Die aktuelle Diskussion um einen neuen Feminismus stellt sich meist als Lagerkampf dar. Auf der einen Seite stehen Alt-Feministinnen, in die Jahre gekommene Veteraninnen der zweiten Frauenbewegung, die an ihren vor Dekaden entwickelten linken Idealen festhalten. Auf der anderen Seite finden sich junge Post-Feministinnen, die weder mit dem Stil noch mit den politischen Projekten ihrer Müttergeneration viel zu tun haben wollen und stattdessen auf individuelle Erfolgskämpfe setzen.
Opfer oder Ego nannte die taz ihre jüngst erschienene Beitragsserie zum neuen Feminismus passenderweise. "Opfer" bezieht sich dabei auf den Vorwurf der Selbstviktimisierung, mit dem die Post-Feministinnen die Alt-Feministinnen überziehen. "Ego" steht für die selbstzentrierte Perspektive, die
trierte Perspektive, die den Jungen von den Alten vorgehalten wird. Grenzverwischungen und Zwischenpositionen sind in diesem Szenario nicht vorgesehen. Und das ist bedauerlich. Denn es gibt sie längst. Zumindest in den USA.Die Rede ist vom Third Wave Feminismus, einem geschlechterpolitischen Erneuerungsprojekt der Generation 40 minus. Second Wave bezeichnet in den Vereinigten Staaten das, was bei uns als zweite Frauenbewegung bekannt ist, also jene vielfältigen Emanzipationsanstrengungen, die in den späten 1960er Jahren begannen, in den folgenden Dekaden die unterschiedlichsten Erfolge verbuchen konnten und heute zuweilen erlahmt erscheinen. Der Feminismus der dritten Welle nun unterscheidet sich von demjenigen der zweiten Welle vor allem in seinem Selbstverständnis als Element einer inklusiven Bewegung für soziale Gerechtigkeit, in der unterschiedliche Spezialanliegen als potentiell miteinander verzahnt betrachtet werden. Rassismus beispielsweise oder Kriegsführung als Mittel der Außenpolitik sind damit - feministisch gesehen - grundsätzlich als ebenso relevant ausgewiesen wie "klassische" Themen der zweiten Frauenbewegung, etwa die öffentliche Organisation der Kinderbetreuung, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder gleicher Lohn für gleiche Arbeit.Denn der Feminismus der dritten Welle gründet auf der Idee der Intersektionalität. Also der Verwobenheit von Geschlechterfragen nicht nur mit Fragen der Sozialstruktur, sondern auch mit dem nationalen Selbstverständnis, der sexuellen Normierung oder dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Altern. In diesem Sinne ist der Feminismus der dritten Welle nicht unbedingt eine dritte Frauenbewegung. Auch Männer sowie inter- und transgeschlechtliche Personen, also all diejenigen, die sich in das gängige Mann-Frau-Schema nicht einpassen können oder mögen, sind willkommen. Third Wave ist somit so etwas wie Gender Mainstreaming der sozialen Bewegungen von unten.Folgt man dem Gründungsmythos, dann gehen die Ursprünge des Third Wave Feminismus auf einen Artikel von Rebecca Walker in der Zeitschrift Ms. zurück. Walker ist die Tochter der berühmten Schriftstellerin Alice Walker und eines weißen, jüdischen Menschenrechtsanwalts, Ms. das US-amerikanische Pendant zur deutschen Emma. Besagter Text erschien 1992, da war Walker gerade einmal 22 Jahre alt. "Ich bin keine postfeministische Feministin. Ich bin die Dritte Welle," erklärte sie in ihrem Text. Hintergrund dieser programmatischen Erklärung war die damals in der US-amerikanischen Öffentlichkeit tobende Debatte um den Fall Anita Hill gegen Clarence Thomas.Der designierte Bundesrichter Thomas musste sich 1991, also kurz vor seiner Berufung, gegen Anschuldigungen seiner ehemaligen Mitarbeiterin Hill verantworten, die ihm sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorwarf. In seiner Verteidigung assoziierte Thomas - ein konservativer Afroamerikaner - die Anhörungen mit der unseligen US-amerikanischen Geschichte der Lynchmorde schwarzer Männer durch weiße Rassisten. Außerdem inszenierte er sich als Oper einer sexualisierenden Stereotypisierung. Auf diese Weise konnte er den Eindruck erwecken, seine Beschuldigung sei rassistisch motiviert und Hill - ebenfalls Afroamerikanerin - sei der verlängerte Arm weißer, rassistischer Feministinnen. Insbesondere afroamerikanische Frauen monierten seinerzeit, dass der Fall Hill gegen Thomas einer verkürzenden Entweder-Oder-Logik folgend nicht als Geschlechterkonflikt und als "rassisch" kodierter Konflikt zugleich diskutiert wurde, sondern dass sich die Kritik sexueller Belästigung und ihrer Delegitimierung einerseits und die Kritik rassistischer Verurteilungspraktiken andererseits unverbunden gegenüber standen.Walker nun schlug sich in ihrem Ms.-Text, in dem sie neben dem Fall Hill/Thomas übrigens auch Erfahrungen von Alltagssexismus in der U-Bahn thematisiert, eindeutig auf die Seite der Frauen. Der Artikel ist ein aufgebrachtes Plädoyer für weibliche Solidarität, die klare Ansage, einen großen Teil ihrer Energie dem Wohlergehen von Frauen widmen zu wollen und eine deutliche Distanzierung gegenüber jenen Personen, die weibliche Freiheit anderen politischen Prioritäten unterordnen. Drei Jahre später, in der Einleitung zu der von ihr herausgegebenen Essaysammlung To be Real. Telling the Truth and Changing the Face of Feminism distanzierte Walker sich dann von ihrer vehementen geschlechterpolitischen Selbstinitiation - und machte sich auf die Suche nach einem nicht dogmatischen und etwas entspannteren Feminismus.Walker selbst hat inzwischen zwei autobiographische Bücher veröffentlicht, unzählige Vorträge gehalten und die in New York ansässige Third Wave Foundation mitgegründet. Eine Stiftung, die sich dem Kampf um soziale Gerechtigkeit verschrieben hat und dieses Ziel etwa dadurch zu verwirklichen sucht, dass sie benachteiligte junge Frauen und transgender Aktivistinnen unterstützt - und zwar finanziell wie ideell. Und der Begriff der dritten Welle hat seinen Weg gemacht.Aber wofür steht das Label Third Wave in der Praxis? Zunächst ist festzuhalten, dass sich der Feminismus der dritten Welle in erster Linie als Bewegungspolitik versteht und sich vor allem durch Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit, in der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und in zivilgesellschaftlichem, teilweise punktuellem politischem Engagement äußert. Die personale und thematische Inklusivität der dritten Welle führt dazu, dass Themen, die als "reine" Frauen- beziehungsweise Geschlechterthemen gelten könnten - wie sexuelle Gewalt oder reproduktive Rechte - zwar nicht verschwinden, jedoch dezentriert werden und zuweilen neben andere Anliegen treten oder mit diesen gemeinsam verhandelt werden.Die Aktivisten der dritten Welle grenzen sich damit vom alten Feminismus der zweiten Welle nicht rigide ab, wie das die Post-Feministinnen mit ihrem Opferfeminismus-Vorwurf tun. Sie nehmen vielmehr dessen Agenda partiell auf, modifizieren sie gegebenenfalls und ergänzen sie um neue und zusätzliche Belange. Sie nehmen das feministische Erbe also aktiv an - um es nach eigenen Vorstellungen weiterzuführen.Wie so etwas aussehen könnte, zeigt sich gut an einem Beitrag, den die Künstlerin und Politaktivistin Kathryn Temple für Vivian Labatons und Dawn Lunder Martins Band The Fire this Time. Young Activists and the New Feminism geschrieben hat - eine der neueren Buchpublikationen aus dem Umfeld der dritten Welle. In ihrem Text Gewaltexport: Die School of the Americas, U.S.-Interventionen in Lateinamerika und Widerstand erzählt Temple nicht nur von der Verwobenheit ihrer künstlerischen und ihrer politischen Arbeit. Sondern sie zeichnet außerdem Verbindungslinien zwischen ihrer Tätigkeit in einem Frauenhaus, einer Zufluchtstätte für von häuslicher Gewalt betroffene Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen, und ihren Akten zivilen Ungehorsams gegen die School of the Americas, die seit 2001 "Western Hemisphere Institute for Security Cooperation" heißt und eine berüchtigte Ausbildungsstätte für lateinamerikanische Militärs im US-amerikanischen Bundesstaat Georgia ist. Die Verknüpfung stellt Temple her durch einen Vergleich jener Machtdynamiken, die bei Paaren mit einem gewalttätigen Partner beobachtet werden können, und jenen, die im Zusammenhang von Strukturanpassungsmaßnahmen und staatlich organisierten Menschenrechtsverletzungen insbesondere in Mittelamerika eine Rolle spielen. In beiden Fällen dienen die Gewalttaten Temple zufolge der Einschüchterung und dadurch der Aufrechterhaltung von Dominanz: im einen Falle der männlichen Dominanz in der Familie, im anderen der politischen und ökonomischen Dominanz der USA und US-amerikanischer Unternehmen.Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive nun mögen Temples Vergleiche vorschnell und gewagt erscheinen. Doch um eine solche Perspektive geht es ihr gar nicht. Vielmehr ist ihr daran gelegen, ihre unterschiedlichen Aktivitäten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen - und zwar auf einen feministischen. Auf diese Weise wird eine Selbstverortung als Feministin möglich, ohne politische Interessen an Fragen, die keine "Geschlechter"-Fragen im engen Sinne sind, vernachlässigen oder gar verleugnen zu müssen. Denn tatsächlich geht der Feminismus der dritten Welle auf jede und jeden mit jeweils individuell unterschiedlicher politischer Priorität ein - ob das nun Menschenrechte sind oder Umweltschutz, die Herausforderungen der Elternschaft oder Erfahrungen von Homophobie und Alltagsrassismus. Im Vergleich zum Vorgehen der zweiten Welle beziehungsweise der zweiten Frauenbewegung verliert der Feminismus damit zwar deutlich an Kontur. In einer Situation jedoch, in der gerade die vormalige Konturierung viele seiner grundsätzlichen Sympathisantinnen eher abschreckt als anzieht, könnte sich diese neue Offenheit als große Chance erweisen.Zumal die dritte Welle mit ihren Prinzipien von Intersektionalität und Offenheit noch einem zweiten Problem des alten Feminismus begegnet: Dem Umstand nämlich, dass er vielen Mädchen und jungen Frauen unnötig oder gar unattraktiv erscheint, weil sie sich selbst nicht für benachteiligt halten. Im Third Wave Feminismus geht es von vornherein um viel mehr als um die persönliche Situation seiner Protagonisten - weshalb es auch nicht unbedingt die eigene Diskriminierungserfahrung sein muss, die im Zentrum der feministischen Auseinandersetzung und Arbeit steht.Zugespitzt gesagt betreibt die dritte Welle linke Politik, führt Kämpfe um soziale Gerechtigkeit, bei denen die geschlechtliche Dimension aller Einzelaktionen stets präsent ist. Der Post-Feminismus hingegen - um den Unterschied hier noch einmal zu unterstreichen - fokussiert jenseits all seiner Mühen, sich den Opferschuh nicht anzuziehen, vor allem individuelle Erfolgschancen und Karrieren leistungsbereiter Frauen. Mit dieser relativ engen Agenda orientiert er sich nun interessanterweise in viel stärkerem Maße an seiner eigenen Karikatur des Alt-Feminismus, als es dem offenen, intersektionalen Third Wave Feminismus je einfallen würde. Der zudem nichts gegen individuelle Erfolge einzuwenden hat, im Gegenteil. Aber es soll sich dabei um etwas anderes handeln als um ein Spartenprojekt für "F-Klässlerinnen" und andere Privilegierte.Was man damit politisch erreichen kann, wird sich noch zeigen müssen. Aber der Ausgang kollektiven, politischen Handelns ist in den meisten Fällen ungewiss. Der Feminismus der dritten Welle weist zumindest einen Weg aus dem Lagerkampf zwischen "Opfer" und "Ego". Einen Weg also, der das geschlechterpolitische Projekt auf keiner Seite in besonders rosigem Licht zeigt und daher auch keine vielversprechende Werbung ist. Feminismus muss ja nicht unbedingt sexy sein. Offenheit und Inklusivität sind für dessen Umleitung auf neue, zeitgemäße Gleise auch schon sehr viel wert. Derart ist Third Wave vielleicht nicht der Königsweg. Aber die Richtung stimmt.