Die Unterhaltung mit einem Toten ist eine eigenartige Erfahrung. Das fing schon damit an, wie er sich dem Gesprächsraum näherte: auf einer leicht abschüssigen unsichtbaren Straße, um ihn eigentlich gar nicht zu betreten, sondern kurz davor im Schwebezustand zu verharren, ganz wie die Sixtinische Madonna auf dem Gemälde von Raffael. Hat mir nun sein Erscheinen die Erinnerung an die Madonna nahegelegt oder war es umgekehrt? Er stimmt jedenfalls in seiner Stummheit mit ihr überein (der bärbeißige Großvater!), aber auch darin, dass er sich trotzdem äußern kann, indem er Mienen macht oder gestikuliert. Nur dass ich wieder nicht weiß, bin ich es nun, der seine stummen Gesten interpretiert, oder ist es meine Interpretation, die mich sein
Kultur : „Das Geld ist der Gott unter den Waren“
Karl Marx prophezeite, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen wird. Ist es soweit? Eine Unterhaltung mit einem Toten und seinen Texten
Von
Michael Jäger
ch seine Gesten nur phantasieren lässt. Besonders weist er auf Sätze hin, die er geschrieben hat.Herr Marx, beginne ich, Sie haben immer behauptet, der Kapitalismus werde an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen. Sind wir schon so weit, ist die gegenwärtige Finanzkrise der Anfang vom Ende? Um freilich antworten zu können, unterbreche ich mich, müssten Sie Augen für das Besondere und Neue dieser Krise haben, Ihre Augen sind aber geschlossen. Zum Beispiel das spezielle Unheil, das die neuen Finanzprodukte angerichtet haben, Derivate, Verbriefungskaskaden, MBS- und CDO-Papiere.Marx: (winkt ab, als wollte er sagen: Ich bitte Sie!) Da die Verselbständigung des Weltmarkts, if you please, wächst mit der Entwicklung der Geldverhältnisse und vice versa, der allgemeine Zusammenhang in Produktion und Konsumtion zugleich mit der Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit der Konsumierenden und Produzierenden miteinander (ich will einhaken, weil Marx auf Produktion und Konsumtion ausweicht, bewirke aber nur, dass der Satz sozusagen die Stimme erhebt) da dieser Widerspruch zu Krisen führt, so wird gleichzeitig mit der Entwicklung dieser Entfremdung versucht, sie auf ihrem eignen Boden aufzuheben; Preiscourantlisten, Wechselkurse, Verbindungen der Handelstreibenden untereinander durch Briefe, Telegraphen etc. (die Kommunikationsmittel wachsen natürlich gleichzeitig), worin jeder Einzelne sich Auskunft über die Tätigkeit aller andren verschafft und seine eigne danach auszugleichen sucht. Dies Wissen wirkt dann wieder praktisch auf sie ein.Sie wollen sagen, die Kommunikationsmittel wachsen zwar – differenzieren sich, werden komplexer –, aber im Prinzip ändert sich nichts? Die Verbriefung ist auch nur ein Brief, in dem sich das ‚entfremdete‘ Wissen der Handelstreibenden niederschlägt? Der Kurs des Euro ist ein Kurs wie jeder andere? Nun gut, aber mit den Börsencomputern, die in Sekundenbruchteilen auf Kursveränderungen irgendwo auf dem Erdball reagieren, ist eine neue Qualität erreicht.Marx: (bleibt cool) Zirkulation ohne Zirkulationszeit ist die Tendenz des Kapitals. Je entwickelter das Kapital, je ausgedehnter daher der Markt, auf dem es zirkuliert, desto mehr strebt es zugleich nach größrer räumlicher Ausdehnung des Markts und nach größrer Vernichtung des Raums durch die Zeit.Aber von der Tendenz der Banken, mit viel zu niedriger Eigenkapitalquote zu wirtschaften, haben Sie noch nichts gewusst.Marx: Was sich als Geld in den Händen der Bank befindet, ist relativ nur eine kleine Summe. Es ist hier nur nominell Geldkapital aufgehäuft. Was wirklich aufgehäuft ist, sind Geldfordrungen.Sogar den ‚Hebel‘ wollen Sie schon gekannt haben!Marx: Das Kapital selbst, das man wirklich oder in der Meinung des Publikums besitzt, wird nur noch die Basis zum Kreditüberbau.Ich muss wohl grundsätzlicher werden. Jetzt erst finden doch Ökonomen heraus, dass die Börse gar kein gewöhnlicher Markt ist. Der Mechanismus der Preisbildung, also hier der Zinsbildung, funktioniert ganz anders. Marx: Der Preis ist eine Eigenschaft der Ware, eine Bestimmung, in der sie als Geld vorgestellt wird. Neben dem reellen Geld existiert nun die Ware als ideell gesetztes Geld.Sie meinen, wenn das Finanzprodukt, als nur noch ideelle Ware, selbst wieder nur vorgestellt wird, dann wird der Preis beliebig? Weil so eine bloße Vorstellung keine Grenzen kennt …Marx: (nickt) Es gibt keine ‚natürlichen‘ Grenzen der Rate des Zinsfußes.… während sich andere Märkte am genauen Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage einpendeln, nach und nach wie bei einer Auktion, Leon Walras lässt grüßen, und der Gleichgewichtspreis ihn abbildet.Marx: (redet, oder schreibt vielmehr, als hätte er nach Walras und nicht vor ihm gelebt) Das Decken der Nachfrage und Zufuhr ist eine Methode, um von den die Konkurrenz begleitenden Variationen zu den Grenzen dieser Variationen zu kommen. Dies ist nicht der Fall bei dem Durchschnittszinsfuß.Ich kann nur noch meinen größten Trumpf ausspielen. Sie sehen das alles, aber Sie sehen nicht die Brisanz, weil Sie sich nicht wirklich für Finanzmärkte interessieren. Bei Ihnen dreht sich doch alles um die Realökonomie! ‚Produktion und Konsumtion‘ war Ihre erste Antwort und wird Ihre letzte sein. Während Sie Finanzprodukte für ‚fiktives‘ Kapital halten. Im Grunde sehen Sie schon im puren Geld etwas Gespenstisches. Und natürlich ist dann das Reale wichtiger als das Irreale! Aber diese metaphysische Unterscheidung – Er hat mit wachsendem Unmut zugehört, jetzt fällt er mir ins Wort.Marx: Kapital ist unmittelbare Einheit von Produkt und Geld oder besser von Produktion und Zirkulation.Sie meinen, so ein handgreifliches Produkt ist dann schon genauso irreal wie ein Finanzprodukt? Weil es als Warenkapital nur Repräsentant von Geld ist?Marx: Das Geld ist der Gott unter den Waren. Die einzige Nützlichkeit, die ein Gegenstand überhaupt für das Kapital haben kann, kann nur sein, es zu erhalten oder zu vermehren. Vermehren fällt mit Selbsterhalten zusammen. Wir haben schon gesehn beim Geld, wie es keiner andren Bewegung fähig ist, als einer quantitativen; sich zu vermehren –Das ist allerdings gespenstisch, gebe ich zu. Es gibt Gegenstände gleichsam nur, weil Geld vermehrt werden soll.Marx: Reichtum ist der Inbegriff aller Gebrauchswerte; aber als immer nur ein bestimmtes Quantum Geld [hier Kapital] ist seine quantitative Schranke im Widerspruch zu seiner Qualität. Es liegt daher in seiner Natur, beständig über seine eigne Schranke hinauszutreiben: endloser Prozess.Wachstum, wie wir heute sagen. Aber dann wäre ja alles fiktiv und real zugleich. Nein, so will er auch wieder nicht verstanden werden.Marx: Wo die Kette der Zahlungen und ein künstliches System ihrer Ausgleichung sich entwickelt hat, schlägt bei Erschütterungen, die den Mechanismus ihrer Ausgleichung stören, das Geld plötzlich aus seiner gasartigen hirngewebten Gestalt in hartes Geld oder Zahlungsmittel um.Real statt fiktiv ist die Zahlungsunfähigkeit. In der Tat, sonst gäbe es keine Krise. An deren Realität können wir kaum zweifeln. Ich glaube dennoch den metaphysischen Rest ausgemacht zu haben: Also im Fiktiven selber unterscheiden Sie eine ‚harte‘ reale von einer fiktiven Fiktion. Ihr ‚hartes Geld‘ ist bekanntlich das Gold. Der Goldstandard ist aber längst abgeschafft.Marx: Die Erscheinungsform des Geldes ist hier gleichgültig. Die Geldhungersnot bleibt dieselbe, ob in Gold oder Kreditgeld, Banknoten etwa, zu zahlen ist.Man kann ihn nicht packen! Ich komme daher auf meine Ausgangsfrage zurück: Also stirbt jetzt das Kapital an seinen Widersprüchen? Er hebt die Hände: Das weiß er nicht. Wann stirbt es? Muss es überhaupt sterben? Es hat noch jede Krise überlebt. Das kann immer so weitergehen. Jetzt schaut er mich mitleidig an. Er hat wirklich den Gesichtsausdruck der Madonna.Marx: Der Markt muss beständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden.Ja, der Markt muss ausgedehnt werden, weil das Kapital über seine Schranke hinaustreibt. Das habe ich verstanden. Aber es ist keine Antwort auf meine Frage. Oder etwa doch? Angenommen, eine Komplexitätssteigerung wird deshalb ‚immer unkontrollierbarer‘, weil sie ein ‚endloser Prozess‘ ist: Was geschieht dann? Dann kommt eine Zeit, begreife ich, in der die Kontrolle vollkommen zusammenbricht. Früher oder später. Jetzt sind wir beide stumm.Geld war so etwas wie Ihr Lebensthema, nicht wahr? Auch privat, denn Sie sind ständig in ‚Geldhungersnot‘ gewesen.Marx: Ich habe die vergangene Woche eine Scheiße durchgemacht, von der Sie sich keine Vorstellung machen können. Am Tage des Begräbnisses meines Töchterchens Franziska blieben die versprochenen Gelder von allen Seiten aus, so dass ich schließlich gezwungen war, zu benachbarten Franzosen zu laufen, um die englischen Totenhunde zu zahlen. Und unglücklicherweise kam noch der Brief, wonach auch in Amerika alle Aussichten gescheitert scheinen. Obgleich ich ein hartes Naturell habe, griff mich diesmal die Scheiße bedeutend an.Sind Sie grundsätzlich gegen Geld?Marx: Indem das Geld in den Austausch hereinkommt, bin ich gezwungen, mein Produkt gegen den allgemeinen Tauschwert oder die allgemeine Tauschfähigkeit auszutauschen. So wird mein Produkt vom allgemeinen commerce abhängig und aus seinen lokalen, natürlichen und individuellen Grenzen herausgerissen.Vom commerce abhängig zu sein, wird freilich zum Verhängnis, wenn das Produkt in Manuskripten der Art besteht, wie Sie welche geschrieben haben.Marx: Geld unterstellt durchaus keine individuelle Beziehung zu seinem Besitzer; sein Besitzen ist nicht die Entwicklung irgendeiner der wesentlichen Seiten seiner Individualität, sondern vielmehr Besitz des Individualitätslosen.Wie würden Sie unsere Produktionsweise zusammenfassend charakterisieren?Marx: Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet.Dass ihm der Individualismus so viel bedeutet, überrascht mich. Und was können wir tun? Was dürfen wir hoffen?Es kann nichts falscher und abgeschmackter sein, als auf der Grundlage des Tauschwerts, des Geldes, die Kontrolle der vereinigten Individuen über ihre Gesamtproduktion vorauszusetzen. Der private Austausch steht im Gegensatz zu dem freien Austausch von Individuen, die assoziiert sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel. Niemand wird deshalb glauben, durch eine Börsenreform die Grundlagen des innren oder auswärtigen Privathandels aufheben zu können.Ich glaube mich verhört zu haben. Gemeinsame Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel in der Form des freien Austauschs von Individuen? Das klingt ja, als könne er den Tausch und sogar das Geld unter Umständen billigen. Sie stellen also gar nicht privaten Austausch und Staatsplanung gegeneinander? Sondern privaten Austausch und freien Austausch? Marx macht nur große Augen. Wie die Madonna. Er wird das Paradox nicht auflösen. Er ist eben wirklich tot. Aber wir leben noch.