig aber sind die besten Reviere dann schon von älteren Vögeln besetzt, die etwas eher als die jüngeren in Berlin ankommen. Dadurch sind die Jüngeren oft gezwungen zu Pionieren zu werden, neue Lebensräume zu erkunden und auszuprobieren. Der zweite Hahn im Park könnte also der Sohn des ersten sein, der direkt neben seinem Vater sein Revier sozusagen neu bildet. Und schlecht scheint es dort nicht zu sein, denn sonst wäre er ja nicht zurückgekommen. Seit ein paar Tagen beschallen sie denn auch beide nachts den Park und das ohne sich unhöflich ins Wort zu fallenAber der Reihe nach. Nachtigallenhähne legen nämlich einige charakteristische Verhaltensweisen an den Tag, die bei allen ähnlich verlaufen. Während unser Hahn tagsüber auf verschiedenen, oft für Menschen gut einsehbaren Ästen der oberen Baumschichten sitzt, singt und so sein Territorium markiert, hält er sich nachts an immer derselben Stelle auf. Auch seine Gesangsstrophen sind zu diesem Zeitpunkt anders strukturiert. Der nächtliche Gesang enthält eher langgezogene und wenig frequenzmodulierte Pfeifsilben. Solche Lautformen haben den Vorteil, dass sie weit tragen und schlecht zu orten sind. Damit versucht er Weibchen anzulocken.Den nachts durch die Stadt ziehenden Weibchen dienen die nächtlichen Lautformen als Wegweiser zu den Männchen.Sobald die Weibchen eingetroffen sind, treten die Hähne in Konkurrenz zueinander, und die Bedeutung des Signals ändert sich. Die Weibchen beginnen, die Hähne am Gesang zu unterscheiden und treffen ihre individuelle Wahl. Jene Töne, mit denen die Sänger vorher gemeinsam auf sich aufmerksam gemacht haben, werden jetzt im Wettstreit um die zukünftige Partnerin gegeneinander eingesetzt.Man kann diese Konkurrenz unter den Hähnen auch simulieren. Wenn man einem Nachtigallsänger eine lange gleichtönende Sequenz ins Lied pfeift, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Vortrag unterbrechen. Und nicht selten nach einer Pause mit einer exakten Kopie dieses Pfiffes antworten. Er hat genau zugehört und den Urheber erkannt, sagt er damit.Höfliche AntwortVon den verschiedenen Verhaltensweisen, mit denen Nachtigallen aufeinander reagieren können, ist das mustergleiche Antworten eine der beeindruckendsten. Vor allem dann, wenn sie sich nicht gegenseitig ins Wort fallen, sondern genau in die Pausen des anderen singen – was man überall in der Stadt zwischen den benachbart singenden Hähnen verfolgen kann. Allein in Berlin brüten jedes Jahr etwa 1.500 Paare, vorzugsweise in größeren Parkanlagen wie dem Victoriapark oder dem Treptower Park, und an einigen Stellen entlang des Landwehrkanals.In einem Konzert von bis zu 14 Nachtigallenhähnen – wie bei vielen Singvögeln singen bei Nachtigallen nur die Hähne – können sich die Vögel gegenseitig hören und steigern sich geradezu in einen konzertanten Rausch hinein. Mit einem Repertoire von mehr als 200 verschiedenen Strophen in den Gesängen vieler Hähne sind Nachtigallen hierzulande die variantenreichsten Sänger. Wobei eine Strophe in etwa einem Satz der menschlichen Sprache entspricht.Viele der Strophentypen beginnen mit einem ähnlichen Element und unterscheiden sich dann im mittleren und hinteren Strophenteil. Auch das kann man mit menschlichen Sätzen vergleichen. Nur werden Strophen nicht aus Worten gebildet, sondern aus Elementen, Motiven, Silben und Phrasen. Wer genau zuhört, wird besonders nach Einbruch der Dunkelheit, wenn andere Arten verstummt sind, den Sängern bei einem regelrechten Dialog folgen können. Einige Hähne singen abwechselnd aufeinander eingestimmt. Hat ein Sänger seine Strophe beendet, setzt der andere genau danach höflich mit seiner „Antwortstrophe“ an. Der erste folgt wiederum danach im selben Rhythmus. So einem Dialog über längere Zeit zuzuhören, kann eines der größten Vergnügen im Frühling sein.Allerdings geht es dabei nicht immer so harmonisch zu. Manchmal lassen Hähne den Nachbarn nicht aussingen, sondern fallen ihm sozusagen in die Strophe. Mit dem Ergebnis, das der Gestörte seine Strophe abbricht und nochmal neu ansetzen muss. Das bedeutet, dass er seinen Nachbarn noch nicht akzeptiert hat und im Unterschied zum ersterwähnten höflichen Hahn den Kampf fortführt.Nicht alle Nachtigallen sind jedoch für solche Sing-Wettkämpfe zu haben. Einige Individuen zeigen keinerlei Interaktion und schmettern nur ihre Lieder vor sich hin. Mit Starrsinn hat das allerdings nichts zu tun. Henrike Hultsch vom Institut für Verhaltensbiologie an der FU Berlin, deren Verdienst es ist, Berlin in der Wissenschaftswelt zur „Stadt der Nachtigallen“ gemacht zu haben, hat in jahrzehntelangen Experimenten die Hintergründe für dieses Gebaren erhellt. Es sind meist ältere, erfahrene Nachtigallen, die so scheinbar ungerührt vor sich hinsingen. Spielt man ihnen aber Gesänge fremder Nachtigallen – etwa aus Südfrankreich vor – werden sie schnell wieder dialogbereit. Nachdem sie zunächst hörend geschwiegen haben, singen sie nach kurzer Zeit wieder und imitieren dann die eben gehörten französischen Melodien. Es ist der „fremde“, unbekannte Tonfall im arteigenen Gesang, der sie aufhorchen lässt.Regelrechte DialekteDer Gesang enthält über die jeweilige Individualität und Virtuosität des Sängers hinaus noch weitere Hinweise, die ihn für andere Artgenossen individuell erkennbar werden lassen. Nachtigallen erlernen den überwiegenden Teil ihres späteren Repertoires als Nestlinge durch die ihnen zu Ohren kommenden Gesänge der Erwachsenen, des Vaters vor allem, aber in der Regel auch der benachbarten Vögel. Aus diesen Vorbildern kreieren die Jungen später ihre eigenen Lieder, die neben der individuellen Ausformung immer auch so etwas wie die akustische Marke ihrer Herkunftsgegend, einen regelrechten Dialekt, in sich tragen. Daraus erklärt sich die Gelassenheit vieler älterer, etablierter Nachtigallen.Die Töne sind ihnen vertraut – nicht selten sogar von ihnen vorgegeben – und die überlegene Erfahrung, ermöglicht es ihnen, die jüngeren Herausforderer aus derselben Gegend sozusagen nicht ernst zu nehmen. Die Älteren kennen die Gegend besser und haben dadurch Vorteile bei der Nahrungssuche. Sie sind womöglich die besseren Versorger ihrer Weibchen und deren Nachkommen.Die Eleganz und Höflichkeit, mit der die beiden Sänger im Victoriapark nachts ihre Lieder aufeinander abstimmen, ohne sich ins Wort zu fallen, wäre also ein weiteres Indiz für die Eingangsthese, dass es sich hier um Vater und Sohn handelt. Der Alte erkannte den Kleinen sozusagen am Gesang und nahm die Konkurrenz gelassen.Gelassener als die Amseln können die Nachtigallen offenbar auch mit den Habichten leben. Denn die Sänger sind nicht scheu, sondern gut getarnt und agieren heimlich. Der abgehackt wirkende Bewegungsablauf erschwert ihre Verfolgung. Kaum hat man sie wahrgenommen, springen sie in einen Strauch, laufen oder fliegen mit einem Satz oder Flügelschlag in eine nicht vorhersehbare Richtung. Im nächsten Moment können sie schon wieder gut sichtbar zwischen den Blättern einer Buche auftauchen, wippen und mit den Flügeln zucken.Ihre Vorsicht und ihre herausragenden Tarnmechanismen ermöglichen es Nachtigallen in städtischen Lebensräumen, umstellt von vermeintlichen Fressfeinden wie Krähen, Hunden, Ratten, Elstern, Waschbären, Katzen oder Habichten ihre Bestandszahlen stetig zu erhöhen.