Es gehört zu den verteidigenswerten Grundrechten bürgerlich demokratisch verfasster Gesellschaften, dass man jeden Regierungschef auf dieser Erde einen Schurken, einen Idioten oder beides nennen, oder, im Falle Deutschlands, dafür auch die weibliche Form wählen darf. Das gehört ganz wesentlich zum Freiheitsbegriff dieser Gesellschaften, und, ganz nebenbei gesprochen, dürfte eine solche Charakterisierung des führenden staatlichen Personals in weit über 90 Prozent aller Fälle richtig sein.
Das Recht auf freie Rede sollte also niemanden, außer die unmittelbar Angesprochenen, ärgern, und wen es doch ärgert, den sollte vielleicht beruhigen, dass es in einer entwickelten bürgerlichen Gesellschaft ziemlich wirkungslos geworden ist, s
den ist, seine Meinung, und sei sie noch so aggressiv formuliert, verkünden zu dürfen. Ob man sich im Londoner Hydepark an der Speaker´s Corner auf eine Kiste stellt, ob man einen Leserbrief oder Leitartikel schreibt oder in Chikago eine Mülltonne umwirft, dürfte ähnliche politische Resonanz entfalten.Es geht in diesem Text, für den selbstverständlich auch gilt, dass er politisch wirkungslos bleiben wird, also nicht um die völlig sinnfreie Frage, ob Deutsche Israel kritisieren dürfen, die ja in der Regel ohnehin nur gestellt wird, um sie - mutig, mutig - im Sinne einer erlaubten Israelkritik zu beantworten, sondern es geht um den realen Diskurs in Deutschland, gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen israelischen Militäraktionen gegen die Hisbollah im Libanon, die von vielen Beobachtern schon als neuer Nahost-Krieg wahrgenommen werden.Es geht nicht darum, ob man Kritik üben darf, sondern um das soziologische Phänomen, dass in Deutschland - wie mir scheint: mehrheitlich - gerade Israel so gerne kritisiert wird und obendrein so oft so harsch. Beziehungsweise es geht um die Kehrseite der lauten Israel-Beschimpfung: um diejenigen, die jede - besonders gerne: militärische - Aktion Israels loben und sich resolut auch gegen israelische Kritiker ihrer Regierung und ihres Militärs absetzen wollen.Man muss die gegenwärtige israelische Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Ehud Olmert nicht mögen, aber man kann sicher zumindest zweierlei sagen. Erstens kam sie durch eine demokratische Wahl zu Stande, ihre Arbeit wird in Israel von einer lebendigen und lesenswerten Presse kritisiert und kontrolliert, sie muss sich ständig einem keineswegs für Faulheit oder Duckmäusertum bekannten Parlament gegenüber rechtfertigen, und an oppositionellen sozialen Bewegungen jeder Couleur mangelt es in Israel auch nicht. Hinzuzufügen ist noch, dass die israelische Gesellschaft im ganzen Nahen Osten, vielleicht neben dem Libanon, die einzig demokratisch verfasste ist, was in Anbetracht von ständigen Raketenangriffen und Selbstmordattentaten keine Selbstverständlichkeit ist. Dies sagt vielmehr einiges über die Stabilität der israelischen Demokratie aus: Wie würde es wohl in Anbetracht ähnlicher täglicher mörderischer Bedrohungen in anderen Ländern, beispielsweise in Deutschland, um die Pressefreiheit und um das Demonstrationsrecht stehen? Wie um die Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten, wie etwa die der Lesben und Schwulen? Welche Priorität würde man hier zu Lande unter den Bedingungen eines Krieges oder zumindest einer Kriegsgefahr, Frauenförderplänen und Bildungsoffensiven für Migranten einräumen?Der zweite Punkt, der unstrittig sein sollte, ist, dass eine Kritik, die aus Deutschland an der israelischen Regierung geübt wird, zumindest wohlfeil ist. Wer sie äußert und, was das Bemühen von Vergleichen mit dem Nationalsozialismus angeht, nicht allzu sehr über die Stränge schlägt, bewegt sich in einem Milieu der Zustimmung. Wer die israelische Regierung hingegen lobt, kann sich selbst eine moralisch höhere Stellung attestieren, die ihn gegen Kritik immunisiert. Sowohl die Feinde als auch die Fans Israels, so mein sehr subjektiver Eindruck, wähnen sich jeweils in einer Opferrolle, was ihre Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem argumentativen Gegner nicht gerade steigert.Auch wenn vermutlich wesentlich mehr Deutsche den Namen des Ministerpräsidenten Israels (Ehud Olmert) kennen als den beispielsweise des nördlichen Nachbarn Dänemarks (Anders Fogh Rasmussen), so gehören doch nähere Kenntnisse über die israelische Gesellschaft nicht zum hiesigen Bildungsstamm. Warum auch, könnte man einwenden, das Land ist klein und weit weg? Aber das bisschen, was man hier zu Lande weiß, reicht erstaunlicherweise völlig aus zur forschen Meinungsäußerung. Nach einer recht jungen repräsentativen Meinungsumfrage lehnen 75 Prozent der Deutschen die militärischen Operationen Israels im Libanon ab. Gerade mal 13 Prozent geben an, dass sie die Situation im Nahen Osten nicht so recht beurteilen können.Diese Urteilssicherheit der überwältigenden Mehrheit kann nicht aus einer tieferen Einarbeitung ins Thema rühren. Die Zahl deutscher Urlauber in Israel beispielsweise ist in den letzten zehn oder zwanzig Jahren deutlich rückläufig; das profunde Urteil über das kleine Mittelmeerland, seine Bewohner und seine Regierung geht also nicht mit einer vor Ort gewonnenen Kompetenz einher. Da, wo in der Tat oft hingereist wird und wurde und wo immer noch kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden, im früheren Jugoslawien, findet sich ähnliches deutsches Expertentum, wie es für Israel und den Nahostkonflikt reklamiert wird, nicht. Es ist ja auch nicht so, dass deutsche Zeitungen, die regelmäßig über israelische Politik und Gesellschaft schreiben, wie etwa die mit mehreren Korrespondenten sehr kompetent von vor Ort berichtende Jüdische Allgemeine, über viele Leser verfügten, die nach Lektüre zum ausgewogenen Urteil kämen.Das Thema Israel beziehungsweise der Nahe Osten erfüllt in der deutschen Öffentlichkeit eine ähnliche Funktion wie das Wetter oder die Fußballnationalmannschaft. Diese Themen sind kaum bis gar nicht argumentativ zu behandeln, über sie wähnen sich alle Gesprächsteilnehmer a priori kompetent und vor allem meinungsstark. Da braucht nicht mehr zugehört, aufmerksam gelesen oder nachgedacht zu werden. Das betrifft nicht nur Äußerungen, wie sie in Straßeninterviews zu hören sind, sondern auch Expertenmeinungen. Ein Beispiel: Michael Lüders, der schon Bücher zum Thema vorgelegt hat, fiel jüngst im Interview mit der Netzeitung durch den originellen Vorschlag auf, den Iran als Vermittler zwischen Israel und Hisbollah einzuschalten. Warum nicht die USA? Nein, die hätten sich vorbehaltlos auf die Seite Israels gestellt und könnten deshalb keine neutrale Position einnehmen, sagte er dort. Intellektuell ähnliche Helden lassen sich auch in anderen Spektren des deutschen Diskurses über Israel finden. Eine kleine sich als links verstehende Gruppe beispielsweise, die unter der Losung "Waffen für Israel" Geld sammelt, und sich mit der Übergabe einer Handvoll Euro an einen Repräsentanten der höchst gerüsteten Armee der Region beliebt machen möchte.Der israelische Staat und die israelische Gesellschaft dienen vielen Deutschen als Folie, die etwas anderes zu erklären, zu verarbeiten oder zu bewältigen helfen soll.Im Milieu derer, die dazu neigen, der israelischen Regierung stets und ständig Mäßigung zu empfehlen, ist oft die Rede von der "besonderen Verantwortung von uns Deutschen für Israel". Diese Formel verweist trotz ihrer unangenehmen Wir-Bezogenheit auf den Umstand, dass Israel der Staat der Juden ist und dass dieser Staat im Jahr 1948 ganz wesentlich wegen des millionenfachen Mords, den der Rechtsvorgängerstaat der Bundesrepublik und seine Bewohner an Juden begangen haben, gegründet wurde.Es gehört zu den bemerkenswerten Ergebnissen der deutschen Diskurskultur, dass die Wendung von der "besonderen Verantwortung", die im ursprünglichen Sinne als Aufforderung zur Zurückhaltung und zur politischen, ideellen und materiellen Unterstützung verstanden werden kann, uminterpretiert wurde zur besonderen Kompetenz, überall mitschwätzen und mitentscheiden zu dürfen, wenn es um existenzielle Fragen Israels geht."Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden" formulierte der Philosoph Theodor W. Adorno. Das Recht, den israelischen Regierungschef einen Idioten oder Schurken zu nennen, sei jedem unbenommen. Beide vorherrschenden Strömungen in Deutschland - sowohl die, die dieses Recht so gerne und laut in Anspruch nimmt, wie auch die, die Kritik an der gegenwärtigen Politik untersagen möchte - haben jedoch viel mit diesem Gerücht zu tun.