Toni Schumacher war einer der besten Torhüter der Welt. Und ist bis heute der einzige, der über die dunklen Seiten des Keeper-Daseins spricht: Drogen, Druck, Einsamkeit
Der Freitag: Herr Schumacher, Sie waren der Erste, der freimütig bekannte, gedopt zu haben. Warum sind Sie damit an die Öffentlichkeit gegangen?
Toni Schumacher
: Es gab bei uns Amateurspieler, die auf dem Spielfeld tot umfielen, dann hieß es: Herzversagen. Aber da war mehr. Ich dachte, das darf nicht wahr sein! Was geht hier vor sich? Das war meine Motivation, das Buch zu schreiben.
Wie ist es, Fußball zu spielen auf Ephedrin?
Du bist sehr aufgeputscht. Kannst nach den Spielen nicht schlafen. Du hast das Gefühl, ewig weiterrennen zu können.
Wie lief das mit dem Doping, hat einer gesagt: ‚Komm, wir nehmen das jetzt?‘ Oder hat der Mannschaftsarzt Doping verordnet?
Nein, nein, es waren alles Selbstversuche. Wir wussten, das Zeugs steckt im Hustensaft. Also
das mit dem Doping, hat einer gesagt: ‚Komm, wir nehmen das jetzt?‘ Oder hat der Mannschaftsarzt Doping verordnet?Nein, nein, es waren alles Selbstversuche. Wir wussten, das Zeugs steckt im Hustensaft. Also haben wir vor dem Spiel Hustensaft getrunken. Auf der Packung stand: dreimal täglich zwanzig Tropfen. Wir haben zwei, drei große Schlucke genommen.Wurde in der Halbzeit nachgeladen?Nein, man schwitzt ja unheimlich von dem Zeug.Nützt Doping im Fußball überhaupt?Das ist nicht die richtige Frage.Wie lautet die richtige Frage?Wenn du was nimmst, egal was, und du machst zwei Tore, was passiert dann in deinem Kopf vor dem nächsten Spiel? Du nimmst es wieder, weil du denkst, es hilft.Weil Sie unter anderem das Thema Doping unverblümt in Ihrem Buch Anpfiff ansprachen, endete Ihre Karriere. Bereuen Sie, dass Sie ehrlich waren?Nein, ich konnte nicht anders. Es gab auch nie eine einstweilige Verfügung gegen das Buch, die Betroffenen wussten, dass ich die Wahrheit sage, und für die Wahrheit kann man nicht bestraft werden. Mir egal, dass sie mich damals dafür gefeuert haben. Lieber einen Knick in der Lauf-bahn als einen Knick im Rückgrat.Was wird heute geschluckt?Nichts. Die Kontrollen wurden nach meinem Buch eingeführt. Sie sind zu eng und zu streng, da rutscht keiner durch.Moment, der Holländer Edgar Davids wurde des Dopings überführt. Jaap Stam. Maradona. Adrian Mutu trifft nur, wenn er gekokst hat. Fußballer verstecken fremdes Urin in ihrer Hose, kann man lesen.Kann sein.Warum so leise? Sind Sie altersmilde?Quatsch. Ich glaube einfach nicht, dass heute noch so gedopt wird wie bei uns früher.Korrekt, dass junge, unerfahrene Fußballer ohne ihr Wissen gedopt werden? Das behauptet jedenfalls Arsenal-Trainer Arsène Wenger.Hören Sie, jedes alte Mütterchen, das im Krankenhaus operiert wird, wird mit Primobolan gesund gespritzt, das ist ein muskelaufbauendes Präparat. Was ist denn so schlecht an muskelaufbauenden Präparaten unter medizinischer Kontrolle? Ein verletzter Spieler ist ein wertloser Spieler. Klar wird alles getan, jeden schnellstmöglich wieder fit zu spritzen.Sie haben mit gebrochenem Finger gespielt. Auch Ihre Kreuzbänder waren gerissen. Nehmen wir Michael Ballack. Mal ehrlich, könnte der nicht spielen? Wenn er ein wenig auf die Zähne beißt?Nun, vielleicht... nein, ich denke nicht. Bei mir war das was anderes. Ich musste ja nur rumstehen.Viele Spieler können nur spielen, weil sie fitgespritzt wurden. Ist die Einnahme von Schmerzmitteln auch Doping?Das ist die große Frage. Im Prinzip: ja.Wie normal war der Schmerzmittelkonsum zu Ihrer Zeit?Wir wurden ständig gespritzt, dazu haben wir haufenweise Tabletten geschluckt in Eigenregie. So viel, dass ich heute das Gefühl habe, dass die nicht mehr bei mir wirken. Wenn ich heute Schmerzen habe, muss ich auf härtere Dinge umsteigen.Spätfolgen?Wenn ich mal sterbe, könnt Ihr auf meinem Grab keine Blumen pflanzen, denn die wachsen nicht.Sie hatten einige der erfolgreichsten Trainer der Welt. Rinus Michels, Franz Beckenbauer, Ottmar Hitzfeld. Was ist die sympathischste Eigenschaft von Franz Beckenbauer?Dass du dich auf ihn verlassen kannst.Wer war der beste Trainer?Hitzfeld. Er ist eine Persönlichkeit. Er hat eine gute Ansprache. Ruhig, sachlich, schreit nie rum, und dennoch hängen die Spieler an seinen Lippen.Wie war Rinus Michels – der große holländische Systemtrainer – im Vergleich zu Hitzfeld?Louis van Gaal erinnert mich an ihn. Ein Disziplinfanatiker. Er war knallhart: Ich hatte damals schon Knieprobleme, und als ich ihm vor einem Waldlauf sagte: ‚Trainer, ich schaff das nicht!‘, antwortete er: ‚Wenn du dich beschweren willst, geh auf die Geschäftsstelle.‘ Sein Prinzip war: Ich behandle alle gleich. Da war Hitzfeld diplomatischer, der hat gespürt, dass er die Spieler unterschiedlich ansprechen muss.Trainer wie Van Gaal oder Mourinho behandeln ihre Spieler wie kleine Kinder. Braucht man als Spieler eine harte Hand?Das brauchen alle Kinder.Da würden Ihnen die 68er widersprechen.Das war ein Versuch, und der ist gründlich in die Hose gegangen. Es geht nur mit Disziplin. Wie willst du die Jungs heute sonst zähmen? Die verdienen alle ihre Millionen, die brauchen Vorgaben, Regeln.Wie bringt man verwöhnten Jungmillionären Regeln bei?Geldstrafen sind die einzige Sprache, die Fußballer verstehen. Wenn man 300.000 Euro bezahlen muss, weil man zu spät zum Training kommt, wird es sich auch ein Ribéry überlegen.Sie kommen aus armen Verhältnissen, habe achtzehn Jahre mit Ihrer Schwester in einem Zimmer gewohnt, Fleisch gab es nur einmal die Woche. Was haben Sie von Ihrer Mutter über Fußball gelernt?Aufzustehen, nicht auf meinem Hintern sitzen zu bleiben, wenn ich ein Tor kassiert habe. Sie sagte: Das sieht erbärmlich aus. Ein Torhüter muss stehen. Immer. Voller Selbstvertrauen.Erzählen Sie uns ein wenig über den Alltag im Tor: Was denkt ein Torhüter, wenn er den Ball nicht hat?Ich war immer auf Ballhöhe. Ich war der Tiger, und der Ball war die Beute: Ich hab mir immer gesagt: Du darfst den Ball neunzig Minuten lang nicht aus den Augen lassen. Ich hab geschrien: Geht vorn! Rechts! Hinten! Niemand hat mich gehört, aber es hielt mich wach.Auch bei 5:0 dachten Sie nie: Heute hat meine Frau Geburtstag und ich hab noch kein Geschenk?Na gut, bei 5:0 vielleicht. Aber wenn ich die Konzentration verlor, habe ich das Publikum mit Gesten provoziert.Warum?Damit sie pfeifen, damit sie schreien: ‚Scheiß Schumacher!‘ Ich hab diesen Hass in positive Energie und Konzentration umgewandelt. Ich hab das gebraucht.Hatten Sie eine Lieblingsparade?Ich mochte jeden Ball, den ich gehalten habe. Der größte Kitzel war die 1-gegen-1-Situation: Jemand läuft allein aufs Tor zu. Das ist wie ein Duell. Ein geiler Kick.Das Abrollen, Springen, Hechten der Torhüter. Wie viel ist Show?Die erste Rolle ist keine Show, die machst du, um dich nicht zu verletzen. Alles, was danach kommt, ist fürs Publikum. Noch Fragen?Ja, wie hält man einen Elfmeter?Ich habe Statistik geführt, wusste über alle Schützen, in welche Ecke sie am häufigsten schießen, aber das Entscheidende geschieht im Moment. Ich warte, bis der Schütze den Ball hinlegt und mit dem Kopf hochschaut. In diesem Bruchteil einer Sekunde verraten sich die meisten: Sie blicken in die Ecke, in die sie schießen werden. Ich mach dann die Ecke bewusst noch größer, indem ich mit dem Oberkörper ganz leicht in die andere Ecke kippe. Das klappt nicht immer, logisch, aber oft genug.Heute leiten Sie eine Sportmarketingfirma und geben auf einer türkischen Ferienanlage Beach-Soccer-Kurse für Kinder. Es ist ein langer Weg vom WM-Endspiel zum Ferien-Animateur. Die Kinder von heute kennen Sie nicht mehr.Nein, aber ihre Eltern. Sie sagen ihren Kindern: ‚Das ist Toni Schumacher, der Oliver Kahn von früher.‘Sie waren einmal der beste Torhüter der Welt.Danke.Was war Ihre größte Schwäche?Hm… ich hatte wenige Schwächen, deshalb war ich ja einer der Besten. Ich habe mit viel Risiko gespielt, war praktisch Libero. Manchmal ging das schief, oft ging es gut.Sie waren berühmt für Ihre grandiose Strafraumbeherrschung. Dann kam das wichtigste Spiel Ihrer Karriere, 1986, WM-Finale in Mexiko-City: 23. Minute, eine Rechtsflanke, und Sie segelten am Ball vorbei, 0:1. Sie machten einen Fehler, ausgerechnet in Ihrer Spezialdisziplin: dem Abfangen von hohen Bällen. Haben Sie noch Albträume?Der Fehler ist passiert, weil in Mexiko die Luft dünner ist.Das klingt jetzt nach Ausrede. Nicht nach Schumacher.Es ist aber so. Warum ist Bob Beamon 8 Meter 90 weit gesprungen 1968 in Mexico City? Alles fliegt da weiter und schneller, fragen sie die Wissenschaftler. Aber gut, als der Ball kam, dachte ich mir: ‚Jetzt holst du dir deine Beute, egal, was kommt. Den Ball kriegst du.‘ Ich bin rausgestürmt, weil ich zwanzig Minuten keinen Ball berührt hatte. Ich wollte den Ball. Ich wollte ihn unbedingt. Ich war gierig. Nach dem ersten Schritt wusste ich: Den krieg ich nicht...Der englische Torhüter Rob Green hat gleich in seinem ersten WM-Spiel einen katastrophalen Fehler gemacht. Wie geht man damit um?Abhaken. Nicht drüber nachdenken.Wie war das für Sie, nach dem Finale in Mexico-City?Grausam. Unsicherheit im Tor, Angst vor Flanken. Depressionen.In Ihrem Buch schreiben Sie ‚Nur der Tod scheint Depressionen zu verjagen‘.Ob Robert Enke sich das auch gedacht hat, bevor er sich vor den Zug schmiss? Ist es das, was Sie wissen wollen? Ich habe da oft drüber nachgedacht.Kannten Sie Enke?Ja, was der alles erlebt hat, unfassbar. Er hat seine Tochter verloren. Wenn man sein Kind zu Grabe trägt, da tickt man schon aus. Das war vielleicht der Auslöser, oder er war schon immer depressiv veranlagt, ich weiß es nicht. Dazu kamen der Stress und der Druck jeden Samstag in der Bundesliga. Da sitzen Tonnen auf den Schultern.Speziell auf denen der Torhüter.Klar. Wir machen die Drecksarbeit. Wann braucht es denn einen Torwart? Wann? Wenn es brennt. Wenn einer einen Fehler gemacht hat. Doch für mich gibt’s nichts Schöneres als Dreck-Wegmachen.Dabei sind die Stürmer die Stars. Wieso will man Torhüter werden?Du hast ein anderes Trikot an. Du fällst auf, du bist der Held, der König des Abends. Manchmal auch der Verlierer. Der Schuldige. Der Einsame.Was sprach gegen Selbstmord?Alles. Ich habe Familie, Verantwortung meinen Kindern gegenüber. Aber ich weiß nicht, wie es ist, wenn man so schwer krank ist, wie Enke es war.