Als in diesem Wahlkampf die ersten Plakate von Angela Merkel auftauchten, traute man seinen Augen nicht. Wo waren die nach unten gezogenen Mundwinkel geblieben, wo die topfartige Nichtfrisur? Alles an der spröden Frau aus dem Osten erinnerte plötzlich an eine Kosmetik-Werbung. Eine Mischung aus Margaret Thatcher, Business-Woman und Drei-Wetter-Taft lächelte da von den Laternenpfählen herunter: alterslos, herkunftslos. Diese Frau, so schien es, ist endgültig angekommen im Westen. Doch wo kam sie her?
Es macht den Reiz von Ingo Schulzes neuem Roman Neue Leben aus, dass er die Biographie noch einmal demonstrativ aufrollt, wo sich alle ihrer zu entledigen trachten. Wo Merkel Spuren verwischt und Falten tilgt, zeichnet der 1962 in Dresden geborene Schulze noch einmal die
e noch einmal die tausend Krähenfüße einer ostdeutschen Identität nach. Der Leser folgt dem Lebensweg eines gewissen Enrico Türmer aus Dresden. Ein Herausgeber namens Ingo Schulze aus Berlin stieß bei Recherchen für einen neuen Roman auf fünf Schuhkartons mit unveröffentlichten Prosatexten, Tagebüchern und Notizen dieses geheimnisvollen Mannes und übergibt sie mit diesem Buch der Öffentlichkeit.Kollektive Erwartungen üben oft eine hypnotische Kraft aus. Und das stete Starren auf die Literatur hat nun offenbar doch jene kinetische Reaktion gezeitigt, die man in der Schule, im Bus oder im Theater ausprobieren kann: Man muss nur lange genug auf den Nacken des Vordermannes schauen. Irgendwann reagiert er schon. Und siehe: Das Ungeheuer aus dem literarischen Loch Ness ist wirklich aufgetaucht. Da haben wir ihn nun - den lautstark herbeigesehnten "Wenderoman".Nachdem Schulze in seinen Simple Storys von 1999 in kalten, kurzen Stücken die Absurdität und die Ungewissheit des Übergangs, ein viel beachtetes Kaleidoskop von Schicksalen der Wendeverlierer gezeigt hat, geht er in seinem neuen Werk noch einmal weit zurück vor die Wende und erzählt, wie alles dazu gekommen ist. Das ist immer gut zu Zeiten, in denen alle das Mantra herbeten, man dürfe nur noch beherzt in die Zukunft schauen. Die fiktiven Briefe, die er da zu einem Roman zusammen gebunden hat, lassen ein ganz normales, mäßig nonkonformistisches Leben in der DDR von der Wiege bis zur Wende Revue passieren.Der Vorteil der zweiten Rolle rückwärts erschließt sich nicht sofort. Missgünstig und übellaunig, wie der genervte Rezensent nun einmal ist, weil sich zuviel schlechte und zu dicke Bücher ungelesen um ihn stapeln, ist er deshalb zunächst geneigt, die umständliche Konstruktion dieses 800-Seiten-Backsteins mit den fingierten Briefen und beigegebenen Dokumenten, einem Vorwort und Anmerkungen des Herausgebers als eine weitere, besonders aufwändige Variante der durchsichtigen Distanzierungstechnik zu verwerfen, mit der besonders jüngere Autoren das - meist autobiografische - Material von sich wegschieben, aus dem sie Kunst formen wollen. Denn die Geschichte dieses Enrico gleicht quasi bis aufs I-Tüpfelchen dem seines Herausgebers: Auch Ingo Schulze ist in Dresden geboren, hat als Soldat in Oranienburg gedient, Altphilologie in Jena studiert, war beim Theater in Altenburg und hat dort zur Wendezeit eine Zeitung herausgegeben.Ganz unbegründet ist der Verdacht nicht. Ach das Genre des Briefromans, das Schulze für sein Opus gewählt hat, kommt einem einigermaßen verzopft vor. Es entstammt dem 18. Jahrhundert. Berühmte Vorläufer, die etwas Passables draus gemacht haben, sind immerhin Rousseau mit Nouvelle Héloïse, Goethe mit Die Leiden des jungen Werther und Laclos mit den berüchtigten Liaisons dangereuses. Das in Zeiten des Internets eigentlich museumsverdächtige Medium erweist sich aber für den Geschichtsbruch am Ende des 20. Jahrhunderts als erstaunlich brauchbar. Denn mit ihm entgeht Schulze dem Dilemma, das Reifen einer gefährdeten Seele in Zeiten des Umbruchs als lineare Erzählung konstruieren zu müssen, die dem Chaos und der Unabsehbarkeit der Geschehnisse nicht gerecht würde. Wer wusste damals schon, wie es weitergehen sollte?Folglich schreibt Türmer die Briefe an seine Schwester Vera, den Jugendfreund Johann, einen Untergrunddichter aus Dresden und die unerreichbare Geliebte Nicoletta in Petersburg ohne Kenntnis der Zukunft. Es ist eine Form von Erinnerung und Beschreibung, in dem sich die alte, realsozialistische Vergangenheit und die neue, kapitalistische Gegenwart ständig überlagern. Das Fragmentarische und Manipulative der Erinnerung lässt sich so besser darstellen als mit einem allwissenden Erzähler. Mehr als einmal korrigiert der Herausgeber Schulze seinen Schützling Türmer, wenn ihm seine Einlassungen beschönigend vorkommen.Trotz seiner Dicke und scheinbar antiquierten Umständlichkeit dürfte Schulzes Roman großer Erfolg beschieden sein. Wir sehen schon die Slogans vom "Panorama der Wendezeit". Das ist er natürlich auch. Von Enricos gescheiterter Wehrdienstverweigerung bis zur Montagsdemonstration und dem ersten Kaufrausch auf dem Kurfürstendamm enthält er alles, was wir von (Ost-) Deutschlands alltäglichen und historischen Stunden schon oft gehört haben, aber gern immer wieder hören. Es gibt ein paar herrliche Bilder. Etwa wenn Türmer die Atmosphäre des Stillstands in der DDR beschreibt. Als die Altenburger Freunde kurz nach dem Mauerfall bei den (noch) sozialistischen Behörden eine Lizenz für ihre Zeitung beantragen und die Verwaltung betreten, scheint dort der Staub wie "Vulkanasche" auf den Topfpflanzen zu liegen.Kurzum: Ein Wenderoman wie ein Bilderbuch. Es fehlt nichts. Es überrascht aber auch nichts. Wie gemacht für die Goethe-Institute, die der Welt erklären müssen, wie das Leben im Osten war und wie es zum neuen Deutschland kam. In der Oberstufe wird er über kurz oder lang zur Pflichtlektüre werden. Nirgendwo kann man so schön das Verhältnis von Literatur, Leben und Geschichte exemplifizieren. Und sicher wird die Bundeszentrale für politische Bildung ihn ins Programm aufnehmen und massenhaft verteilen. Mit keinem Politologen-Referat der Welt könnte man die Dialektik von Anpassung und Widerstand in der DDR anschaulicher erklären, die Mechanismen gewaltlosen Widerstands oder wie sich Parteien und eine demokratische Öffentlichkeit bilden.Gegen diese absehbare Nobilitierung werden wir nichts einwenden. Denn in Neue Leben ist die Geschichte weder Haupt- noch Staatsaktion. Die ganz große historische Kulisse fehlt ebenso wie ideologisches Pathos. Der Genosse Honecker blickt nur aus dem Porträtfoto vor blauem Hintergrund, das wir schon aus anderen DDR-Romanen kennen. Neue Leben wird auch nicht aus der Siegerperspektive erzählt, sondern ist Originalton Ost. Türmer erzählt vom Leben ganz normaler Leute: Enricos Vater war Schauspieler, seine Mutter OP-Schwester. Deren Leben in der DDR ist die ganz normale Schizophrenie: Zwar hatten alle den Westen im Kopf, das gelobte Land aus Gold, aus dem die Pakete kamen. Doch als Enrico in der elften Klasse von ein paar Staatsschützern zu Unrecht verdächtigt wird, die Republik mit seiner Mutter auf illegalem Wege verlassen zu wollen, empört er sich noch: "Was sollte ich denn im Westen?" Erst später imaginiert sich der werdende Schriftsteller als Dissident, der von Fotografen und Kameraleuten umringt triumphalen Einzug in Westberlin hält.Auch das Wendebild ist angemessen desillusionierend. Bei Schulze war der Umschwung kein Heldenepos mit wogenden Fahnen à la 1798, sondern eine Art geplanter Zufall. Geschichte wird zwar gemacht. Meist schliddert man aber doch eher hinein. Zuerst mokiert sich Enrico noch über den "Feierabendcharakter" der Montagsdemonstrationen. Als er zufällig selbst in eine gerät, bemerkt er die Kraft der "untergründigen Bewegung" und staunt: "Das ist eine Demonstration". Hinterher nerven sie ihn. Türmer kennt das Gefühl des Erfahrungsverlustes: "Unsere Erfahrungen sind heute so brauchbar wie ein hundert Jahre altes Medizinstudium" klagt er. Jetzt muss er lernen, wie man mit einem florierenden Anzeigenblatt der eigentlichen Zeitung das Überleben sichert.Schulzes voluminöses, arg gemächlich anwachsendes Roman-Konvolut birgt die Geschichte einer allmählichen Befreiung. Sein Held macht etwas Ähnliches durch wie der erwachende Bürger des 18. Jahrhunderts. Doch gegen die facettenreiche Psyche, die dieses historische Subjekt in seinen Briefen entwickelt, kommt Türmers Binnenschau reichlich bieder daher. Psychologisch trocknet sie zusätzlich aus, weil zu viel historische Schilderungen Platz darin finden müssen. Den Gipfel der Gefühlsintensität erklimmt Türmer als Soldat der NVA, wo wir ihn in einem sehr intimen Moment beobachten dürfen. Mitten in einer Übung entfernt er sich von der Truppe, streift durch den Wald und verspürt plötzlich ein Bedürfnis: "Mir schien, dass ich mich nicht nur von dem entleerte, was ich in den letzten Tagen in mich hineingestopft hatte, sondern dass ich all das los wurde, was ich je an Bedrückung, an Angst und Qual geschluckt hatte. Mit dem nackten Hintern überm Waldboden in der ersten Morgendämmerung war ich der glücklichste und freieste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Diese Minuten waren der Urmeter meines Glücks", schreibt er.Man darf sich die Wiedergeburt dieses freien Ichs nicht wie die Wiedergewinnung einer verlorenen Unschuld vorstellen. Die romantische Sehnsucht nach den neuen Leben jenseits der DDR wandelt sich rasch. Was sich hier über die Jahre freikämpft, ist der Neubürger der Marktwirtschaft. Das Arkadien der Kunst und Literatur, in das sich Türmer im Reich des simulierten Sozialismus einst retten wollte, hat der Möchtegern-Schriftsteller und Mann der Bühne aufgegeben: "Das Theater ist mir vollkommen fremd" schreibt er seinem alten Freund Jo. Bei einem Besuch im Spielcasino von Monte Carlo, der Türmer vom Mäzen der Jungverleger, dem skurrilen Baron Clemens von Barrista spendiert wird, übt er sich schon mal ein in die Mentalität des Casino-Kapitalismus. Später schreibt er Jo dann, sie kalkulierten jetzt "mit hundertmal größeren Beträgen". Der Stoff schreit nach Fortsetzung. Wir sind gespannt, ob der Wendemann dann so ausschaut wie Angela Merkel auf den Wahlplakaten. Auf den Lippen das Lächeln eines neuen Lebens.Ingo Schulze: Neue Leben. Roman. Berlin, Berlin 2005, 789 S., 24 EUR