An der "Langen Tafel" in Kreuzberg sollten die Menschen zusammen Spaghetti essen und sich so näher kommen. Die einzelnen Grüppchen blieben aber lieber unter sich
Mitten auf der Straße ist der Tisch eingedeckt. Dort, wo sonst die Autos die Bergmannstraße entlang rollen, sind unzählige Biertische zusammengeschoben. An jedem Platz der zweihundert Meter langen Tafel liegen liebevoll drapiert ein Apfel und ein Getränkepäckchen auf Stoffservietten. Im Schatten der Altbau-Häuser haben sich die ersten Besucher zum Spaghettiessen eingefunden. Die „Lange Tafel“ findet einmal im Jahr in Kreuzberg statt. Sie will Bügerfest, Kunstpojekt und Integrationsförderung in einem sein.
Auf den ersten Blick scheint sich die Essgesellschaft dabei eher homogen aus deutschem Bionade-Bürgertum zusammenzusetzen. Erwartungsfroh platzieren die Gäste das selbstmitgebrachte Geschirr auf den Tischen. In kleinen Gruppen s
Gruppen sitzen Schüler der umliegenden Schulen zusammen. Ab und zu tippen sie SMS in ihre Handys, ansonsten sehen sie eher gelangweilt aus. Der Integration und Kommunikation soll die „Lange Tafel“ dienen. Aber muss man dazu wirklich zusammen Spaghetti essen?Kreuzberg war jahrelang Sinnbild deutscher Multikultigesellschaft. Lange vor Rütli-Schule und Sarrazins „Kopftuchmädchen“ musste das Viertel als Symbol herhalten, im guten wie im schlechten Sinn. Inzwischen ist auch hier gentrifiziert und aufgewertet worden, für die negativen Schlagzeilen sind jetzt vor allem Neukölln und der Wedding zuständig. Aber Integration hört ja nicht einfach irgendwann auf.Über den Tag hinaus?Mit ihrem Lange-Tafel-Projekt will die Initiatorin Isabella Mamatis dafür sorgen, dass das Miteinander im Viertel nicht zum gleichgültigen Nebeneinander wird. Die Tafel soll Treffpunkt sein zum Kennenlernen und Austauschen. Mamatis hofft, Kontakte anzustoßen, die über den Tag hinaus Bestand haben. In diesem Jahr liege der Schwerpunkt des Projekts auf „Migrationsgeschichte“, sagt Mamatis. Sie hat selbst griechische Wurzeln. Mit einer kurzen Rede eröffnet sie das Essen. Es folgt die „ritualisierte Geste“, wie sie im Faltblatt zur Veranstaltung beschrieben wird: Überreichung der Chronikbände an den Kreuzberger Bürgermeister Frank Schulz, Pressefoto, Abgang.Dann kommen die Italiener. Eine Gruppe, die 1.500 Kilometer aus Italien auf ihren Fahrrädern nach Berlin geradelt ist, um an diesem Straßenfest teilzunehmen. Braungebrannt und sehnig sehen sie aus und finden, dass die Werte, die hier repräsentiert werden, sehr gut auch zu Italien passen. Von gemeinsamen und unterschiedlichen Werten könnte Frau Mamatis viel erzählen, vor sechs Jahren hat sie das Projekt in Kreuzberg ins Leben gerufen. Aber Frau Mamatis hat keine Zeit zu plaudern. Erst muss sie sich noch kurz mit Bürgermeister Schulz austauschen. Dann kommt einer der Helfer, der sie leicht verschämt von der Seite anspricht, ob er seine 50 Euro schon jetzt haben könne, er müsse früher weg. Frau Mamatis kümmert sich auch darum und verschwindet mit ihm entlang der langen Tafel.Die ist mittlerweile ganz gut gefüllt, nur der hinterste Teil in der Sonne bleibt leer, dafür ist es dann doch zu heiß an diesem Berliner Nachmittag. Die Sponsoren müssen noch kurz aufgezählt werden, eine Supermarktkette, der Cateringservice, Spaghetti von der guten Sorte. Danach begleitet ein Chor die Essensausgabe. Die Italiener sitzen gut gelaunt in ihrer Gruppe zusammen und freuen sich über die Arien einer älteren Dame.„Einfach toll, wie sich hier Leute am Tisch begegnen, die sich sonst nie treffen,“ findet ein Herr mittleren Alters, der mit Frau und Kind an der Tafel Platz nimmt. Sie seien zum ersten Mal hier, obwohl sie direkt um die Ecke wohnten. Ein klasse Projekt sei das, ergänzt die Frau. Dann essen die drei ihre Spaghetti von feinen antiken Porzellantellern schweigend vor sich hin, sie verlassen die Gemeinschaft schnell wieder, aber nicht bevor sie ihre Nudel-Reste auf die leer gegessenen Pappteller der gegenübersitzenden Schüler gekratzt haben. Soviel Interaktion muss dann doch sein.„Ich hoffe nur, dass meine Mama nicht kommt, bevor ich hier abhauen kann“, grummelt ein Jugendlicher unter seiner Baseballcap hervor. Diesen Generationenkonflikt wird auch eine noch so lange Tafel kaum lösen können. Als die Mutter doch unpässlich früh auftaucht, rückt der Teenager immerhin gnädig ein Stück zur Seite, um Platz zu machen. Voll uncool, Mama!Eine Schnur mit GeschichtenRichtig interessant ist vor allem die lange Schnur neben der Tafel. Die hat zwar nichts mit dem Essen zu tun, aber dort hängen die Ergebnisse des Schulprojekts, bei dem die Aufgabe der Schüler lautete, die Migrationsgeschichte der eigenen Familie zu recherchieren und aufzuschreiben. Von kleinstädtischen Abenteurern im großen Berlin kann man da lesen, von libanesischen Bürgerkriegsflüchtlingen und romantischen Liebesgeschichten der Eltern aus der Türkei. Jeder hat in seiner eigenen Geschichte ein Stück Migration gefunden – und das ist vielleicht die wichtigere Botschaft als ein gemeinsames Essen.Von Integrationsproblemen ist im übrigen nichts zu merken bei den Schülern. Sie flachsen, knutschen miteinander, ärgern sich gegenseitig – über alle unterschiedlichen Herkünfte hinweg. Sich der eigenen Migrationsgeschichte bewusst zu werden, scheint trotzdem ein wichtiges Erlebnis gewesen zu sein. „Ich hatte mich vorher noch nie damit beschäftig, wo meine Familie herkommt“, erzählt ein Junge.Mamatis ging es darum, auch ihm eine Stimme zu geben: „Über Migration wird viel geschrieben, die Migranten selbst schreiben selten etwas auf.“ Aus diesem Grund wurde auch die Webseite Denkmal für Integration eingerichtet, auf der sich in einem fortlaufenden Archiv unzählige Geschichten nachlesen lassen. Auch jene der Kreuzberger Schüler. Die verspüren nach dem Essen allerdings wenig Lust auf weitere Interaktion. Sie verschwinden schnell. Es sind schließlich fast schon Sommerferien – und „gleich spielt Deutschland“.