Die Menschen im Berliner Wedding staunen nicht schlecht, als der riesige Fahrradtross klingelnd und rufend in einer Kolonne an ihnen vorbei fährt und sie dabei auch noch mit Kunst bewirft. Eher skeptisch betrachten die meisten Leute, die am Straßenrand stehen, die Papierrollen, die ihnen von freiwilligen Fahradkurieren vor die Füße geschleudert werden. Sie trauen sich, nach mehrfachem Umschauen dann doch, sie aufzuheben und hinein zu gucken. Was sie entdecken, ist eine überraschende bunte Mischung an Kunstwerken. Der Gedanke, der hinter der Papergirl-Idee steckt: Die Kunst soll zurück auf die Straße und in die Hände der Passanten gelangen. Und zwar unkuratiert und als Geschenk.
Die Tour startet am sp
our startet am späten Sonntagnachmittag in Berlin-Mitte, wo die Hipsters sich in Liegestühlen, neben sich einen Latte Machiato, sonnen. Manche blicken erstaunt über die Ränder der Sonnenbrillen, manche kennen das Projekt bereits, aber mit Kunst kann man hier kaum jemanden wirklich überraschen. Anders im Wedding, dort haben sich bei der fünften und letzten Ausgabe von Papergirl einige Fans am Straßenrand versammelt, sie strecken die Arme in die Luft, um eine der begehrten Rollen zu fangen.Nur nicht verkaufenWer bestimmt, was Kunst ist? Diese Frage habe sie zu ihrem Projekt inspiriert, sagt Aisha Ronniger, die Papergirl erfunden hat und gerade ihr Diplom an der Kunsthochschule Weißensee vorbereitet. „Es soll keine Vorauswahl stattfinden, bei Papergirl darf jeder Künstler einreichen, was er möchte, in jeglichen Größen, nur müssen sie sich rollen lassen. Aber die Kunstwerke dürfen nicht verkauft werden“, erklärt sie bestimmt. Sie verstehe Kunst nicht als Ware, sondern als Geschenk an die Menschen. Die Kritik, dass die guten Sachen ohne Vorauswahl in der Masse verschwinden, verwirft sie. Auf der Straße würde man auch ungefilterter Kunst begegnen, sagt sie. Die Paper-Rollen, in denen je fünf bis zehn Kunstwerke stecken, sollen von Menschen gefangen werden, die sonst kaum mit Kunst in Berührung kommen, eine Parallele zur Philosophie der Streetart, die Kunst ebenfalls zum Gemeingut erklärt.„In Neukölln war es heftig, da haben uns die Kinder fast überfallen, um an die Rollen zu kommen,“ erinnert sich Ronniger. Diesmal sollten die Bewohner des Wedding, der hinter dem Mauerpark beginnt, beschenkt werden, ein Viertel, von dem es seit Jahren heißt, es werde der nächste hippe Stadtteil. Noch ist davon wenig zu spüren. Die Polizei war von Papergirl dagegen weniger fasziniert, die angebotene Rolle mit Kunstwerken lehnten die beiden Beamten am Straßenrand schlichtweg ab. Immerhin bemängelten sie nicht die Verkehrssicherheit der „Tall Bikes“, Fahrräder, die aus mehreren übereinandergeschraubten Rahmen bestehen und auf denen die Fahrer von hoch oben ihre Rollen unters Volk bringen. Ein echter Hingucker, den sich die Teilnehmer in einem Workshop selbst zusammenbasteln konnten. Die (nicht kuratierte) Ausstellung zum Projekt findet diesmal in der renommierten Neurotitan Galerie statt, auch ein Zeichen dafür, wie groß Papergirl inzwischen geworden ist. Sechshundert Besucher drängten sich zur Vernissage in den beiden Räumen um die Kunstwerke, einfache Buntstiftzeichnungen unbekannter Einsender bis zu Werken weltbekannter Streetart- Künstler wie Swoon oder Dave the Chimp.Auf mehrfache Nachfrage, ob man die ausgestellten Stücke auch kaufen könne, erntete man nur Kopfschütteln. Da die Route bis zum letzten Moment geheim gehalten wurde, konnten sich die Kunstkenner auch kein Stück erschleichen. „Wer von den Leuten, die das Projekt kennen, zufällig an der Straße steht und eine Rolle bekommt, der hat eben Glück gehabt.“ sagt Aisha Ronniger. Ihre Idee hat sich mittlerweile verselbstständigt, in mehreren Ländern haben junge Frauen das Konzept übernommen und eigene Papergirl-Veranstaltungen organisiert.„Was wollt ihr von mir?“ Auch in Manchester, Bukarest und Albany soll noch in diesem Sommer Kunst verteilt werden, nach dem Berliner Vorbild. „Als wir anfingen, war es noch viel kleiner, das war nicht abzusehen, dass es mal so anwachsen würde,“ erzählt Ronniger. Die neuen Papergirls sah sie anfangs skeptisch, sie war sich unsicher, ob die Prinzipien beibehalten würden. „Was, wenn jemand anfängt, zu kuratieren oder die Kunst zu verkaufen?“ Sie habe sich letztlich aber darauf verlassen, dass sie alle die gleichen Ideale teilen. Bisher scheint das aufzugehen. In Berlin ist jetzt trotzdem Schluss. „Dieses letzte Mal war einfach das schönste“, meint die Erfinderin, die unter anderem EU-Fördergelder für die Aktion bekommen hat. Größer könne sie nicht mehr werden, sagt sie, es sei also Zeit, zu gehen.Eine der Papergirl- Frauen bedauert, dass man nie erfährt, wie es mit den Kunstwerken weitergeht: „Das wäre doch schön zu wissen, ob sie weiterverschenkt werden, jahrelang in der Küche hängen oder direkt im Müll landen.“ Das tun die wenigsten: Nur zwei von den 560 verteilten Rollen werden ungeöffnet in den orangenen Behältern versenkt - und auch direkt wieder heraus gefischt von den Nachzüglern der Gruppe. „Wenn die wüssten, wie sehr wir uns die Finger danach lecken, eine der Rollen zu behalten,“ grollt Fredrike den Kunstbanausen. Denn, so groß die Versuchung auch sein mag, die Verteiler dürfen die übrigen Rollen nicht mit nach Hause nehmen.Es scheint, als seien sie hier alle vereint in ihrer Begeisterung über die Aktion, Schenker und Beschenkte. Oder nicht? Ein alter Mann weicht empört vor der Rolle zurück und herrscht den Werfer an: „Was wollt ihr von mir?“ Am Ende der Tour bleibt die große Frage: „Wem gebe ich die letzte Rolle?“ Man schleudert sie einmal noch in hohem Bogen zu einem unbedarften Menschen, der noch gar nicht ahnt, dass da plötzlich Kunst in sein Leben flattert.