Lesen Sie unsere Zeitung, damit Sie wissen, wie Sie die Premiere morgen abend gefunden haben sollen - so ähnlich launig warb einmal eine deutsche Zeitung für ihren Kulturteil. Aus dem lockeren PR-Scherz wird mehr und mehr ein ernsthaft befolgtes Rezept. Zuerst werden Meinungen verbreitet und erst eine Anstandsfrist später wird die Sache zugänglich gemacht, der die Meinungen gelten sollen. Auf diese Weise ist vor Jahren die Goldhagen-Debatte erfolgreich in Schwung gebracht worden: der Leserschaft im deutschen Sprachbereich wurde vielsagend ein "neuer Historikerstreit" angekündigt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die fragliche Arbeit dieseits des Atlantik nur in Form von Gerüchten und einiger Zitate existierte. Als die deutsche Übersetzung von Daniel Goldh
Kultur : Jeder ist ein Opfer
Schiefer Streit um Norman Finkelstein und Peter Novick
Von
Lothar Baier
ldhagens Hitler's willing executioners schliesslich bei Bertelsmann erschien, kam dem Absatz des Buchs eine erhebliche Startbeschleunigung zugute.Nach dem Goldhagen-Prinzip ist nun eine weitere Affäre angeleiert worden, in deren Zentrum ein schmales Buch des New Yorker Politikdozenten Norman Finkelstein steht. Im Sommer 2000 war die Leserschaft der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit - die bereits in Sachen Goldhagen den Vorreiter gespielt hatte - davon unterrichtet worden, dass ein Streit über das sogleich als "Machwerk" qualifizierte Buch Finkelsteins The Holocaust Industry nicht lohne und dass die Ankündigung des Piper Verlags, eine deutsche Ausgabe herauszubringen, nur den Kommentar "widerwärtig" verdiene. Die Meinung war damit an den Mann gebracht und wurde auch landauf landab nachgebetet. Die Sache stand zwar noch aus, aber es konnten schon zahlreiche Zeitungsseiten und Fernsehstunden für das zu erwartende Finkelstein-Spektakel reserviert werden. Zusätzliche Würze erhielt die noch im Zustand der Virtualität befindliche Geschichte durch die von der Zeit mitgelieferte Mitteilung, dass rechtsextreme Zeitungen und Websites sich Finkelsteins angenommen hätten. Ein jüdischer Autor, dessen Eltern der Vernichtung entkommen waren, gekoppelt an die extreme Rechte, die Kombination versprach eine quirlige Mischung.Mit Finkelstein meldete sich zudem ein Autor zurück, der Jahre zuvor als heftiger und darum wiederum angefeindeter Goldhagen-Kritiker hervorgetreten war. Von den Anhängern Goldhagens wurde Finkelstein als militanter Antizionist in die linksradikale Ecke weggeschoben. Obgleich Goldhagen und Finkelstein sich an die entgegengesetzten Pole der Debatte gerückt sahen, verbindet beide von heute aus gesehen etwas miteinander, und zwar ein ähnlich oberflächlicher Umgang mit dem jeweiligen Stoff.Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker, urteilte der weltweit anerkannte Historiker der Massenvernichtung, Raul Hilberg, sei beim Forschungsstand des Jahres 1946 stehen geblieben und deshalb völlig wertlos; in der Tat beruht sein dürftiger historiographischer Gehalt zu großen Teilen auf der vorausgegangenen Archivarbeit des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning. Dieser Zeitgeschichtsforscher hatte Vernehmungsprotokolle von Angehörigen eines während des Zweiten Weltkriegs in Polen eingesetzten deutschen Polizeibataillons ausgewertet und war zu dem beunruhigenden Schluss gekommen, dass die Ermordung vieler Juden in polnischen Ghettos das Werk gewöhnlicher, als Polizeibeamte Dienst tuender Familienväter fortgeschrittenen Alters, nicht das junger, nationalsozialistisch fanatisierter SS-Schlächter gewesen war. Brownings detaillierte Studie erschien 1992 in den USA unter dem Titel Ordinary men: Reserve Police Batallion 101 and the Final Solution in Poland.Der danach an einer Dissertation arbeitende Daniel Goldhagen griff Brownings Untersuchungsergebnisse auf, ethnisierte jedoch dem Modetrend entsprechend ihre Generalaussage: nicht "ganz normale Männer", wie der Titel der deutschen Ausgabe von Brownings Buch lautet, sondern "ordinary Germans" hätten das Verbrechen begangen. Das Verbrechen trägt bei Goldhagen anders als bei Browning den medial zugkräftigen Namen "The Holocaust". "Der Holocaust" als Werk "der Deutschen" insgesamt, zudem angelegt in einer vielhundertjährigen deutschen Geschichte, die den Antisemitismus "eliminatorisch" aufgeladen, das heißt kontinuierlich mit der Intention der Vernichtung scharf gemacht hätte, diese klotzige These brachte Goldhagen zwar in Gegensatz zu der Mehrzahl der sachkundigen Historiker, sicherte ihm aber in den USA und danach in Deutschland erhebliche Aufmerksamkeit. Anders als Christopher Brownings auf Aktenkenntnis gestützte Untersuchung wurde Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" zum internationalen Bestseller.Goldhagen-PrinzipAuf einem vergleichbaren Huckepack-Verfahren beruht auch Norman Finkelsteins Vorgehen. Am Anfang stand die 1999 veröffentlichte Arbeit The Holocaust in American Life des in Chicago lehrenden Historikers Peter Novick. Finkelstein schrieb eine Rezension dieses Buchs und erweiterte die Besprechung später zu einem 140 Seiten starken Manuskript, das der Londoner Verlag Verso zur Veröffentlichung annahm und im Sommer 2000 unter dem Titel The Holocaust Industry als Buch herausbrachte. Seit kurzem liegt es in deutscher Übersetzung vor.Ähnlich wie Goldhagen versteckt auch Finkelstein die Abhängigkeit von einer Vorlage hinter harscher Kritik an ihr. Finkelsteins gegen Peter Novick erhobener Hauptvorwurf lautet, der Historiker habe sich in seiner Untersuchung der Umstände, unter denen die Vernichtung der europäischen Juden sich als "Holocaust" zu einer spezifisch US-amerikanischen Obsession entwickelt hat, um die Benennung der das alles steuernden materiellen Interessen herumgedrückt. Finkelstein nimmt da kein Blatt vor den Mund, er nennt den Jüdischen Weltkongress, die Jewish Claims Conference, das Simon-Wiesenthal-Zentrum, das American Jewish Committee, die Anti-Defamation-League und die internationale jüdische Vereinigung B'nai Brith als Betreiber einer "Holocaust-Industrie", die im Namen der Opfer in die eigene Tasche wirtschafte und dabei sowohl die Opfer als auch die Opferentschädigung leistenden Länder - Deutschland, Schweiz et cetera - ausbeute.Allein der Terminus "Holocaust-Industrie" hat viele gegen Finkelstein aufgebracht. Gern wird ein Ausspruch des Harvard-Historikers Charles Maier zitiert, der Finkelsteins Buch in die Nähe der "Protokolle der Weisen von Zion" rückte, jenes von der zaristischen Geheimpolizei in Umlauf gebrachten antisemitischen Pamphlets, das sowohl Hitler als auch Henry Ford I. verehrten. Der Verfasser war rasch als verschwörungstheoretisch besessener Wirrkopf eingeordnet, wenn nicht als jüdischer Antisemit; der Berliner Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz will dem Autor von Die Holocaust-Industrie gar eine Psychotherapie empfehlen.Umso heller darf in der deutschsprachigen Öffentlichkeit der Ruf des von Finkelstein kritisierten, doch von The New York Times gelobten Peter Novick erstrahlen. Man befindet sich also in bester amerikanischer Gesellschaft, wenn man sich auf die Seite Peter Novicks schlägt und den zweifelhaften Norman Finkelstein dort liegen lässt, wo er sich selbst ansiedelt, nämlich links aussen.In den USA selbst ist die Verteilung von Schwarz und Weiss entgegen dem in Deutschland verbreiteten Anschein nicht ganz so eindeutig ausgefallen. In der jüdischen Zeitschrift The New Republic wurde Peter Novick als nichtreligiöser Jude abgekanzelt, der "dem inneren Leben des Judentums fremd" gegenüberstehe, und sein Buch erhielt, genau wie dann Finkelsteins Schrift, das grobe Label "antizionistisch". Finkelstein wiederum wurde Unterstützung durch die konservative jüdische Zeitschrift Commentary zuteil, die aus eigenen Gründen mit dem Vorgehen der grossen jüdischen Organisationen in Sachen Opferentschädigung hadert. Raul Hilberg und einige andere Fachleute gaben Teilen von Finkelsteins Kritik an diesem Vorgehen Recht.Aus dem Kontext gerissenWas ist nun von dem diesseits des Atlantik derart hervorgehobenen starken Kontrast zwischen beiden Autoren zu halten, nachdem ihre Bücher zugänglich geworden sind? Kein Zweifel, Novicks Arbeit, deren Originaltitel The Holocaust in American Life im Titel der deutschen Ausgabe - Nach dem Holocaust - vollständig de-amerikanisiert wurde, ist ungleich interessanter, gerade für nichtamerikanische LeserInnen viel lehr- und materialreicher, außerdem erfreulicher zu lesen als Finkelsteins litaneihaft geschriebenes schmales Buch. Ihr Ausgangspunkt ist, wie der Autor erklärt, skeptisches Staunen gewesen: Wie ist zu erklären, dass die Vernichtung der europäischen Juden, die in den USA in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Öffentlichkeit kaum beschäftigte, seit den siebziger Jahren als "The Holocaust" ein stetig anwachsendes, durch Hollywood vervielfachtes Echo finden konnte?Möglich wurde das seiner Meinung nach deshalb, weil die "Konstruktion jüdischen Bewusstseins" sich politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen anpasste, "von denen alle Amerikaner betroffen waren". Zu diesen Veränderungen zählt Novick die Ende der sechziger Jahre in den USA einsetzende Ethnifizierung gesellschaftlicher Konflikte und die Entstehung einer alles durchdringenden "Opferkultur". "Everybody is a victim, everybody has a grievance" - ob Frauen, Schwarze, Hispanos, Behinderte, Nichtraucher, Haustiere - heisst seitdem die Parole. Es hatte zugleich aber auch der komplexe Prozess der Vernichtung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland zu etwas kulturell Griffigem gemacht werden müssen, zu dem religiös konnotierten, enthistorisierten Gesamtphänomen "Holocaust".Paradoxerweise hätte nichts die These Novicks plastischer illustrieren können als das Auftreten seines Kritikers Finkelstein. Denn dieser präsentiert sich, was bei seinen merkwürdig ritualisierten Auftritten in Zürich, Wien und Berlin deutlich zum Vorschein kam, als Mustererzeugnis der US-amerikanischen Opferkultur. Als sich geschädigt Fühlender hat Finkelstein nämlich keine Probleme zu lösen, sondern einen gewaltigen Brass loszuwerden, und zwar auf diejenigen, die er als Betrüger ansieht, verantwortlich für die ärmliche Entschädigung seiner den Lagern entkommenen Eltern. Die Schuldigen packt er der Einfachheit halber in die "Holocaust-Industrie", wobei es ihm so wenig wie den Schöpfern des kulturindustriellen, den Vernichtungsprozess zukleisternden Artefakts "Holocaust" auf Differenzierungen ankommt.Amerikanische NeurosenMit Novick und Finkelstein stehen sich nicht einfach zwei konträre Auffassungen, gar Gut und Böse gegenüber, sondern zwei Typen von Intellektuellen, wie sie unterschiedlicher nicht ausfallen könnten. Als Buchautor ist Peter Novick ein kritisch nachdenkender und unablässig nachfragender, weit über die Grenzen der USA und auch seines Fachs hinausschauender gebildeter Historiker, im Kontrast dazu erscheint Norman Finkelstein als engstirniger Aktivist, der verbissen für eine Sache streitet, sich dabei gelegentlich intellektueller Methoden bedient, sie sich aber nicht zu eigen macht.Mit einer bemerkenswerten Farbenblindheit gegenüber wechselnden Kontexten und kulturellen und sozialen Prozessen jeglicher Art inkarniert der Politologe Finkelstein fast bis zur Karikatur eben den US-amerikanischen mainstream, als dessen Opfer er sich darstellt. Denn nichts fördert der die "Opferkultur" pflegende transatlantische mainstream sosehr wie schmalspurige one-point-Obsessionen. Sich benachteiligt fühlen und dann, ohne nach links und rechts zu blicken, den Rest des Lebens mit dem besessenen Kampf gegen diejenigen verbringen, die man als Schädiger identifiziert zu haben glaubt, ist ein in den USA sozial hoch bewertetes und außerdem die wuchernde nationale Anwaltsindustrie ernährendes Verhalten. Wenn es also etwas zu therapieren gäbe, dann wäre es nicht das Individuum Finkelstein, sondern die US-amerikanische Gesellschaft, die den Mann so modelliert hat. Können ganze Kulturen "neurotisch werden"?, hat Freud zu seiner Zeit gefragt. Offensichtlich können sie.Als Schlussbemerkung sei hinzugefügt: wie auch immer die beiden diskutierten Bücher gelesen und eingeschätzt werden mögen, so sollte doch nicht vergessen werden, dass ohne die vom Piper Verlag gegen allerlei Widerstände durchgesetzte Vermittlung von Finkelsteins "Provokation" der nun von allen Braven (zu Recht) gepriesene Autor Novick ein Unbekannter geblieben wäre. Weder Novicks grundlegende Arbeit über den Begriff der Objektivität in der Geschichte noch seine Untersuchung der "Säuberungen" nach der Befreiung Frankreichs 1944 haben das Interesse irgendeines deutschsprachigen Verlegers gefunden. Die gesamte, international hochgeachtete, von Robert O. Paxton begründete amerikanische Forschung zur Geschichte Vichy-Frankreichs und der Kollaboration, ist, obgleich sie gerade auch Deutsche angeht, bisher nicht durch Übersetzungen zugänglich gemacht worden. Die im deutschen Sprachbereich herrschende Amerikanomanie zieht es offenbar mehr zum neurotisch-dumpfen als zum gescheiten Amerika.Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker - ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Deutsch von Klaus Kochmann. Bertelsmann, München 1997, 728 S. 59, 80 DMChristopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen. Deutsch von Jürgen Peter Krause. Rowohlt Verlag, rororo-Sachbuch, Reinbek 1995, 278 S., 16,90 DMNorman G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird. Deutsch von Helmut Reuter, Piper Verlag, München 2001, 233 S., 38,- DMPeter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Deutsch von Irmela Arnsperger und Boike Rehbein. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2001, 430 S., 44,- DM