Wer über die Zukunft des Kapitalismus redet, könnte sich zur Abwechselung ja einmal mit Kenntnissen seiner Geschichte ausstatten. Zunächst aber wollen wir definieren, was das ist: Kapitalismus. Nämlich: Kapitalismus ist die Funktionsweise von Gesellschaften, die auf der Erzielung von Gewinn und der Vermehrung der hierfür eingesetzten Mittel durch die Produktion, den Kauf und Verkauf von Waren oder die Erbringung und den Verkauf von Dienstleistungen beruhen. Dabei ist eine Doppelbedeutung des Wortes "Kapitalismus" zu bedenken: Produktionsweise oder Gesellschaft.
Weil es in diesen Monaten nicht besonders genierlich ist, Marx zu erwähnen, darf an eine berühmte, auf ihn zurückgehende Buchstabenfolge erinnert werden: G - W - G´. Geld (G) wird dadurch
d dadurch zu Kapital, dass es für Waren (W) ausgegeben wird, für deren Verkauf durch die Erzielung von Gewinn mehr Geld (G´) hereinkommt.Dieser Vorgang findet sich schon in der Antike oder im Feudalismus. Auch dort gab es Geld, Waren und Gewinn, somit Kapital und "Kapitalismus" als Einzelverhalten. Aber es waren Minderheitsphänomene. Kapitalismus als Produktionsweise war in diese nichtkapitalistischen Gesellschaften gleichsam eingelagert. Als er schließlich aus dieser subalternen Stellung hervortrat und entweder aktuell oder der Tendenz nach das Handeln aller Menschen bestimmte, wurde er zur kapitalistischen Gesellschaft. In den Worten von Marx: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform."Die "kapitalistische Produktionsweise" ist hier keine Gesellschaft - etwa eine kapitalistische - , sondern sie findet innerhalb einer Gesellschaft statt, die dadurch eine kapitalistische wird, dass diese Produktionsweise in ihr "herrscht". Solche Herrschaft zeigte sich seit Beginn der Neuzeit zunächst als Handelskapitalismus. Ihre Dynamik beruht auf der Akkumulation: Hinzufügung eines Teils des Profits zu dem bereits bestehenden Kapital, das so vermehrt wird. Damit macht der Kapitalismus seine eigene Geschichte. Sie wird nicht nur durch die zyklischen Auf- und Abschwünge, sondern auch durch besonders tiefe und lang dauernde Einbrüche gegliedert. Diese Krisen ziehen jeweils einen Gestaltwandel des Kapitalismus nach sich. Er ist hinterher nicht mehr derselbe.Nicht eine Krise, sondern eine technische Revolution führte um 1800 zum Übergang vom Handelskapitalismus zum Industriekapitalismus. 1873, nach Platzen einer Börsenblase vor allem für Eisenbahn-Aktien, geriet er in Mitteleuropa in die so genannte Große Depression, die fast zwanzig Jahre andauerte und ihn gründlich umkrempelte. Aus dem Manchester-Kapitalismus der freien Konkurrenz wurde der Organisierte Kapitalismus: Kartelle, Monopole, Schutzzölle, Sozialgesetzgebung, überhaupt staatliche Regulierungen.Schon die Zeitgenossen sprachen vom "Ende des Liberalismus". Dieser Übergang war begleitet vom Erstarken sozialistischer Massenbewegungen, die von außen auf die Rekonstruktion einwirkten und die Zukunft für sich offen sahen.Die Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaft mündete in die Konkurrenz und schließlich Konfrontation der sich einerseits nach außen abschottenden, andererseits imperialistisch expandierenden Nationalstaaten. Zur ökonomischen Potenz des Staats gehörte seine Stellung als Auftraggeber im Wettrüsten. Insofern besteht ein Zusammenhang zwischen dem Übergang zum Organisierten Kapitalismus ab 1873 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Er endete mit einer schweren Legitimationskrise dieser Produktionsweise und Gesellschaftsordnung. Für viele Zeitgenossen schien ihr Ende nahe, zumal in Russland eine sozialistische Gegenwelt zu entstehen schien. Unberührt von dieser Herausforderung aber blieb das neue Zentrum der kapitalistischen Welt: die USA.Die Vereinigten Staaten waren zunächst - in den Goldenen Zwanzigern - ein Vorbild des Marktradikalismus und wurden zum Ausgangspunkt der nächsten - der zweiten - Großen Depression: 1929 bis 1933. Wieder begann es mit einem Börsenkrach, und erneut wurde das "Ende des Liberalismus" ausgerufen, und zwar in zwei Varianten: als sozialistische Perspektive in der Agitation der Arbeiterbewegung oder als innerkapitalistische Reform. Für letztere, die auf die Stärkung ökonomischer Staatstätigkeit und der Massenkaufkraft setzte, fand sich nun sogar eine Wirtschaftstheorie: die Lehre von John Maynard Keynes. Ob diese tatsächlich jene praktische Wirkung hatte, die man ihr seither zuschrieb, ist zweifelhaft.Roosevelts New Deal und Hitlers Wirtschaftspolitik hatten schon zwei Jahre vor dem Erscheinen von Keynes´ Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes eingesetzt. Auch ist denkbar, dass der neue Aufschwung ab 1933 nicht Ergebnis staatlicher Intervention, sondern einer von dieser unabhängigen zyklischen Erholung ist. Erst mit der Rüstungswirtschaft des Nationalsozialismus und mit den Vorbereitungen der USA auf den Kriegseintritt verschwand die Arbeitslosigkeit. Militarisierung der Wirtschaft erwies sich als die effizienteste Variante des Keynesianismus.Auch für das so genannte Goldene Zeitalter des Kapitalismus (1945 - 1973) wird ein Zusammenhang zwischen dieser Doktrin und der realen Entwicklung mehr behauptet als bewiesen. Denkbar ist auch, dass der lange Aufschwung sich einer Sonderkonstellation verdankte, die der ungarische Theoretiker Ferenc Jánossy 1966 als "Rekonstruktionsperiode" bezeichnete.Er ging davon aus, dass seit der Industriellen Revolution alle Wirtschaften, die auf dieser beruhen, einem langfristigen Wachstumstrend folgen. Er könne durch Kriege und tiefe Krisen unterbrochen werden. Rückstände und Zerstörungen - wie sie 1929 und 1945 eintraten - müssten anschließend kompensiert werden. Dies führe zu einem überdurchschnittlichen Wachstum, das sich auch nach dem Erreichen des alten Niveaus noch einige Zeit fortsetze. Damit wäre die Keynessche Lehre eine Ideologie, die gut zum "Goldenen Zeitalter" passte, deren Anwendung dieses aber keineswegs verursachte.Die schwere weltweite Wirtschaftskrise von 1975 ließe sich dann dadurch erklären, dass die Aufholjagd der Rekonstruktionsperiode beendet war. Der Übergang vom Keynesianismus zu Monetarismus und Angebotspolitik sollte dann auch nicht als ein verhängnisvoller wirtschaftspolitischer Willensakt verstanden werden, sondern als eine von mehreren möglichen, aber dann als einzige realisierte Folgerung aus einer neuen Situation. Die Rezession von 1975 wurde dadurch überspielt, dass das Kapital gleichsam arbeitsscheu wurde: zu erheblichen Teilen verzog es sich aus der Produktion in die Zirkulation und trug zur Aufblähung des Finanzsektors bei. Dadurch ließen sich sogar hohe Wachstumsraten erzielen, allerdings schließlich unter Bildung einer Blase, die jetzt geplatzt ist. Die aktuelle Immobilien-, Kredit- und Wirtschaftskrise ist - so gesehen - nichts anderes als die Wiederaufnahme einer anderen Krise: derjenigen von 1975, die immerhin drei Jahrzehnte lang hatte hinwegspekuliert werden können.Die Entwicklung des Kapitalismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich so als eine Krisengeschichte schreiben, wobei auf jeden tiefen Einbruch ein Wechsel des Wirtschaftsstils folgt. Wie könnte dieser aktuell aussehen?In einem Punkt unterscheidet sich der Einbruch seit 2007 von den Depressionen 1873 ff. und 1929 ff.: Auf ihn antwortet keine sozialistische Massenbewegung mehr. Vielleicht ist das sogar Ergebnis eines historischen Lernprozesses, in dem man beherzigte, was Marx bereits 1858 in seiner Arbeit Zur Kritik der Politischen Ökonomie festgestellt hat. Damals liquidierte er seine voreiligen Hoffnungen auf etwaige revolutionäre Konsequenzen der Wirtschaftskrise von 1857 und befand: "Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind."Das ist hart. Denn von den "materiellen Existenzbedingungen" einer neuen Gesellschaft ist zumindest dann aktuell nichts zu erkennen, wenn man darunter nicht nur eine fortgeschrittene Technologie versteht.Weil das so ist, sind gegenwärtig nicht Zusammenbruchs-, sondern allerhand "Einhegungs"-Vorstellungen beliebt. Sie laufen auf den Vorschlag hinaus, den Kapitalismus wieder von einer herrschenden Gesellschaftsordnung zu einer dienenden Produktionsweise herabzustufen. Ob er sich das gefallen lässt, ist die eine, - ob es unbedingt eine Wendung zum Besseren wäre, ist die andere Frage.Einordnung des Kapitalismus in ihm scheinbar übergeordnete politische Ziele ist in der gründlichsten Art und Weise in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts praktiziert worden. Es könnte geschehen, dass die gegenwärtigen Versuche der Krisenbewältigung zum Waterloo des Keynesianismus werden. Die Mehrzahl der Regierungen ist offenbar - trotz des Widerstrebens der Kanzlerin Merkel - entschlossen, die Fehler von Edgar Hoover und Heinrich Brüning nicht zu wiederholen. Sie sind zu keynesianischen Maßnahmen bereit. Wenn diese nicht verfangen, mag dies eine aufklärerische Wirkung haben, nämlich: wieder eine Illusion weniger. Am Ende könnten die probaten verhängnisvollen Großprojekte vergangener Zeiten stehen, nämlich militärische. Trübe Aussichten? Ja. Ein Schelm gibt mehr, als er hat.Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und Kommunalpolitiker in Marburg. Von 1972 bis 2004 war er Professor für Politikwissenschaft an der dortigen Universität.