Ein Reiseführer muss im besten Fall eine Überlebenshilfe sein. Die seit mehr als 30 Jahren unter dem Label Lonely Planet erscheinenden Führer haben mit Sicherheit dem ein oder anderen Rucksacktouristen aus auswegloser Situation geholfen. Die Fibel der Individualreisenden bietet, was sonst eher getrennt verlegt wurde: praktische Hinweise und zugleich einen profunden Überblick über Sehenswürdigkeiten sowie Geschichte, Sitten und Gebräuche des Landes. So hat der Lonely Planet allerdings auch dazu beigetragen, westlichen Individualreisenden abseits der Massenressorts Wege durch Indien, Peru oder Neuseeland zu weisen, die am Ende Heerscharen von Individualreisenden beschritten haben. "Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet"
s er sucht, indem er es findet", hat Hans Magnus Enzensberger festgestellt, schon bevor es den Lonely Planet gab. Im 18. Jahrhundert freilich gab es diese Form der Reiseerleichterung noch nicht. Der Baedecker wurde erst ab 1835 gedruckt, und existierende Bücher legten ihren Schwerpunkt auf die Monumente, die zu besuchen waren. Es sollen die Reiseberichte deutscher Schriftsteller, die um 1800 Italien durchquerten, deshalb hier in der Art des Lonely Planet gelesen werden. Auch wenn damit niemand behaupten will, dass die Italiensehnsucht damaliger Zeit schon etwas gewesen wäre, das man heute praktischerweise im Reiseführer nachschlagen könnte. Travelling yesterdayDie "Grand Tour", eine exklusive Vorform dessen, was wir heute Tourismus nennen, meint das Bereisen des europäischen Kontinents. Sie galt während ihrer Hochzeit im 18. Jahrhundert als die "Krönung einer guten Erziehung". Unzählige junge Reisende aus England, Frankreich oder Deutschland machten sich auf, um andere Staats- und Lebensformen zu studieren, später dann insbesondere um Kunstdenkmäler in natura zu erleben und das Erfahrene in Berichten niederzuschreiben. Das Standardwerk für unseren Kulturraum ist Goethes Italienische Reise, 1816 erstmals erschienen. Die Reise war also vornehmlich zur Bildung gedacht. Allerdings bezog Bildung sich allein auf das Studium des Altertums und der Kunstgegenstände. Italien war für die Grand Touristen überspitzt gesagt in erster Linie: ein Museum. Wurde einmal die Politik, der Aufbau eines Staates behandelt, war man sich schnöde genug, ganze Abschnitte aus existierender Literatur abzuschreiben. Auch der Kontakt mit Einheimischen kannte seine Grenzen. Goethe etwa bewegte sich während seines Rom-Aufenthaltes hauptsächlich innerhalb des deutschen Künstlerkreises. In Italien, so erzählt er Caroline Herder, habe er kaum italienisch gesprochen. Schon das Motto seines Italienbuch ("Auch ich in Arkadien!") zeigt, um wie viel mehr die Reise dazu gedacht war, eine bereits gehegte Vorstellung auszufüllen, statt nach realen damaligen Zuständen zu suchen: Vom Italien des 18. Jahrhunderts, von Missständen, in denen die Bevölkerung lebte oder von der Politik des Landes, ist keine Rede. Facts for the VisitorEs kann aus heutiger Sicht authentisch wirken, wenn man von der Vielzahl an Querelen liest, denen sich der Reisende damals auszusetzen hatte. So berichtet Goethes Vater Johann Caspar im Vorwort seiner Viaggio per l´Italia fatto nel anno 1740 von einer vierwöchigen Quarantäne in Venedig, zum Großteil in Isolation und bei schlechtem Essen, der er sich, von Wien kommend, zu unterziehen hatte, da in der Türkei die Pest wütete. "Es bedarf sicherlich der Umsicht, um einem solchen Übel den Weg ins eigene Haus zu versperren, aber die Venezianer sind bei diesen Untersuchungen doch gar zu genau und beflissen; sie übertreiben diese Vorsichtsmaßnahmen immer, und ich gehörte zu denjenigen, die ihre Strenge erfahren mussten." Es klingt aus diesen Zeilen eine bis heute vertraute Melodie: Im Grunde bringt man Verständnis für noch jede Maßnahme auf, die einen - erst recht im Urlaub - aber bitte nicht selbst betreffen sollte. Things to seeBemerkenswert ist aus heutiger Perspektive, dass bedeutende jüngere Kunstwerke unter den Sehenswürdigkeiten, wie etwa die barocken Skulpturen von Bernini, eher auf Missfallen gestoßen sind. Karl Philipp Moritz lässt in den Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 an den damals fast zeitgenössischen Figurengruppen der Villa Borghese kein gutes Haar. Denn das Studium der zuweilen imposanten Ruinen des antiken Zeitalters bildete, für jeden Reisenden das Hauptmotiv der Tour. Die Aufgabe, wissenshungrige Fremde durch die Altertümer zu führen, übernahmen so genannte Ciceroni, angesehene Antiquare oder Altertumsforscher. Gelegentlich war der Cicerone selbst aus der Fremde, wie der Hofrat Johann Friedrich Reiffenstein, der nacheinander Johann Wolfgang von Goethe, Herder und die Herzoginmutter Anna Amalia antike Ruinen näher brachte. Ein Art sprechender Lonely Planet. Die einheimischen Ciceroni wiederum wurden zum Teil übel beleumundet. Goethes Vater warnt in seinem Buch vor falschen Ciceroni: "Es dürfte nicht unpassend sein, wenn ich hier eine Bemerkung über die Verschlagenheit des italienischen Volkes in puncto Geldverdienen anbringe. Jedermann weiß, daß das niedere Volk sehr zum Müßiggang neigt, weshalb diese Leute die unterschiedlichsten Kniffe ersinnen, um die allzu leichtgläubigen und unerfahrenen Reisenden in die Falle zu locken. So bieten sie etwa mit einer bescheidenen und unschuldigen Miene ihre Hilfe an, wenn ein Reisender ein Denkmal besichtigen will; sie überhäufen ihn dann mit allen möglichen Übertreibungen von dieser oder jener Ruine, Inschrift oder was sonst Wertschätzung genießt, und führen ihn fast gegen seinen Willen überall herum. Wenn dann die Runde beendet ist, verlangen sie ein ebenso gutes Trinkgeld, als wenn sie bestellte Ciceroni gewesen wären." Wo Reisende auftauchen, sind immer auch Bauernfänger, überall. Die Vorstellung, dass der Tourist, wo er erscheint, nur als Segen betrachtet wird und als Gast, dem es den Aufenthalt zu versüßen gilt, sorgt bis heute für Enttäuschung bei dem, der übers Ohr gehauen wurde. Zu Zeiten von Goethes Vater ließ sich dieser Ärger noch relativ ungeniert dem problematischen Charakter eines ganzen Volks zuschreiben. Das wäre heute eher unpopulär.PeopleWomit wir bei den Leuten wären, deren Bekanntschaft man im fremden Land machen kann. Karl Philipp Moritz erzählt die Anekdote, wie er und sein Cicerone in der Nähe der Averner Sees, der als Eingang zur Unterwelt betrachtet wurde, zu Mittag speisten. Als es daran ging, die Zeche zu zahlen, geriet sein Führer in einen entsetzlichen Streit mit dem Wirt, und Moritz bangte schon, dass sie mit Messern auf einander losgehen würden. Plötzlich waren aber beide wieder ruhig und freundlich und taten, als ob nicht geschehen sei. Moritz hakte nach und erhielt mit einem Lächeln zur Antwort, "das sei hier die Gewohnheit nicht anders; wenn die Rechnung gemacht würde, so müsse allemal notwendig mit dem Wirte gezankt werden, weil dieser dies schon nicht anders wisse, und er einen gewiß überteuern würde, wenn man ihn in Güte bezahlen wollte." Das Geschickte an dieser Darstellung ist, dass "der Italiener" offenbar am besten um die Merkwürdigkeit seines Charakters weiß. "Die Italiener" erscheinen in den Reisebeschreibungen zumeist wenig vorteilhaft. Nicht selten findet man mit Vorurteilen gespickte Textstellen, die in eine Art Völkerpsychologie abdriften. Ebenfalls bei Moritz liest man über die arbeitende italienische Bevölkerung: "Fatigua (Ermüdung) ist ein Ausdruck, dessen sich der geringste Tagelöhner bedient ... Was Wunder also, daß bei diesem entschiedenen Abscheu vor aller Arbeit so mancher lieber seine Hand gelähmt zur Schau trägt, als daß er sie zu nützlichen Geschäften brauchen sollte, die ihm nur Ekel und Widerwillen verursachen."Places to eatEin fremdes Land lernt man über seine Küche kennen. Entziehen kann man sich heute solchen Begegnungen, die womöglich Überraschungen parat halten, indem man zu McDonald´s oder Starbucks geht, wo alles genauso schmeckt wie bei McDonald´s oder Starbucks zu Hause. Global agierende Filialisten gab es um 1800 freilich nicht, dafür andere Möglichkeiten, der italienischen Küche aus dem Weg zu gehen. Fast jeder Deutsche, der damals Rom bereist hat, kehrte bei dem deutschen Wirt Vincenz in der Via Condotti unweit des Spanischen Platzes ein. Karl Philipp Moritz notiert: "Die Deutschen pflegen größtenteils die solidere Kost bei dem deutsche Speisewirt in der Strada Condotti vorzuziehen. Unter den italienischen Speisen ist eine Art Kohlstaude von vorzüglichem Wohlgeschmack, welche Broccoli heißt und die selbst Winckelmann bei dem geistigen Genuß der hohen Kunstschönheiten dennoch zu rühmen nicht vergessen hat. Auch am Sauerkraut findet man viel Geschmack, welcher hier Surkrut heißt, weil man im Italienischen dafür keinen Namen hat."Getting aroundWenn man so will, war der Lonely Planet des 18. Jahrhunderts das dreibändige Werk Historisch-Kritische Nachrichten von Italien von Johann Jakob Volkmann, zuerst 1770 erschienen. Goethe und viele seiner Zeitgenossen führten diesen handlichen Führer im Gepäck. Das hatte zur Folge, dass die Route der Reisenden fast immer identisch war: Norditalien, dann über Loreto oder Florenz nach Rom und zum Abschluss vielleicht noch ein Abstecher nach Neapel. Wichtige Monumente, vorrangig in Süditalien (das als unsicher galt), kommen in den Beschreibungen nicht vor. Die weltberühmte Klosterabtei Montecassino oder die Stauferburg Castel del Monte wurden nie besucht. Die vermeintlichen Individualreisenden bewegten sich auf ausgetretenen Pfaden. Goethe durchbrach dieses Wegenetz und fuhr mit dem Boot weiter bis nach Sizilien. Johann Gottfried Seume, der wohl als Individualreisender zu betrachten ist, da er seinen Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 größtenteils zu Fuß absolvierte und so nicht nur der Kunstwerke, sondern auch der einheimischen Bevölkerung ansichtig wurde, gelangte ebenfalls bis nach Sizilien.Einen gewissen Schutz vor einem Zuviel an Land und Leuten versprachen dagegen Vetturini, Pferdekutscher. Sie sind verlässliche Größe in den Reiseberichten, vermieteten sie doch nicht nur ihre Wagen an die deutschen Touristen, sondern kümmerten sich um Bereiche, für die es heute den Reiseleiter gibt. Karl Philipp Moritz stellt die Vorteile dieser Reiseform deutlich heraus: "Man braucht alsdann für nichts zu sorgen, sondern wird zu Tische gerufen, wenn es Zeit ist, und wenn man abfährt, macht der Fuhrmann alles richtig, wozu auch das Schlafgeld mit gehört. Man ist auf diese Weise sicher, immer besser bewirtet zu werden, und viel wohlfeiler wegzukommen, als wenn man sich selber seine Mahlzeiten bestellen, und mit den Wirten akkordieren will."Dangers and AnnoyancesZufriedene Reisende kommen wieder. Und verschreckte Reisende wählen die Kutsche. Selbst Seume, der ja eigentlich gewillt war, per pedes zu marschieren, fuhr ab und an ein Stück des Weges. Der Grund: alle Bekanntschaften rieten ihm vom Spaziergang ab, ob des räuberischen Unwesens, das vielerorts getrieben werde. Die Vetturini verbreiteten solche Meldungen praktischerweise oft selbst, damit sich der Reisende für die "sicherere" Kutschen-Variante entschied. Nur vom Himmel schienen die Warnungen allerdings nicht gefallen zu sein: Auf seinem Marsch begegnete der vorsichtige Seume mehrfach so genannten Briganten, Straßenräubern. Nimmt man seine Schilderungen für bare Münze, verlor er einmal, zwischen Rom und Neapel, fast sein Leben. Vier bemalte und mit Dolchen bewaffnete Kerle stürzten sich auf ihn: "Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwankung Willigkeit einzuflößen. Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätiger Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre: man zerriß mir in der Anstrengung Weste und Hemd. Vermutlich wollte man mich dort im Busche gemächlich durchsuchen und ausziehen und dann mit mir tun, was man für gut finden würde. Sind die Herren sicher, so lassen sie das Opfer laufen, sind sie das nicht, so geben sie einen Schuß oder Stich, und die Toten sprechen nicht. In diesem kritischen Momente, denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute, hörte man den Wagen von oben herabrollen und auch Stimmen von unten: sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den Wald." Wie dramatisch der Vorfall tatsächlich war, bleibt offen. Von einem Groll darüber kann man bei Seume, dessen Buch voll Feudalismuskritik und Sympathie für die armen Bauern ist, jedenfalls nichts finden: Zu genau hat er die Lebensbedingungen, unter denen die mittellose Bevölkerung darbt, während seines Spazierganges erfahren.