An weiser Voraussicht hatte es dem Schriftsteller Rudolf Leonhard nicht gefehlt, als er 1927 von Berlin nach Paris übersiedelte, wo er sowohl mit Kurt Tucholsky als auch mit dem Pariser Korrespondenten der Frankfurter Zeitung, Friedrich Sieburg, Bekanntschaft schloss. Letztere war jedoch nicht von Dauer: kaum waren Sieburg, dem Verfasser des damals vielbeachteten Buchs Gott in Frankreich, nach Hitlers Machtergreifung erste national-ergriffene Töne entfahren, attackierte Leonhard den deutschen Journalisten in der von Henri Barbusse herausgegebenen Zeitschrift Monde ohne wenn und aber unter dieser Überschrift: "Herr Sieburg oder ist Gott Nazi?" ("M. Sieburg ou Dieu est-il Nazi?"). Lange Jahre schien dieser Gott es eher mit den Nazis zu halten: denn während nach der Besetz
während nach der Besetzung Frankreichs der national bewegte Sieburg als Redner der deutsch-französischen Propagandagruppe Collaboration durchs Land ziehen und sich als "Kämpfer und Nationalsozialisten" präsentieren durfte, saß Rudolf Leonhard zusammen mit Tausenden deutscher Emigranten und antifaschistischer Flüchtlinge in jämmerlich ausgestatteten französischen Internierungslagern fest. Aus dem Lager Les Milles bei Aix-en-Provence, in dem auch Max Ernst eine zeitlang festsaß und der Schriftsteller Walter Hasenclever sich das Leben nahm, gelang Leonhard zwischendurch die Flucht nach Marseille, wo seine französische Frau Yvette Prost im Rathaus angestellt war. Als er versuchte, sich ohne Ausreisepapiere auf ein nach Mexiko abgehendes Frachtschiff zu retten, wurde er von der französischen Polizei erwischt. Es folgte die Internierung im Lager Le Vernet am Rand der Pyrenäen und danach die Einsperrung im Gefängnis der in der Nähe gelegenen Stadt Castres. Nachdem Ende 1942 die bis dahin "frei" genannte Südzone von der deutschen Wehrmacht besetzt worden war, befürchteten die eingesperrten Nazigegner mit gutem Grund die drohende Auslieferung durch die Vichy-Behörden an die Gestapo, was für die Juden unter ihnen - wie Leonhard - die Deportation in die Vernichtung bedeutet hätte. Im September 1943 überwältigten mehrere Dutzend von ihnen ihre Gefängniswärter und brachen aus. Leonhard schlug sich nach Marseille durch, wo er sich bis zur Befreiung der Stadt im Sommer 1944 versteckte und für die lokale Résistance arbeitete. Womit hat sich der Lyriker, Dramatiker, Essayist und Sprachphilosoph Rudolf Leonhard in den fast vier Jahren seiner Einsperrung in Frankreich Tag um Tag beschäftigt? Eine Antwort hat der Berliner Schriftsteller Steffen Mensching im Archiv der Berliner Akademie der Künste gefunden, in Form eines Konvoluts von 1200 doppelseitig beschriebenen Blättern, die niemals systematisch ausgewertet, geschweige denn ediert worden waren. Mensching hat sich dann die ungeheure Mühe gemacht, die handgeschriebenen Seiten zu transskribieren, für den Druck vorzubereiten und mit sachkundigen Erläuterungen zu versehen. Was er nun unter dem Titel In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils bei Aufbau vorlegt, ist eines der eigenartigsten Dokumente der deutschen Emigrationsliteratur. Weder Tagebuch noch Roman, weder Korrespondenz noch Sammlung literarischer Skizzen, sondern nichts als Traumaufzeichnungen. Der 1889 im polnischen Lissa (heute Lezno) als Rudolf Levysohn geborene und später in Berlin ansässige Rudolf Leonhard hatte wie viele seiner geistig aufgeschlossenen Zeitgenossen von Freuds "Traumdeutung" und anderen Arbeiten zum Thema Notiz genommen und früh damit begonnen, Träume aufzuzeichnen. Wie Mensching mitteilt, wurden Traumberichte Leonhards neben Traumnotizen Walter Benjamins 1928 in dem von Ignaz Je ower bei Rowohlt herausgegebenen Band Das Buch der Träume publiziert. Solche Übung in der Traumaufzeichnung geriet für Leonhard später bei der Internierung in französischen Lagern und Gefängnissen zur Technik geistigen Überlebens. Womit sich Abwechslung verschaffen, wenn, an gleichförmig verlaufenden Tagen, die Gespräche mit den Mitgefangenen in deprimierenden Wiederholungen erstarrten? Kaum aus dem Schlaf gefahren, hatte Leonhard sich angewöhnt, zu notieren, was er gerade geträumt hatte. Oft geschah das mehrmals im Verlauf einer Nacht. Sind diese auf über 400 Buchseiten versammelten Traumstücke überhaupt lesbar für Zeitgenossen, die keine psychoanalytisch geschulten Traumdeuter sind? Ja, sie sind es - sobald man sich in diese schnörkellos aufgezeichnete Traumprosa nach ersten Mühen ein wenig eingelesen hat. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Traumnotizen nicht fundamental anders strukturiert erscheinen als Kapitel eines Romans. Es tauchen immer wieder erkennbare Personen auf - Leonhards Mutter, seine von ihm oft gekränkte Frau Yvette, der Schriftsteller Carl Einstein, der sich 1940 im südwestfranzösischen Fluß Adour ertränkte, Walter Hasenclever, der sich im Lager Les Milles das Leben nahm, jener Hasenclever, mit dem Leonhard in Paris eine zeitlang zusammengelebt, sich dann aber mit ihm auf Dauer verkracht hatte. Wer sich´s einfach machen will, kann in solchen Traumepisoden Kompensationsreaktionen erkennen. Liest man die Aufzeichnungen jedoch nicht mit den Augen eines hobby-analytischen Traumdeuters, zeichnet sich ein viel komplexeres Scenario ab. Angstträume (die Nazis verhören den Träumer oder verfolgen ihn mit einem U-Boot selbst über Land) wechseln mit Wunschträumen (gelungene Flucht nach Amerika) ab. Was Freud in der Traumdeutung "Tagesreste" nannte, Elemente aktueller Nachrichten (die US-Armee ist in Sizilien gelandet) oder Fetzen von Gesprächen mit Mitgefangenen, finden sich in Leonhards Träumen innig verbunden mit Bildern von Fluchten weit weg aus der bedrückenden Gegenwart der Einsperrung und Bedrohung: zurück in die Kindheit in Lissa oder nach vorn in eine Zukunft ohne Nazis und auch ohne KP-Intrigen (in die Leonhard im wirklichen Emigrantenleben verwickelt war). In eine Zukunft auch voll von Träumen vom Fliegen und voll reizvoller erotischer Begegnungen, die für den eingesperrten homme à femmes Leonhard in unerreichbare Ferne gerückt waren. Dann wiederum diskutiert der Träumer mit Göring über die Revolution, streitet sich mit Friedrich Sieburg und sagt sich vor, dass er sich trotz Nazis seine Liebe zur deutschen Sprache nicht nehmen lassen will. Wie ein wild komponiertes Kinoprogramm, das sich der exilierte Gefangene vorspielt, um wenigstens im Freiraum der Nacht der Monotonie seiner Situation zu entkommen, lässt sich diese Sammlung von Traumnotizen betrachten, ein aus Dokumentareinstellungen, historischen Rückblenden, Alptraumszenen, romantisierenden Zwischenschnitten und vielen anderen Elementen zusammengesetzten Programm. Zugleich aber bietet die Sammlung etwas ganz anderes an als Zapping durch die unbewusst verfertigten Traumprogramme eines äußerlich bedrängten Individuums: nämlich ein "bedeutendes Bild der Zeit", wie Steffen Mensching in seinem klugen Nachwort unter Rückgriff auf einen wenig bekannten Klassikerausspruch schreiben kann. "Nur die Verbindungen im Traume sind subjektiv, nicht die Substanz; der Mörtel, nicht das Material", schrieb Goethe 1776 an Frau von Stein. "Die Umformung im lockeren Wurfe des Traumes macht uns die Welt deutlicher, im ganzen Traummaterial eines Individuums schon die ganze Welt. Die ganze Realität der Zeit ist auch im Traume." In diesem Sinn kann das spät zugänglich gemachte Traumbuch Rudolf Leonhards als ein realistisches Geschichtenbuch gelesen werden, das über die Zeit der dreißiger und vierziger Jahre einen durch keine andere Form ersetzbaren Aufschluss gibt. Steffen Mensching verdient für seine Arbeit des Einrichtens und Erläuterns dieses einzigartigen literarischen Fundstücks alle Anerkennung.Rudolf Leonhard: In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils. Herausgegeben von Steffen Mensching. Aufbau Verlag, Berlin 2001, 527 S., 25 EUR