Die Digitalisierung der Welt ist nicht rückgängig zu machen. Sie frisst ihre Erzeuger, indem sie das Urheberrecht durch die Omnipräsenz geistigen Eigentums unterhölt
Vor einigen Jahren sah ich die Arbeitsräume Arno Schmidts in Bargfeld. Ich kannte Fotos und Berichte darüber, dennoch war ich beeindruckt: Da hatte sich ein Schriftsteller, der lange an der Armutsgrenze lebte, eine Art Geisteshöhle gebaut. Die kleinen Räume sind vollgestellt mit Nachschlagewerken, historischen Ausgaben und seltenen Texten. Für seine sehr speziellen Interessen und für seine literarischen Reisen in entlegene Geistesgebiete hatte Schmidt sich das Rüstzeug besorgt. Ein Handgriff, und die Quellen waren zur Stelle, um in Tausende von Exzerpten verwandelt zu werden, verwahrt in den berühmten Zettelkästen, einer Zwischenstation auf dem Weg zu den großen Romanen.
Ich weiß, Schmidts Manier der unbedingten Quellentreue und sein bi
nd sein bisweilen besserwisserisches Beharren auf Faktenrichtigkeit in (nicht nur) seiner Dichtung kann einen regelrecht abstoßen. Diese bürokratische Überaufgeräumtheit atmet den unangenehmen Geist der „Sachbearbeitung“. Tatsächlich gehörte ich immer zu denen, die Schmidts Literatur vor seinen Zettelkästen in Schutz nehmen wollten. Ich ahnte aber auch, dass Schmidt sich gegen eine Überbetonung „freier Kreativität“ auf seine polternde Art und Weise verwahrt hätte. Denn so wollte er sich sehen: ein gewissenhafter Arbeiter am Geist, der Geschichte und der Tradition verpflichtet.Keine Ausrede für Ignoranz Tatsächlich empfand ich mein eigenes Arbeitszimmer, verglichen mit der Schmidtschen Geisteshöhle, immer als ein wenig unernst. Wo war die „Stirn-Wand“, an der sich in Buchform versammelte, was seine Beständigkeit bewiesen hatte? Warum bloß gelang es mir nicht, den Kanon um mich zu versammeln? Warum scheute ich immer wieder die Ausgaben für seriöse Nachschlagewerke? Nicht mal einen aktuellen Duden besaß ich! Das Arbeitszimmer eines Schriftstellers, so dachte ich, muss doch anders aussehen. Schließlich ist es die materialisierte Form des Arbeitsbewusstseins. Doch meinen Konflikt löste ich nicht; stattdessen lief ich wegen jeder Kleinigkeit in die Bibliothek und machte Unmengen von Fotokopien, die in Kisten vergilbten.Doch dann kam das Internet. Seit jetzt dreizehn Jahren bin ich ein intensiver Nutzer, um es freundlich zu formulieren. Und mit dem Zugang zum Internet hat sich mein Arbeitszimmer in einen Vorraum des Weltwissens verwandelt, ohne dass es auch nur im Geringsten so aussieht. Die paar Nachschlagewerke, die ich immer schon hatte, habe ich aus Nostalgie nicht entfernt. Sie erinnern mich jetzt daran, wie nachlässig ich mich früher verhalten habe. Denn heute ist es ja nur ein Klick von jeder Frage zu ihrer Antwort.Für den Schmidtschen Griff zum Handbuch gibt es heute einen Namen: Google. Der Zugriff auf das Netz durch die größte Suchmaschine der Welt ist, weil so kommod, schnell kommun geworden; er hat sogar ein Verb kreiert, das sich vermutlich auch im Deutschen halten wird. Jedes Arbeitszimmer mit Internetanschluss, ja jedes frei flottierende Notebook mit Wireless-LAN-Anschluss lässt die Schmidtsche Geisteshöhle nur noch klein und ärmlich erscheinen. Via Internet und angeleitet von Google bin ich mit dem Weltwissen verbunden. Daher gibt es auch nicht die kleinste Ausrede mehr dafür, irgendetwas zu ignorieren oder irgendetwas ungeprüft niederzuschreiben. Ich wandle auf Fußnoten. So weit, so schön. Und ganz ohne Emphase: Die Existenz von Netz und Suchmaschine hat das Schreiben verändert, das Denken sowieso. Allein die Vorstellung von der permanenten Anwesenheit des Weltwissens liefert so etwas wie die Totalrealisation der Europäischen Aufklärung. Die Absicht der Enzyklopädisten ist erreicht: Was einer weiß, kann jeder wissen. Und was man wissen kann, das muss man auch wissen.Doch es gibt eine dunkle Seite dieser Aufklärung! Und auf dieser dunklen Seite lebe ich in eben dem Moment, in dem ich mich im Lichte des Wissens glaube. Denn das Netz und die Suchmaschine entwickeln zwei höchst problematische Tendenzen. Die erste ist die allmähliche Aufhebung jener Strukturen, die einmal dazu dienen sollten, Richtiges von Falschem und Gutes von Schlechtem zu scheiden. So finde ich zwar in der weltweit erfolgreichen Internetenzyklopädie Wikipedia quasi alles und jeden, aber kaum einen Garanten für den Wert der Einträge. Oder: Die Methoden, nach denen Google seine Kriterien für das Finden und Präsentieren von gesuchten Informationen bestimmt, kann ich als Laie nicht durchschauen. Noch viel weniger weiß ich über die Anstrengungen von Website-Betreibern, ihre Angebote so zu gestalten, dass sie bei Google höher rangieren. So suggeriert mir das Netz zwar einen unmittelbaren Zugriff auf das Weltwissen; doch tatsächlich führen mich die Suchmaschinen wie ein hilfloses Kind durch das überwältigende Angebot.Ahnung von der WeiteDie zweite Tendenz ist die einer totalen Digitalisierung. Das Netz ist bestrebt, alles netzförmig zu machen; und dabei entwickelt es immer größere Kräfte. Es begann mit den Texten, die zu Dateien und damit zu Platz sparenden und äußerst mobilen Einheiten wurden. Allerdings wurden sie auch zum Freiwild. Urheberschaft, Authentizität und Integrität eines Textes sind im Netz nicht zu ermitteln. Hier ist – im Gegensatz zum Buch, prinzipiell nichts mit sich identisch. Schlimmer noch beim Foto. Seitdem auch Fotos digitale Einheiten sind, sind sie prinzipiell offen für alle Formen der Bearbeitung. Nicht die Fotografen oder die Kameras, sondern die Bildbearbeitungsprogramme zeigen mir die Welt. Und wer gerät nicht selbst in Versuchung, seine Urlaubsfotos vor dem Speichern durch ein Optimierungsprogramm laufen zu lassen? Dabei verfolgt diese Totaldigitalisierung der Welt das Ziel, alles und jedes warenförmig zu machen! Das Netz ist die Göttin des globalen Kapitalismus. Dass Google jetzt daran gehen will, den Buchbestand der Welt zu digitalisieren, mag besonderes Aufsehen erregen und auch Widerspruch hervorrufen – es ist aber nur eine weitere Stufe dieser Verwandlung der Welt in die Ware, die mit der allgemeinen Digitalisierung begonnen hat.Wir erleben momentan eine Phase, in der weltweit die negativen Begleiterscheinungen der letzten großen ökonomischen Wandlungen zu Tage treten: Der globale Kapitalismus hat sich überhoben, wenn nicht gar verrückt gespielt. Die Digitalisierung, die ihn erst ermöglichte, frisst ihre Erzeuger, indem sie das Urheberrecht durch die Omnipräsenz geistigen Eigentums unterhöhlt. Und was tun? Sammelklagen beitreten oder von Sammelklagen Abstand nehmen? Ich kann leider zu nichts kurzfristig Wirksamem raten. Sondern nur dazu, alles als Teil eines Ganzen zu sehen. Und das heißt vor allem: sich selbst als treibende Kraft einer Entwicklung zu verstehen, deren negative Auswirkungen wir jetzt erfahren. Denn sicher ist, dass niemand mehr zurück zur Schreibmaschine oder in die Schmidtsche Geisteshöhle will. Wir haben qua Netz eine Ahnung davon bekommen, wie gewaltig groß, ja unabsehbar die Welt des Wissens tatsächlich ist. Eine „Rückbescheidung“ auf ein Dutzend Handbücher ist ausgeschlossen. Die Digitalisierung der Welt ist ein Vorgang, der so wenig umkehrbar ist wie das Aussterben der Saurier.Was wir aber tun können: Netz und Suchmaschinen nicht länger bloß als Werkzeuge, sondern als gestaltende Subjekte der Bewusstseinsgegenwart zu begreifen. Es geht um ein Internet der Zukunft, das ebenso wie unser Wirtschaftssystem nicht an der Funktionalität oder am Profit, sondern daran zu messen ist, inwiefern es den Aufbau einer humanen Gesellschaft befördert. Das Netz ist momentan noch die Göttin des Kapitalismus – aber wie er muss diese (notfalls mit Macht!) darauf verpflichtet werden, eine Dienerin der Menschheit zu sein.