Stieg Larssons Roman, im Deutschen als "Verblendung" bekannt, wurde nun zum zweiten Mal binnen weniger Jahre verfilmt. Reizvoll? Zuviel des Guten? Das Lexikon der Woche
Es ist nicht lange her, dass die virtuelle Welt als parallel betrachtet wurde, als die ganz andere, und das Kino hatte Anteil daran. Hier war die Kohlenstoffwelt. Dort – hinter deren Wänden, wie in Brazil (1985) – lag der Cyberspace. Der Cyberspace war offenes Gelände, nicht vordefiniert durch den Zuschauer. Er war fremd und neu, es konnte dort auch das Undenkbare geschehen. Dumm nur: Man konnte ihn nicht filmen. Man musste, wie er aussah, erst erfinden. In Tron (1982) oder Tron: Legacy (2010) sah er dann aus wie ein neonblinkender Rummelplatz.
Erst in der ersten Verfilmung der Millennium-Trilogie um Lisbeth Salander, deren erster Teil nun erneut ins Kino kommt (➝Remake), wurde das Virtuelle fotografierbar: indem es selbst Teil der Kohlenstoff
(➝Remake), wurde das Virtuelle fotografierbar: indem es selbst Teil der Kohlenstoffwelt wurde. Nicht die Innereien des Computer verbildlichen hier das Virtuelle, es ist Salander selbst. Deren Körper malträtiert wird, die aber mit den Methoden der Hackerin ihre Verletzlichkeit bewältigt und sie gegen ihre Feinde einsetzt. In einer Schlüsselszene nimmt sie ihre Vergewaltigung auf, um sich mit dem Video an ihrem Peiniger zu rächen: Sie opfert ihren Körper einer digitalen Version ihres Körpers. Dass man in ihrer Virtualität virtus entdeckt, Tugend, ist Stieg – eigentlich Karl Stig-Erland – Larssons eigentliche Geschichte. Klaus RaabAstrid LindgrenSie mögen nur Zufall sein, ins Auge springen die Namensähnlichkeiten der Larsson-Figuren zu Astrid Lindgrens Schreiben schon. Für sein Alter Ego Mikael Blomkvist (➝Millennium) hat sich Larsson womöglich von Kalle Blomkvist inspirieren lassen. Lindgrens Kalle ist „Meisterdetektiv“, „lebt gefährlich“ und deckt einen Juwelenraub auf. Vorlage für den an Wirtschaftsverbrechen interessierten, investigativen Journalisten Mikael. Dessen Vorname lautet in voller Länge Carl Mikael, also „Kalle“. Und so nennt ihn Hackerin Lisbeth gelegentlich, um ihn eine Runde aufzuziehen.Doch auch die patente Eva-Lotta Lisander, Kalles Bandenfreundin, taucht im Larsson-Krimi auf: als Namensgeberin für Lisbeth Salander. In dieser ist noch eine Lotta aus Astrid Lindgrens Universum versteckt, nämlich die Pippi. Den anarchischen Freigeist der starken Frau hat sich der Autor nach eigenem Bekunden von Pippi Langstrumpf abgeschaut. Darum macht sie sich die Welt, widdewidde wie sie ihr gefällt. Tobias PrüwerErbeDer Kommunistische Arbeiterbund des schwedischen Städtchens Umeå könnte einer der reichsten Ortsverbände der Welt sein. Eva Gabrielsson, die langjährige Lebensgefährtin des schwedischen Journalisten und Autors Stieg Larsson, stieß nach dessen Tod 2004 auf ein Testament, das er 1977 verfasst hatte. In nur einem Satz vermachte er sein „Vermögen in reinem Geld“ den Kommunisten. Doch die Zeile hat nach schwedischem Recht keinen Bestand, ihr fehlt die Beglaubigung. So ging die Partei leer aus, genau wie bislang Gabrielsson, die Witwe. Sie und Larsson hatten 32 Jahre ohne Trauschein zusammengelebt. Er wurde laufend von Rechtsradikalen bedroht und wollte seine Frau nicht gefährden.Nutznießer der hinterlassenen Millionen somit: Larssons Vater und Bruder. Zu ihnen hatte der Autor, behauptet jedenfalls Gabrielsson, keinen Kontakt mehr. Der Bruder behauptet das Gegenteil. Ein skurriler Erbschaftsstreit entspann sich, der andauert. Ein Faustpfand immerhin hat die Witwe in der Hand: den ➝Laptop, auf dem sich Larssons unvollendetes viertes Buch befindet. Mark StöhrHSeit Erfindung des Zelluloids wird die aktuelle Mode von populären Leinwand-Protagonisten beeinflusst. Davor erfüllten diese Funktion Romanfiguren. Im speziellen Fall der Lisbeth Salander (➝Mara, Rooney) trifft beides zu und fügt sich natürlich zu einer marktübergreifenden Geschäftsidee zusammen. Da Salander ein beliebtes Role Model für junge, emanzipierte Mädchen geworden ist, liegt es nahe, auch ihren Stil zu adaptieren. So ließ die für ihre Geschäftstüchtigkeit bekannte schwedische Modehauskette H die Kostümbildnerin der Hollywood-Verfilmung, Trish Summerville, eine Salander- Kollektion entwerfen: Röhrenjeans in Used-Optik, Lederjacke und Tribal-Ohrring. Nun kann man beim Supermarktbesuch investigativ nach abgelaufenen Tiefkühlprodukten suchen und dabei extrem tough aussehen. Sophia HoffmannLarssons Fiktionen sind durchtränkt von antifaschistischer Gesinnung (➝Erbe, ➝Millennium, ➝Zeitung). Es wird nicht nur ein Fall gelöst, an jeder Ecke dräuen die Probleme der schwedischen Gesellschaft. Es ist erstaunlich, dass Krimis, in denen so offenkundig antisemitische Gewalt, Altnazis und der Geheimdienst Schlüsselrollen spielen, solche Bestseller werden konnten.Legt man die Kriterien der (deutschen) Bundesfamilienministerin an, dürfte Larsson jedenfalls nicht im Unterricht gelesen werden, muss ihr Larsson doch als linksextrem gelten: Mit seinem vermeintlichen Antifaschismus kaschiert er seine Lust an Gewalt. In Deutschland würde jeder Verfassungsschutzbericht Larsson auflisten. Ob der Heyne-Verlag die Titel der Originalgeschichten änderte, um der Drohung mit der Extremismusklausel zu entgehen? Die Titel Männer, die Frauen hassen und Das Luftschloss, das gesprengt wurde wurden durch biblisches Vokabular ersetzt: Verblendung und Vergebung. TPLaptopVielleicht fährt Eva Gabrielsson in diesem Moment wieder einmal Larssons alten Laptop hoch. Er ist wahrscheinlich einer der kostbarsten Laptops der Welt. Denn auf ihm befindet sich der unvollendete vierte Teil der Millenniums-Serie. Das Fragment ist alles, was der Witwe von ihrem postum so berühmt gewordenen Mann geblieben ist. Sogar die Rechte daran gehören der Familie. Sie forderte von Gabrielsson das digitale, zu zwei Dritteln fertige Manuskript im Verlauf des jahrelangen Erbschaftsstreits, doch diese weigerte sich. Das Buch von einem anderen Autor fertig schreiben zu lassen, sei nicht im Sinne Larssons gewesen, sagt sie. Vielleicht hat Gabrielsson das Manuskript auch schon von der Festplatte gelöscht und in die Cloud gestellt. Dort über den Wolken kann es Larsson ja beizeiten selbst vollenden. MSMagieEine Woche auf einer griechischen Insel. „Du musst Verblendung mitnehmen“, rief meine Freundin eindringlich.Ich wusste nicht, wovon sie redete. „Na, Stieg!“ Ich träumte vom ägäischen Meer, Schiffen, griechischem Wein. Und sie empfohl mir einen Krimi, wie ich ihn eher meiner Oma zutrauen würde. Ich kaufte das Buch. Es war heiß und stürmte am Strand von Kos. Ich lag noch immer auf dem Liegestuhl, kurbelte mich immer mehr ins Handtuch, gegen den Wind. Die anderen waren längst ins Hotelzimmer geflohen. Ich kam nicht weg. Wie im Sog blätterte ich um, der Sturm riss mich mit, aber diese Seiten noch mehr! Magie! Es gab irgendwann Abendbrot, aber bis zur Pool-Party war noch eine Stunde Zeit. Als ich fertig war mit der Geschichte, war der Barmann nach Hause gegangen. Was war der gegen Stieg! Maxi LeinkaufMara, RooneyEs heißt, dass Rooney Mara bei der Suche nach der Darstellerin Lisbeth Salanders (➝Rapace, Noomi) Scarlett Johansson ausgestochen habe. Das ist erstmal egal, andererseits lassen wir uns doch alle in schwachen Momenten von den Bildern übermannen und sind genervt davon, dass wir bald keinen Tatort mehr sehen können, ohne ständig an Til Schweigers öffentliche Statements zu denken.Dass Mara kein Mensch kennt, der nicht den Abspann von The Social Network auswendig gelernt hat, ist insofern gut. Denn Salander ist eine Frauenfigur, wie sie noch nicht da war. Sie ist die einzige Superheldin dieser Zeit: kommt aus zerrütteten Verhältnissen, hat sich außergewöhnliche Fähigkeiten draufgeschafft; idealtypischer Superheldenkram. Mara kann man den ganzen Hackerkram einfach so abnehmen. Würde Scarlett Johansson die Lisbeth spielen, wäre man womöglich ständig damit beschäftigt, auszublenden, dass man mal gehört hat, dass ihr ungesichertes Smartphone gehackt wurde... raaMillenniumDie Trilogie ist nach dem investigativen Nachrichtenmagazin benannt, das Mikael Blomkvist, einer der Protagonisten, gemeinsam mit der Chefredakteurin Erika Berger herausgibt. Stieg Larsson, der ein ausgewiesener journalistischer Experte für rechtsextreme Umtriebe in seinem Heimatland war (➝Erbe), hat Millennium unverkennbar an Expo (➝Zeitung) angelehnt, das er 1995 mit Gleichgesinnten in Stockholm gegründet hatte.Millennium vertritt Larssons Utopie eines aufrechten, unbestechlichen Enthüllungsjournalismus. Doch Larsson zeigt auch die Rückschläge und Versuchungen auf, denen ein solches Projekt ausgesetzt ist: Millennium kämpft dauerhaft um seine Finanzierung, und als Blomkvist im Film wegen Verleumdung verurteilt wird, scheint dies der Todesstoß für das Magazin zu sein – bis ein Sponsoring-Angebot Blomkvist und Berger in einen Gewissenskonflikt stürzt. Das Magazin steht sinnbildlich für den politischen Impetus, mit dem die beiden ihrer Arbeit nachgehen. Tim SlagmanRapace, NoomiHohle Wangen, die ihre markante Nase betonen, pechschwarzer Eyeliner, unrasierte Achseln und jede Menge Leder und Nieten, die einen geradezu dürren Körper umschließen: Keine Frage, die schwedische Schauspielerin Noomi Rapace hat Mut zur Hässlichkeit bewiesen, als sie für die ersten Verfilmungen der Millennium-Trilogie in die Rolle der Hackerin Lisbeth Salander schlüpfte (siehe auch➝Mara, Rooney). Doch ihre so intensive wie auch zerbrechliche Präsenz machte Rapace, die ihren Künstlernamen an das französische Wort für „Raubvogel“ anlehnte, zum Star. Gerade war sie im zweiten Teil von Sherlock Holmes zu sehen und spielt auch in Ridley Scotts Alien-Thriller Prometheus. Doch wenn sie auf ewig auf Düsteres festgelegt bliebe, könnte sich der Segen Hollywoods auch als Fluch erweisen. TSLRemakeDass nun Verblendung als Film von David Fincher in die Kinos kommt, ist insofern etwas irrsinnig, als Verblendung doch gerade erst lief, 2009 nämlich. Als schwedische Produktion, die sich eigentlich nicht durch frappierende Lächerlichkeit auszeichnete. Ungewöhnlich ist es allerdings nicht, dass ein europäisches Original binnen kürzester Zeit noch einmal für den internationalen Markt aufbereitet wird. Vielleicht sind brillante Stoffe zu rar; vielleicht fehlt es aber auch einfach am Mut, Neues zu wagen.Wie nun die Millennium-Trilogie, so wurde etwa der französische Gefängnisausbruchsthriller Ohne Schuld von 2008 quasi mit Erscheinen noch einmal gedreht, mit Russell Crowe und einem etwas gepimpten Finale unter dem Titel 72 Stunden. Und auch Abre los ojos (1997) wäre zu nennen; der spanische Film mit Penélope Cruz wurde 2001 als Vanilla Sky neu aufgelegt. Cruz’ Rolle übernahm lustigerweise Cruz selbst. Spart das Textlernen. raaZeitungDie Geschichte stammt von Larssons Bruder: Als der Autor mit 15 Jahren in seiner Heimatstadt Umeå Wahlplakate einer rechtsextremen Partei sah, soll er konsterniert gefragt haben: „Was, Neonazis, das gibt’s bei uns?“ Sein antifaschistisches Engagement war geboren.In den Siebzigern wurde er Mitglied der schwedischen Sektion der Vierten Internationale, 1977 unterstützte er in Eritrea die Guerilla, 1995 gründete er, nachdem Neonazis sieben Menschen umgebracht hatten, die antirassistische Stiftung Expo und gleichnamige Zeitschrift (siehe auch ➝Millennium), deren Herausgeber er bis zuletzt war. Expo ist bis heute eine international vernetzte Plattform, die sich mit nationalistischen und rassistischen Bewegungen auseinandersetzt. Sie war daher immer wieder Zielscheibe rechtsradikaler Drohgebärden. MS