Eigentlich ist es Uli Hufen gewohnt, Fragen zu stellen. Zurzeit wird er aber vor allem um Antworten gebeten, meistens auf Russisch. Die Journalisten aus Moskau oder Petersburg, die ihn befragen, sind fasziniert davon, dass ausgerechnet ein deutscher Kollege das erste Buch über blatnye pesni geschrieben hat – über jene russischen Gangsterlieder, die auf eine große Tradition zurückblicken können und zu Sowjetzeiten nur im Untergrund gesungen wurden. Hufen erzählt anhand dieser Lieder eine kleine Kulturgeschichte russischer Gegenkultur.
Russlands Bob Dylan
Wie ist es dazu gekommen? Zum Blatnjak-Forscher wurde Uli Hufen an dem Tag, an dem er das erste Mal die Stimme von Arkadij Sewerny hörte, dem russischen Bob Dylan. Der Schock und die Begeisterung, die
k und die Begeisterung, die dessen Gesang in ihm auslösten, spüre er bis heute. Es war ein Moment wie der, als ich zum ersten Mal bewusst Soul hörte", erzählt er beim Gespräch in einer Berliner Kneipe. Hufen spricht schnell und klar artikuliert, man erkennt den gelernten Radioreporter.Im Januar 1998 recherchiert er für eine Reportage über das junge Moskau. „Hippe Klubs und Bands wollte ich aufspüren, mich ins Nachtleben des Zehn-Millionen-Molochs stürzen, neue Platten kaufen." In einer Buchhandlung findet er die Zeitschrift Radek, deren Herausgeber Oleg Kirejew und Anatolij Osmolowskij wider den auf Verwestlichung ausgerichteten Zeitgeist polemisieren. Hufen will diese Männer kennen lernen. In einer tristen Plattenbauwohnung besucht er die beiden „linksradikalen Rabauken", die gegen den Mainstream ankämpfen. Wie alle seine Gesprächspartner bei der Recherche fragt er sie, welche russischen Bands sie mögen.Gauner und ihre Abenteuer„Auf der Kassette, die Kirejew an diesem Tag für mich einlegte, war kein russischer Reggae, kein russischer Techno, kein russischer Ska und kein russischer Punk", erzählt Uli Hufen. „Sondern darauf sang Arkadij Sewerny Blat-Lieder." Blat bezeichnet im Russischen den Jargon der Diebe, vergleichbar dem deutschen Rotwelsch. Die Blat-Lieder handeln von Gaunern und ihren Abenteuern, von der Zeit im Gefängnis und im Lager, von Vergänglichkeit, von der Sehnsucht nach Freiheit und Heimat.Der Verbrecher ist in den Kulturen des Ostens nicht das abgespaltene Böse wie im westlichen Rationalismus, sondern derjenige, der stellvertretend für die anderen das Böse ausübt. Ein damit auch für alle anderen an seinen Taten Leidender.Viele Blat-Lieder haben keine direkte Verbindung zum kriminellen Milieu, doch wegen ihrer anarchistischen Grundhaltung werden sie dem Genre zugeordnet. Als Geburtsstadt der blatnye pesni gilt Odessa, noch im 18. Jahrhundert ein Piratennest. Eine Stadt, in der es sich, wie Isaak Babel es formulierte, „leicht und hell leben" ließ. Odessa war so russisch wie New York amerikanisch, ein Gewimmel vieler Völker. Ein Drittel der Bewohner war 1840 Italiener, ein weiteres Drittel gab als Muttersprache Jiddisch an. Die Italiener brachten ihre Opern mit, selbst die Droschkenkutscher sangen italienische Arien. Große Orchester spielten in Bierhallen, ukrainische, russische und jüdische Folklore vermischten sich, die Schmuggler sangen die Gaunerlieder in mehreren Sprachen. Aus diesem Gemisch entstand die Blat-Kultur.In der Sowjetunion wusste dann jeder, was mit Odessaer oder südlichen Liedern gemeint war, erzählt Uli Hufen. Odessaer Lieder waren frech und wahr, rotzig und obszön. Man pfiff auf die Macht und lebte nach eigenen Regeln. Je gesetzloser die Regierung selbst handelte, desto populärer wurden die Lieder der Kriminellen, der „Unpolitischen". Die beliebtesten Jazzorchester des Landes spielten Gaunerchansons, in denen die Einsamkeit, die Freiheitsliebe, der Rausch und der Kampf gegen die Polizei gefeiert wurden.Ein letzter Auftritt vor StalinMitte der 30er Jahre endete diese halb-liberale Epoche. Die Gaunerlieder durften auf öffentlichen Bühnen nicht mehr gespielt werden, obwohl das Verbot nie offiziell ausgesprochen wurde. Uli Hufen erzählt in seinem Buch Das Regime und die Dandys, wie Stalin persönlich gestattete, auf einem Empfang von Polarfliegern die Lieder im Kreml ein letztes Mal singen zu lassen. Leonid Utjosow, der damals berühmteste Entertainer des Landes, sang das Lied „Aus einem Odessaer Knast“. Nachdem Stalin die Hände erhoben hatte, begannen alle Gäste zu klatschen. „Die Piloten sprangen in ihren Springerstiefeln auf die Tische und fingen an zu stampfen", zitiert Hufen aus den Erinnerungen Utjosows. Dreimal musste Utjosow das Lied noch singen, das auf Heines „Zwei Grenadiere" zurückgeht.Während die Sowjetunion in westliche Geschichtsbücher oft als trostloses Land uniformer Menschen eingegangen ist, schildert Uli Hufen ein fantastisches Musik- und Konzertleben, in dem die Grenzen zur Halb- und Unterwelt fließend waren. Aufgewachsen in Weimar reiste Hufen nach dem Mauerfall während der letzten Tage der Sowjetunion durch das riesige Land. Auf diesem Trip und auf späteren Reisen durch Sibirien bekam er eine Vorstellung von der Weite des Landes, das stets zu groß und widersprüchlich war, um es einer totalen Kontrolle zu unterwerfen. Im Roten Reich gab es immer einen Schwarzen Markt und unendlich viele graue Zonen.Auch die verbotene Musik fand andere Verbreitungsformen: So kamen nach dem Zweiten Weltkrieg findige Produzenten in konspirativen Tonstudios auf die Idee, Röntgenbilder aus Krankenhäusern einzusammeln. In Ermangelung von Vinyl schnitten sie die Röntgenbilder kreisrund und pressten daraus Schallplatten. Die „Musik auf Rippen" oder auch „Knochenmusik" war geboren. Später erleichterten Tonbänder den privat organisierten Vertrieb der Blat-Lieder.Cineast und BomberpilotDann erfindet der Produzent Rudolf Fuks den Chansonnier Arkadij Sewerny, „der Nördliche“, dessen richtigen Namen nur wenige Eingeweihte kannten. Sewerny sang am liebsten „Lagerlieder, Selbstmordlieder, Sauflieder aller Art und nicht zuletzt auch Lieder, die die Monarchie, das zaristische Russland und den Widerstand des Weißen Russlands gegen die Roten Bolschewiki glorifizierten“, erzählt Hufen von seinen Blatnjak-Recherchen, bei denen er Zeitzeugen in Odessa, Sankt Petersburg und Moskau befragte.Sewerny stieg zum Star der sowjetischen Subkultur auf, er verdiente in den siebziger Jahren pro Konzert das Vierfache eines durchschnittlichen Monatsgehalts. In den Plattenaufnahmen stilisierte er sich zur Legende und erzählte, „er sei gerade von einer Tour im Westen zurückgekehrt, er habe in Paris Der Pate gesehen, er habe mit einem Orchester aus der BRD gespielt, in Vietnam als Bomberpilot gedient“. So entstand die Kunstfigur eines freien Mannes, die all die Sehnsüchte der Zuhörer in sich aufnehmen konnte, die durch die zahlreichen Verbote erst geweckt wurden.Wegen Geschäftemacherei, nicht wegen der Musik wurden Blat-Produzenten und Blat-Musiker in der Sowjetunion aber öfter zu Gefängnisstrafen verurteilt. Produzent Fuks sagte über seine Zeit im Lager lapidar: „Echte Leute mit Charakter kann das Gefängnis nicht brechen. Ich habe im Gefängnis gelernt, Gitarre zu spielen. Ich hatte gute Lehrer, ich hatte viel Zeit, und ich lernte sehr viele Lieder. Ich bin nicht sauer. Die haben nur ihre Arbeit getan. Wir haben zwar nichts direkt Politisches gemacht, aber es lief natürlich gegen sie. Wir haben die Gegenkultur geschaffen!"Hufen kennt die Milieus, über die er schreibt, ziemlich gut. Er hat für den WDR Radio-Reportagen über das Phantom „Russische Mafia“ und über die Eroberung Sibiriens und Alaskas durch russische Abenteurer, insbesondere Kosaken geschrieben. Als Junge habe er sich sehr für Columbus, Marco Polo und Magellan interessiert. „Daher später dann auch die Sibiriensendung: Ich wollte diese Ungerechtigkeit ausbügeln, dass fast niemand etwas von den Abenteurern weiß, die Sibirien und Alaska erobert haben. Selbst das nördliche Kalifornien gehörte schließlich kurzzeitig zu Russland."Dissidenten, die lachenWie ist das mit dem Reiz des Verbotenen in seinem eigenen Leben? „Ich bin ein unbescholtener Bürger, der viel zu viel Angst hätte, etwas Kriminelles zu tun", sagt Hufen. „Aber mich interessiert seit langem, wie das in der Kunst funktioniert: Wie macht man kritische, dissidente Kunst? Und was sind überhaupt Dissidenten? Vielleicht Menschen wie Arkadij Sewerny, die sich gar nicht auf politische Diskussionen einlassen, die einfach lachen. Oder singen. Die nicht mitmachen. Weder in der sowjetischen Gewerkschaft noch als willige Lieferanten von Regimekritik für westliche Korrespondenten."Wer die ehemaligen GUS-Länder heute jenseits der Touristenpfade bereist, kann auf Märkten und in Straßencafés immer noch Blat-Sänger treffen. Die Gauner im Kapitalismus machen auch nicht viel anderes als ihre Vorgänger. „Groß und ruhmreich ist das Volk, dessen Missetäter solche Lieder hervorbringen", schrieb Andrej Sinjawskij, ein Autor, der selbst wegen antisowjetischer Propaganda einst sechs Jahre im Lager saß. „Aber wie verwirrt und elend muss dieses Volk andererseits sein, wenn es niemand anderes als seine Räuber und Diebe sind, die dieses gemeinsame Lied am besten und umfassendsten erschaffen?"Manche Kulturen schaffen steinerne Götzen, um sich ihr Gedächtnis zu bewahren, andere errichten Kirchen oder speichern Erinnerungen auf Datenträger. In der Sowjetunion erfüllte ein lebendiges Medium die Aufgabe der Selbstvergewisserung, der Gesang. Das Rad der Freiheit stand auch in jenen Jahren nicht still, die aus westlicher Sicht als bleiern und starr galten. Arkadij Sewerny sah in den Straßen der Hauptstadt damals nichts als Untote, die aber – ganz verboten – nach Dope duften, wie in seinem genialen Haschisch-Lied „Anascha“ zu hören ist.Viele der Gaunerchansons von einst kann man heute digitalisiert im Netz finden. Uli Hufen betreibt eine Webseite, auf der neben Sewerny-Clips auch absurde Momente des sowjetischen Fernsehens zu sehen sind. Etwa wie Leonid Utjosow, der russische Frank Sinatra, 1966 seinen 70. Geburtstag feierte. Ein Freund legt die verbotenen Lieder auf. Nach wenigen Takten wissen alle Anwesenden, hier beginnt der Tanz auf dem Vulkan, man sieht es den Gesichtern an. Wie so vieles, was Uli Hufen ausgegraben hat, ist auch diese Szene eine Erinnerung an eine Zeit, in der Musik noch richtig gefährlich sein konnte.Das Regime und die Dandys Uli HufenRogner Bernhard, Berlin, 328 S., 19,90 €