Schon Kinder werden pathologisiert, wenn sie sich nicht an normative Geschlechterrollen halten. Von einer Störung der Geschlechteridentität kann da aber keine Rede sein
Im Sammelband Gehirn und Geschlecht (Hrsg. Lautenbacher, Güntürkin, Hausmann) las ich kürzlich den Beitrag „Das transsexuelle Gehirn“ von den AutorInnen Peggy T. Cohen-Kettenis, Stephanie H. M. Van Goozen und Michael A. A. Van Trotsenburg. Die Kurzzusammenfassung lautet: Schlimm!
Die AutorInnen beziehen sich durchweg auf internationale und meistens anerkannte Studien zum komplexen Gesamtthema der Geschlechtsidentitätsstörung (GIS). Was ist das: Eine Störung der Geschlechtsidentität? Wie prägt sie sich aus, wie diagnostiziert man sie? So habe zum Beispiel KJ Zucker 1999 herausgefunden, dass Kinder mit einer GIS die Geschlechter mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit richtig benennen als Kinder ohne GIS. Ich zucke mit den Schultern. Na und?
Schultern. Na und? Ist das schlimm? Ich zum Beispiel achte darauf, fremde Kinder auf dem Spielplatz nicht mit „das Mädchen“ oder „der Junge“ zu bezeichnen. Denn kleinen Kindern sieht man das nicht an und „das Kind“ reicht völlig. Vielleicht hat das dazu geführt, dass mein Sohn sehr lange die Begriffe „Mann“ und „Frau“ komplett willkürlich benutzte – was mir total egal war. Ich wusste ja nicht, dass so etwas ein Hinweis auf eine Störung sein könnte. Zum Glück!Die AutorInnen sind aber mit ihren Ausführungen zur Erkennung dieser gestörten Kinder längst nicht am Ende, sie differenzieren nach Geschlecht: Jungen mit GIS interessierten sich normalerweise dafür, „mit Spielsachen für Mädchen zu spielen“ und fänden „die Spiele und Aktivitäten für Mädchen (z.B. Seilspringen) viel reizvoller, als die Spiele und Aktivitäten für Jungen (z.B. Fußball).“ Zudem zeigten sie eine „Präferenz für Mädchen als Spielkameraden (sic!)“ und bewegten und kleideten sich häufig „auf eine weibliche Art“.Anti-Barbie-GirlsWer meine Kolumne über den Rock meines Sohnes gelesen hat, kann sich meine Empörung vielleicht vorstellen: In einem wissenschaftlichen Artikel, geschrieben von sogenannten „renommierten“ ExpertInnen, veröffentlicht in einem Buch, das explizit auch dazu dienen soll, Laien an das Thema heranzuführen, werden Menschen auf die Idee gebracht: Kinder, die kein Geschlecht herstellen, könnten gestört sein. (Der Begriff „Doing Gender“ beschreibt die soziale Praxis, Geschlechterrollen performativ zu schaffen. Das ist völlig losgelöst von der Betrachtung des biologischen Geschlechts). Diese Herangehensweise zieht sich durch den gesamten Artikel: „Mädchen mit GIS spielen bevorzugt mit Jungen und interessieren sich für die Spielsachen von Jungen; außerdem mögen sie Sport und wildere Spiele.“ Guten Tag, Sie wussten es vielleicht noch nicht – ich wusste es bis dahin auch nicht – aber: Ich bin geschlechtsidentitätsgestört!In meiner eigenen Kindheit spielte ich eigentlich fast nur mit Jungen – andere gleichaltrige Kinder gab es nämlich in meinem kleinen Dorf nicht. Ich hatte immer kurze Haare und trug meistens bequeme Kleidung. Ich wurde nicht selten für einen Jungen gehalten (alles „Indikatoren“, die bei Cohen-Kettis et. al. aufgeführt werden). In meiner Sozialisation gab es 1989 dann einen Bruch – auch darüber schrieb ich bereits in meiner Kolumne „Wie ich zum Barbiegirl wurde“. Das war nicht einfach für mich und ich erinnere mich, dass ich mit ungefähr elf oder zwölf Jahren zum Anti-Barbiegirl wurde. Mit mädchenhaftem Doing Gender kam ich nicht mehr klar. Schlussendlich sehnte ich mich sehr danach, ich wäre ein Junge. Dann nämlich hätte ich einfach so sein dürfen, wie ich eben war. Das alles ist zusammengenommen eine Überindikation auf meine bislang unerkannte „Störung“.Angst vor Junge im RockJa, ich scherze! Aber das tun andere nicht und die Angst, ein Junge mit Rock könnte gestört sein, die ist in unserer Gesellschaft ganz real und ganz präsent. Nicht nur in diesem Buch wird dabei ein eigentlich unzulässiges Vermischen biologischer Tatsachen und Fakten und eine Psychopathologisierung von gesunden Menschen betrieben. Völlig ungeachtet der Effekte auf die Betroffenen.Betrachte ich mein Leben als Kind und Jugendliche, als Studentin, als Frau, als Arbeitnehmerin und auch als Mutter, so sehe ich viele Situationen, in denen ich mich nicht wohl fühlte – allein aufgrund meines Geschlechts und die daran geknüpften Erwartungen an mich. Meist schnitt ich mir als Reaktion die Haare ratzeputzekurz, oder ich setzte einen Zylinder auf; als 14-Jährige zog ich mir die alten Pullover meines Vaters an (das Gegenteil von kurvenbetonend!). Später verweigerte ich eine Zeit lang die Rasur meiner Beine... Das mag jetzt witzig klingen und ich will es auch nicht künstlich dramatisieren. Aber wenn Doing Gender als Indikator für eine nichtgestörte Identität benutzt wird, kann plötzlich viel an solchen symbolischen Kleinstrebellionen hängen.Auch gegen dieses Buch möchte ich nun am liebsten rebellieren. Aber sechs Kapitel lang hatte ich mich bis dahin recht gut informiert gefühlt. Vielleicht war ich nicht an allen Stellen restlos überzeugt von den scheinbar „wissenschaftlichen Fakten“, insgesamt aber hatte ich viel gelernt. Der Aufsatz von Markus Hausmann „Kognitive Geschlechtsunterschiede“ war durchaus differenziert und entsprach vollkommen meiner Haltung, mit der ich an das Buch herangegangen war: Ich wollte mehr über die Biologie der Geschlechterunterschiede wissen. Wollte mir ein eigenes Bild davon machen, was wirklich genetisch und neurologisch „feststand“, wollte selbst ergründen, welche Mechanismen untersucht wurden, welche Fragen offen blieben. Denn das ist auch wichtig – und deswegen lese ich trotzdem weiter.