„Sorry, aber...“ von Tara-Louise Wittwer: Strategische Schadensbegrenzung
Rezension Mal ehrlich: Wie schnell rutscht einem ein „Sorry“ über die Lippen? Vor allem Frauen entschuldigen sich extrem häufig. Warum das so ist und wie man das ändern kann und sollte, schreibt Influencerin Tara-Louise Wittwer in ihrem neuen Buch
Manchmal kommen uns diese Worte floskelhaft leicht über die Lippen, manchmal beißen wir danach die Lippen zusammen, stammeln oder brauchen lange, um die richtigen Worte zu finden. Es gibt Entschuldigungen, mit denen wir Fehler eingestehen und um Verzeihung bitten. Und solche, die wir unbewusst nutzen, um den sozialen Normen gerecht zu werden. Tara-Louise Wittwer untersucht in ihrem im Mai erschienenen Buch Sorry, aber … Eine Verzichtserklärung an das ständige Entschuldigen kritisch unsere Entschuldigungskultur: Wann ist es wirklich nötig, sich zu entschuldigen? Tun wir es zu oft? Und was hat weibliche Sozialisation mit dem Drang, sich ständig zu entschuldigen, zu tun?
Tara Wittwer, Jahrgang 1990, ist Kulturwissenschaftlerin, Influencerin und Spielgel-Kolu
n und Spielgel-Kolumnistin. Auf ihrem Instagram-Account „wastarasagt“ spricht sie über Gesellschaft und Feminismus. Besonders bekannt wurde ihr Format „Tiktoxic“ mit über 300.000 Follower:innen, in dem sie auf misogyne Tiktoks reagiert und diese feministisch einordnet. Wittwer bezeichnet sich bewusst lieber als Influencerin und nicht als Content Creatorin.Denn, so schreibt es Wittwer zu Beginn ihres neuen Buchs, sie hätte oft das Gefühl gehabt, sich für ihre Jobbezeichnung entschuldigen zu müssen. Auf Influencer:innen herabzuschauen und sich über sie lustig zu machen, ist gesellschaftlich so akzeptiert wie bei kaum einer anderen Berufsgruppe. Trotzdem wird von Influencer:innen moralische Integrität, Authentizität sowie ein professioneller Umgang mit öffentlicher Kritik verlangt. Auch dann, wenn Unbekannte ungefragt oder harsch ihre Videos kommentieren.Die technologischen Neuerungen veränderten auch den Umgang mit Entschuldigungen: Gesprochene Statements auf Instagram oder eigens verfasste Texte seien ein neues Genre im Bereich der öffentlichen Entschuldigungen geworden. Wittwer leitet aber aus diesen Beobachtungen für sich ab, dass sie sich nicht mehr für ihre Inhalte entschuldigen müsse, wenn Menschen dies in den sozialen Plattformen ungefragt einforderten. Und sie blockiere schneller Menschen, die ihr beleidigende Nachrichten schreiben würden.Das war nicht immer so. „Mir tat immer alles leid“, schreibt Wittwer. Leidgetan habe ihr vor allem alles, was mit ihr zu tun hatte. Sie habe sich häufig für sich selbst entschuldigt. Dafür, zu laut zu sein, nicht genug zu sein, nicht reinzupassen. Übermäßige Entschuldigungen kommen vor allem von Frauen, so Wittwer. Doch warum? Ihnen würden immer noch Rollen wie die der Friedensstifterin, der Fürsorglichen, der Helfenden, der Liebevollen, der Gutherzigen zugeschrieben.Oft würde eine Frau durch diese Anforderungen zur „People Pleaserin“, also zu jemandem, die es allen recht machen wolle: unkompliziert und hilfsbereit sein und im Gegenzug gemocht werden. People Pleaser sind bekannt dafür, sich häufig zu entschuldigen, auch für Dinge, für die sie gar nichts können. Dabei, so schreibt es Tara-Louise Wittwer, verbesserten Entschuldigungen Beziehungen nicht. Sie machten sie nur nicht schlechter und hielten sie auf dem Status quo.Von ihren eigenen Erfahrungen ausgehend, erzählt Wittwer in vielen kleinen und großen Szenarien von ihrem Umgang mit Entschuldigungen und wie sich dieser über die vergangenen Jahre verändert hat. Teilweise klingt sie dabei fast trotzig, sie wolle eben nicht mehr die People Pleaserin sein – und ihr Ding machen.Der Ton des Buchs passt zu ihrer Online-Präsenz: Sie steht dafür, laut zu sein und den Mund aufzumachen. Und weiter ihre feministischen Inhalte zu veröffentlichen, ohne „Sorry“. „Tut mir leid, dass dir Blödes passiert ist, tut mir leid, dass es dir nicht gut geht, tut mir leid, dass diese Situation, für die ich nichts kann, gerade so ist.“ Entschuldigungen seien nicht immer ein Schuldeingeständnis. Sie könnten auch Mitgefühl ausdrücken, Respekt vermitteln, eine Unterhaltung am Laufen halten oder ausdrücken, keine Umstände machen zu wollen. Wie oft verschickt man Nachrichten wie „Sorry, meine Bahn hat Verspätung“, ohne etwas dafür zu können?Wittwer beschreibt eine Situation, in der eine Freundin sie nach einer spontanen Verabredung fragt. Sie ist hin- und hergerissen: Einerseits will sie eine gute Freundin sein, gleichzeitig möchte sie den Abend lieber auf dem Sofa verbringen. Die scheinbar naheliegendste Lösung: eine Nachricht mit den Worten: „Sorry, aber ich habe heute leider keine Zeit.“ Wittwer beschreibt ihren Prozess der Entscheidung, lieber ehrlich zu sein, statt sich zu entschuldigen. Am Ende antwortet sie ihrer Freundin, sie brauche den Abend für sich. Die Abwägung, wann eine Entschuldigung sinnvoll und notwendig ist, habe mit Selbstsicherheit zu tun, so Wittwer.Schuld an unserer übermäßigen Entschuldigungskultur seien vor allem zwei alte Bekannte: das Patriarchat und der Kapitalismus. Patriarchale Strukturen konditionierten Frauen darauf, sich selbst kleinzuhalten. Ein Nebeneffekt davon seien unzählige Sorrys und Tut-mir-leids. Statt der Selbstverteidigung und dem Einstehen für sich selbst komme die Defensive, das Zurückrudern, die Unterordnung.Gelernt hätten Frauen dieses Verhalten durch kulturelle Erwartungen und Machtdynamiken. Im Kapitalismus hätten Entschuldigungen eine eigene Funktion, seien zuweilen Teil einer Strategie. Zahlreiche Konzerne wie jüngst das Unternehmen Apple hätten in der Vergangenheit Statements veröffentlicht, um einem Shitstorm auszuweichen und um Kund:innen nicht zu verärgern. Entschuldigungen zeugten von einem bestimmten Selbstbild und dienten in der Öffentlichkeit vor allem der Schadensbegrenzung.Dabei sei eine Entschuldigung erst dann wertvoll, wenn nach den ausgesprochenen Worten Taten folgten. Ausgehend von Wittwers Buchtitel sei das „aber“ nach einer Entschuldigung ein Relativieren des Schuldeingeständnisses, es macht das ausgesprochene „Sorry“ davor nichtig. Solche sogenannten „Nonpologys“, bei denen eine Entschuldigung zwar ausgesprochen, aber im Subtext nicht so gemeint sei, lassen den oder die Empfänger:in der Botschaft oft ratlos zurück. Eine Entschuldigung, ob nun ehrlich gemeint oder nicht, müsse nicht angenommen werden, schreibt Wittwer. Psychologisch könnten Entschuldigungen zwar eine positive Wirkung haben, weil ein Schuldeingeständnis und die Bitte nach Vergebung von Einsicht zeugten.In anderen Fällen würde die Gegenseite die Bitte um Verzeihung nicht mehr hören wollen. „Eine Entschuldigung, die zu spät kommt, hilft nicht beim Heilungsprozess“, so Wittwer. Trotz all der Momente, in denen Entschuldigungen in Wittwers Buch nicht unbedingt gut wegkommen (zu viel, zu unehrlich, zu kleinmachend, zu unüberlegt), schreibt sie, sei ihr Ziel nicht, sich weniger zu entschuldigen, sondern ehrlicher.Dafür brauchen wir, so führt sie aus, eine gesündere Fehlerkultur, weniger tränenreiche Erklär- und Entschuldigungs-Videos von Prominenten auf Instagram. Die kaum überraschende Konklusion Wittwers: „Ich muss mich generell nicht entschuldigen für Entscheidungen, die ich bezüglich meines eigenen Lebens treffe. Solange ich keine anderen Menschen verletze oder diskriminiere, darf und will und werde ich so leben, wie ich das möchte.“Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.