Claudia Kotter würde ohne eine transplantierte Lunge heute nicht mehr leben. Mit ihrem Verein „Junge Helden“ will sie aufklären – ohne zum Spenden zu drängen. Geht das?
Eigentlich müsste Claudia Kotter gerade glücklich sein. Es ist ein Vormittag Ende August, Deutschland spricht über Organspenden. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier lässt sich in der Berliner Charité eine Niere entfernen, um sie seiner Frau zu spenden. Der Politiker wird als Held gefeiert, Tausende laden sich Spendeausweise aus dem Internet herunter.
Auch Claudia Kotter lag in einer Klinik der Charité. Sie wartete vier Jahre auf eine neue Lunge, eine seltene Krankheit hatte ihre eigene kollabieren lassen. Als endlich ein Organ gefunden war, war es unbrauchbar. Aus Verzweiflung fing Kotter an, sich mit Scherben zu schneiden, flüchtete immer wieder aus der Klinik. Als das Warten zu quälend wurde, gründete sie den Verein „Junge Helden
Helden“ – um eine Aufgabe zu haben und um über Organspenden aufzuklären. Sie gewann Schauspieler, Musiker und Moderatoren für ihre Sache, trat im Fernsehen auf. Dann bekam sie tatsächlich eine neue Lunge, mit ihrer Arbeit machte sie danach einfach weiter. Nun spricht das ganze Land über Organspenden. Doch richtig freuen kann sie sich darüber nicht.„Ich habe großen Respekt davor, dass Herr Steinmeier das macht“, sagt Kotter. Sie ist, drei Jahre nach der OP, noch immer eine zerbrechliche Person, hat Arme und Beine wie Streichhölzer. „Er macht das aber, weil er weiß, dass seine Frau auf der Spendeliste sonst ewig warten würde.“ 12.000 Menschen benötigen in Deutschland ein Spenderorgan, allein 8.000 eine Niere. 2009 spendeten bundesweit 1.217 Menschen nach dem Tod ihre Organe. Lebend spenden dürfen nur Verwandte und Freunde, unter hohem bürokratischen Aufwand, um Organhandel zu verhindern. Hätte Steinmeier seiner Frau nicht seine Niere gegeben, hätte sie wohl fünf Jahre warten müssen. „Und wenn ihm das klar ist, und er weit oben in der Politik sitzt, warum versucht er dann nicht, etwas an der Situation zu ändern?“, fragt Kotter.Sie will kein Beispiel seinEigentlich will sie aber über ihr autobiographisches Buch sprechen, Gute Nacht, bis Morgen. Zusammen mit der Autorin Anke Gebert hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. In diesen Tagen wird Kotter 30 Jahre alt, sie sitzt in einem Café unweit der Charité und sagt: „Ich bin nicht die Figur, die herumläuft und ein lebendes Beispiel dafür sein will, wie supertoll Organspende funktioniert.“ Und doch ist sie es – und auch wieder nicht.„Ich war sieben Jahre alt, als meinen Eltern prophezeit wurde, dass ich keine achtzehn werden würde“, schreibt sie. Kotter leidet an Sklerodermie, was so viel wie „harte Haut“ bedeutet. Ihr Körper produziert zu viel von dem Protein Kollagen. Dadurch verhärtet sich nicht nur ihre Haut, sondern auch das Bindegewebe ihrer Organe, was Herz, Nieren oder die Lunge angreifen kann. Man sieht ihr die Krankheit an: Die Haut spannt sich wächsern über das Gesicht.Trotzdem hatte sie eine relativ normale Jugend: Sie fuhr Ski und Skateboard, ging nach dem Abitur zum Studium in die USA. An den Tod dachte sie so wenig wie andere Jugendliche. Doch als sie auf einer Studentenparty Blut hustete und ihre Lunge den Heimflug fast nicht überstand, fing sie an, „die Dinge anders zu sehen: Leben und Tod passieren.“ Sie hatte keine Wahl mehr, sie musste sich mit 21 Jahren mit dem eigenen Ende auseinandersetzen.Viele andere haben die Wahl, über den Tod nachzudenken – und sie verdrängen die Frage. Laut Umfragen befürworten 70 Prozent der Menschen Organspende, einen entsprechenden Ausweis haben aber nur 17 Prozent. Es ist eine Sache, etwas generell gutzuheißen – und eine andere, sich dafür mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Irrationale Ängste spielen hinein, etwa: Werden die Ärzte noch alles tun, um mich zu retten? Die Frage „Organspendeausweis oder nicht“ setzt voraus, sich heute schon zu entscheiden, wie man dem eigenen Ableben gegenüber tritt. Wer das nicht tut, wälzt die Entscheidung im Ernstfall auf die Angehörigen ab. Sie müssen dann entscheiden, ob Organe entnommen werden. Erweiterte Zustimmungslösung nennt sich das. In anderen europäischen Ländern wie Spanien oder Österreich gilt jeder als Organspender, der nicht zu Lebzeiten widerspricht. Der Nationale Ethikrat empfahl 2007 eine solche Regelung, die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sprach sich dagegen aus. Es blieb bei der alten Regelung.„Wenn man so ein Gesetz verabschiedet, dann hat man auch die Pflicht, die Bevölkerung vor der Entscheidung aufzuklären“, kritisiert Kotter. „Man kann nicht den zweiten vor dem ersten Schritt regeln.“ Doch die Bundesregierung informiere kaum über die Regelung. „Wo begegnet einem denn das Thema Organspende im Leben, wo werde ich darüber ordentlich aufgeklärt? Bis ich 21 war, bin ich nie damit konfrontiert worden.“ Auch deshalb hat sie den Verein „Junge Helden“ gegründet.„Wir wollten das Thema positiv aufladen, lebensbejahend. Es geht nicht darum, jemanden zur Organspende zu überreden“, schreibt Kotter. Ihr ist wichtig, dass sie niemanden belehren wolle. „Mit meiner Geschichte führe ich mich nicht als Wissende oder Beratende auf. Ich bin eine von vielen, die ihre Sichtweise erzählt und vielleicht dazu beiträgt, eine schwierige Entscheidung zu treffen.“ Durch Zufall lernte sie den Schauspieler Jürgen Vogel kennen, gewann ihn für ihren Verein. Weitere Prominente kamen hinzu. Kotter ging zu Johannes B. Kerner, ins Musik- und Frühstücksfernsehen. „Junge Helden“ plakatierte Slogans wie „Nimm das Schicksal in die Hand“ und „Entscheidend ist nur die Entscheidung“.Auffallen um jeden PreisGleichzeitig startete das Deutsche Herzzentrum eine Initiative namens „Pro Organspende“: Auf den Plakaten schaute Till Schweiger dem Betrachter ins Gesicht, darüber der Spruch: „Du bekommst alles von mir. Ich auch von dir?“ Der Slogan löste Proteste aus, wegen des Vorwurfs, den er impliziert. „Ich finde es nicht richtig, wenn ein Transplantationszentrum eine so aggressive Pro-Organspende-Kampagne durchführt“, sagt Kotter. „Das sind natürlich alles Mediziner, die wollen Leben retten – aber ich halte nichts davon, jemandem zu sagen: Du musst! Warum muss man? Niemand kann doch etwas dafür, dass jemand anderes erkrankt.“ Sie hustet. Kotter ist leicht erkältet, was mit der Spenderlunge nicht unproblematisch ist. Tabletten hat sie in der Handtasche immer dabei. Die Medikamente halten ihr Immunsystem davon ab, das fremde Organ abzustoßen.Doch wie kann jemand wie sie, bei der ein einziges Husten ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte in Erinnerung ruft, mit ihrem Verein aufklären, ohne Nichtspendern Vorwürfe zu machen – und wie kann sie informieren, ohne zu moralisieren? „Nur weil ich mit einer neuen Lunge lebe, muss nicht gleich jeder Organspender werden“, sagt sie. „Natürlich, wenn es für mich keine Lunge gegeben hätte, dann hätte ich nicht überleben können. Aber das wäre niemandes Schuld gewesen.“ Der Ansatz der „Jungen Helden“ ist softer: Sie plädieren dafür, dass sich jeder frei entscheiden soll, auch dagegen. Doch wie eng auch hier die Grenze zwischen Information und Beeinflussung ist, zeigt die aktuelle Plakatkampagne: Junge Berliner Prominente und Nichtprominente haben sich mit ihren Ausweisen in Fotokabinen ablichten lassen, unter dem Motto: „Wir haben uns entschieden – Besorge auch du dir einen Organspendeausweis.“ Viel Interpretationsspielraum lässt die Botschaft nicht.Die Berührungsängste nehmenEin paar Tage später, ein Samstagabend. Kotters Verlag Blumenbar gibt eine Party zur Veröffentlichung ihres Buches. Schauspieler lesen aus dem Werk. Jürgen Vogel und einige Promis stehen mit Kotter im Blitzlichtgewitter der Fotografen. „Wir wollen das Thema Organspende aus dem Muff der Apotheken und Gesundheitsämter rausholen“, sagt Vogel. Neben Veranstaltungen in Schulen und Unis sind „Junge Helden“ vor allem das: Prominente, Fernsehauftritte, Partys. Ob hier bei der Buchpräsentation, bei Wer wird Millionär? oder in der Münchner Promi-Disko P1. „Wir wollen vom bedeutungsschweren Thematisieren wegkommen“, sagt Vogel. Organspende hat nicht allzu viel mit Popkultur zu tun. Im Gegenteil, das Thema ist unattraktiv: Krankenhaus, Operationen, Blut, Eingeweide, Tod. Man wolle jüngeren Menschen die Berührungsängste nehmen, sagt Vogel. Das Thema lasse sich in den Medien eben nur über Prominenz transportieren.Oder über bewegende Schicksale. Kotter sagt: „Es sollte zu denken geben, dass erst über den Mangel an Organen geredet wird, wenn Politiker anfangen, ihren Frauen Organe zu spenden.“ Die Öffentlichkeit liebt Schicksalsreporte, besonders, wenn bekannte Personen involviert sind. Auch Kotter profitiert von diesem Mechanismus. „Dafür, was ich bei anderen Menschen auslöse, kann ich nichts“, sagt sie zwar. Doch ohne ihre Geschichte würde ihr Verein nicht dieselbe öffentliche Wahrnehmung bekommen. Sie wäre nicht in Fernsehshows eingeladen worden, hätte wohl kein Buch veröffentlicht. Ihre Geschichte mag kein Beispiel dafür sein, wie supertoll Organspende funktioniert. Sie zeigt einfach, wie sie funktioniert – und wie noch nicht.