Gaza: Nach sechs Monaten Krieg sind Tausende spurlos verschwunden
Reportage Familien wissen nichts über das Schicksal ihre Angehörigen und suchen in den Trümmern nach Spuren. Oft vergeblich. Viele sind als „unbekannte Tote“ bestattet worden
Tausende sind in den Trümmern von Gaza verschollen
Foto: Ahmad Hasaballah/Getty Images
Eines späten Abends im März stand Ahmed Abu Jalala leise auf und bemühte sich, seine Familie nicht zu wecken. Sie schlief um ihn herum auf dem Boden in einer von der UNO geführten Schule im Norden des Gazastreifens. Der 54-jährige Vater wusste, dass seine sechs Kinder Lebensmittel brauchten, es aber nach Monaten des Krieges keine gab. Kaum etwas erreichte den Ort Jabaliya, wo sie seit der Flucht aus ihrem Zuhause lebten. Längst waren sie gezwungen, wilde Pflanzen zu essen. Also ging Abu Jalala in die Dunkelheit, um Mehl aufzutreiben, das ein humanitärer Konvoi gebracht hatte, wie es hieß. „Wir hätten ihn nie gehen lassen dürfen. Seit diesem Abend haben wir von ihm nichts mehr gehört“, sagt Etemad Abu Jalala, ein Onkel des V
s Vermissten. Ahmed Abu Jalala litt an einer psychischen Erkrankung, umso beunruhigter ist seine Familie. „Wir hoffen, dass er noch lebt, und haben in Krankenhäusern nachgefragt, aber ohne Erfolg.“Nach sechs Monaten Krieg hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz mehr als 7.000 Anrufe auf seiner Hotline registriert, die vermissten Personen galten, doch ist die Gesamtzahl der Verschwundenen vermutlich um ein Vielfaches höher.Nach Angaben örtlicher Gesundheitsbehörden wurden in Gaza bisher mehr als 33.000 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, getötet. Artilleriebeschuss und Luftangriffe haben häufig ganze Wohnblöcke in Schutt und Asche gelegt und viele unter den Trümmern begraben, deren Verschwinden nicht als Todesfall verzeichnet ist. Oft hat man Menschen auch als unbekannte Tote in provisorischen Gräbern beigesetzt, ohne sie zu identifizieren. Der 36-jährige Raji Kamal Kaleel hofft verzweifelt, irgendetwas über den Verbleib seiner Frau und zweijährigen Tochter zu erfahren, die er zuletzt im Januar während eines israelischen Luftangriffs in Gaza-Stadt gesehen hat. Er erzählt, „als die Bombardierung unseres Viertels zunahm, beschlossen wir, in einen UN-Schutzraum zu fliehen, doch auf dem Weg dorthin gab es einen schweren Luftangriff und die ganze Gegend war voller Rauch. Wir konnten uns nicht mehr sehen und rannten in verschiedene Richtungen auseinander.“ Als sich der Rauch verzogen hatte, fand Kaleel seine Mutter, den zehnjährigen Sohn und die elfjährige Tochter wieder, nicht jedoch seine Frau und das jüngste Kind. „Ich habe sie vielleicht für immer verloren, es gibt nichts Schlimmeres. Wie soll mein Leben ohne sie weitergehen? Mit meiner jüngsten Tochter – sie war noch so klein – ging ein Teil meines Herzens dahin. Die Leute sagen mir, dass ihre Körper verbrannt sein könnten. Ich gebe dennoch eine letzte Hoffnung nicht auf, sie wiederzufinden.“ Einige der Verschwundenen, besonders schwer traumatisierte Kinder und psychisch Kranke, sind möglicherweise noch am Leben, können aber ihre Angehörigen nicht finden, da es ihnen an Orientierung fehlt.Anders verhält es sich bei Laila Dogmush, die verschwand, als sie ihren Sohn suchte, der persönliche Habe retten wollte, die der Familie auf der Flucht vor der israelischen Armee abhandenkam. „Meine Mutter tat so, als wollte sie zum Gebet in eine nahe gelegene Moschee gehen, kam aber nie zurück“, erinnert sich Fidaa Dogmush, Sohn der 62-Jährigen. „Ihr seelischer Zustand war durch das, was sie erleben musste, schwer zerrüttet. Vielleicht erklärt das ihr Verschwinden.“Wem soll man glauben?Ein anderer Fall – die Mutter von Fadi Tambora sah ihren 35-jährigen Sohn zuletzt, als der sich im Norden Gazas auf den Weg zu seiner schwangeren Frau machte, die mit ihrer Familie in den Süden geflohen war. „Mein Sohn ist seit seiner Geburt taub. Er bat seinen Vater durch Gebärdensprache, ihm etwas Geld zu überlassen, um seine Frau wiedersehen zu können. Am gleichen Tag gab es einen Luftangriff und da verloren wir ihn aus den Augen.“ Später fanden Freunde in der Nähe des Krankenhauses von Jabaliya Kleidungsstücke, die Fadi Tambora zugeordnet wurden. Es blieb die letzte Spur. Tamboras Mutter befürchtet, ihr Sohn könnte von israelischen Soldaten erschossen worden sein, weil er nicht hörte, was sie ihm zuriefen.Für viele ist die Annahme ein Hoffnungsschimmer, jemand könnte durch die Israelis festgenommen worden sein – man wisse es nur nicht. „Wir gehen davon aus, dass gut tausend Menschen ohne Anklage und Benachrichtigung ihrer Angehörigen interniert sind. Nur ist es schwierig zu erfahren, was vor sich geht. Wir wissen nur, dass wir viele Anrufe bekommen“, sagt Tala Nasir, Anwältin bei Addameer, einer NGO, die Palästinensern in israelischer Haft beisteht. Belal Al Masry, der in Gaza-Stadt eine kleine Druckerei betrieb, wurde im ersten Monat des Krieges von israelischen Truppen im Norden des Gazastreifens festgenommen, sagen seine Verwandten. Seitdem seien alle Bemühungen gescheitert, von entlassenen Häftlingen Informationen über den 40-Jährigen zu erhalten. „Einige sagten uns, dass er noch bei den Soldaten sei, andere behaupteten, er sei tot. Wem sollen wir glauben?“, fragt Nashaat Al Masry, der Bruder des Vermissten. „Wir alle sind besorgt. Belals Frau und seine Kinder sind noch immer im Norden und auf sich allein gestellt. Wir haben versucht, mit dem Roten Kreuz zu sprechen – ohne Erfolg. Auch der Palästinensische Rote Halbmond konnte nicht helfen.“Für die 32-jährige Hana Abu Jarad bedeutet das Verschwinden ihres Mannes Ibrahim große seelische Not. Der blieb zu Beginn des Krieges im Norden Gazas, um seine betagte Mutter nicht sich selbst zu überlassen, während Hana und ihre vier Kinder nach Süden flohen. Einen Monat später hörten seine fast täglichen Telefonanrufe plötzlich auf. „Jetzt kümmere ich mich allein um meine vier Kinder. Angesichts der hohen Preise ist es fast unmöglich, sich ohne Einkommen zu ernähren. Wenn meine jüngste Tochter mich nach ihrem Vater fragt und wissen will, wann er wieder bei ihr ist, erfinde ich einen Vorwand, um sein Verschwinden zu vertuschen“, sagt Hana.Ein großes Problem in Gaza sei die Kommunikation, berichten Helfer. Eingebüßte Telefone können nicht ersetzt werden, SIM-Karten seien nicht verfügbar, sodass es äußerst schwierig ist, in Kontakt zu bleiben oder Vermisste aufzuspüren. „Zu Beginn des Konflikts verließen Zehntausende ihre Häuser und gingen nach Süden. Wer dabei jemanden verloren hat, für den ist es unglaublich schwierig, denjenigen wiederzufinden“, sagt Sarah Davies, Sprecherin für das Rote Kreuz in Israel und den besetzten Gebieten. „Überall auf der Welt erzählen uns Menschen, dass der schmerzhafteste Teil eines Konflikts neben der physischen Bedrohung die Trennung von Angehörigen und das Nichtwissen darüber sei, was ihnen passiert ist.“
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