Der Freitag: Das Ballhaus Naunynstraße macht erklärtermaßen postmigrantisches Theater. Theater hat der eine oder andere schon mal gehört, bei dem Begriff postmigrantisch ist das vielleicht anders.
Shermin Langhoff: Postmigranten, das sind die neuen Deutschen. Wir konnten uns schlecht Neues Deutsches Theater nennen. Da hätten wir in der dritten Reihe etwas zu hoch gegriffen, und ich weiß nicht, ob jeder Hochkulturkollege das mit dem nötigen Humor gesehen hätte. Es geht um ein Spiel mit Begrifflichkeiten. Wir setzen uns in einen Diskurs, den es gibt; das Wort „postmigrantisch“ tauchte in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft das erste Mal auf, als vor zehn Jahren Feridun Zaimoglu und andere eingeladen waren zu einem Symposion. Mir s
n Jahren Feridun Zaimoglu und andere eingeladen waren zu einem Symposion. Mir scheint, dass postmigrantisch in der Beschreibung der Produzenten und Rezipienten am Ballhaus eine richtige Beschreibung ist. Sofern man überhaupt etwas richtig beschreiben kann.Jede Beschreibung öffnet Schubladen.Natürlich macht postmigrantisch eine Kategorie auf. Die stellt aber zumindest den Blick in Frage, den sicher viele auf das Haus hatten, bevor es eröffnete, und vielleicht auch noch haben. Einen soziokulturellen, paternalistischen, wohlwollenden Blick: Ist ja nett, was die so machen! Da steuert ein Begriff wie postmigrantisch gegen. Außerdem: Das ist ein Kulturbetrieb, und in einer Stadt wie Berlin, in der viel produziert wird, kommt es darauf an ein Label zu haben.Ich kenne Leute, denen das zu wissenschaftlich, korrekt oder was auch immer klingt.Die Kategorien, die wir aufmachen, sind schon progressiver als die real existierenden. Das ist eben kein Migrantentheater, was wie Migrantenstadl klingt. Es gibt ein Sprachbewusstsein, Assoziationen, es gibt aber auch ein Empowerment – wir nehmen uns die Definitionsmacht. Die Wissenschaft in ihren Diskursen ernährt sich von dieser Kulturpraxis, mich erreicht jeden Tag eine Mail von Studenten, die in dem Bereich schreiben wollen. Es macht Sinn, einen Schritt weiterzugehen, und „postmigrantisch“ ist ein Schritt weiter in einem Denken, in einem Raum, den man sich dazu vorstellen kann – das sind die Geschichten derer, die Migration selbst nicht erlebt haben, aber in deren Leben der Perspektivwechsel eine Rolle spielt. Ich habe keine Angst, Begriffe zu nehmen, die noch nicht bekannt sind und auf die gegebenenfalls auch so reagiert wird, wie Sie es beschreiben. So funktioniert Kommunikation.Mit Begriffen haben Sie ja auch bei einer Gastspielreise in die Türkei gespielt.Unser Programm hieß Almanci, Deutschländer. In der Türkei ist das negativ gemeint: der Anatolier, der über Istanbul nach Deutschland gegangen ist, dort die Toiletten der Deutschen putzen musste, aber in der Türkei mit seinem Mercedes angibt.Das klingt nach einigen Rückkopplungseffekten.Wir nennen es Migration hoch 2 – Migranten, die die künstlerische Aufarbeitung der Migration schaffen (lacht). Auf der einen Seite hat Almanci provoziert. In den Kontexten, in denen es wahrgenommen wurde, durch Inszenierungen wie Besuch oder Jenseits hat es aber mehr bewegt, als wir erwartet haben. Ich habe noch nie so viele Fernsehinterviews gegeben, wir waren in zehn Sendungen eingeladen. Das war überwältigend.Wurden Stücke anders gesehen?Ja, den Geschichten wurden neue Perspektiven abgewonnen, sie gewannen an Brisanz. Bei der Inszenierung Jenseits. Bist du schwul oder Türke? muss man sagen, dass die Lage der Schwulen in der Türkei nicht rosig ist. Es gibt juristische Konsequenzen, die Mehrheitsgesellschaft sieht Homosexualität als Krankheit an. In Jenseits geht es darum, dass der deutsche Mainstream die zwei Identitäten nicht zusammen denken kann. Für ihn ist der türkische Mann ein Minus: Macho, kriminell, zumindest gewalttätig. Schwulsein ist auch ein Minus, obwohl mittlerweile gesellschaftsfähig. Ein schwuler Türke ist aber ein Plus: Der hat es ja geschafft, trotz seiner Türkischseins schwul zu werden, also muss er besonders empfänglich sein zur Integration! Das war der Ausgangspunkt des Stücks hier. In Istanbul betraf es eine nationale Frage, die es hier nicht betrifft, weil die Nation nicht gegenwärtig ist. In der Türkei ist sie das – in der politischen Rede wie in einem oft sehr emotional gelebten Nationalismus.Wie hat das Publikum reagiert?Eine andere, „positive“ Seite dieses starken Nationalgefühls hat sich im Stolz über die darstellerischen Leistungen geäußert: Da kommen unsere Nachfahren und spielen hier so gut Theater. Bei Jenseits gab es ein gemischtes Publikum, viele Schwule, Fachpublikum, politisch Aktive, die mochten das sehr. Ein Schriftsteller wie Murathan Mungan, den wir alle sehr schätzen, der selbst auch gay ist, dachte, wir haben bei Jenseits aus seiner Biografie geschöpft. Er kommt aus Mardin, im Südosten der Türkei, und einer der Darsteller in Jenseits erzählt, dass er so gerne in Mardin mit seinem Freund bei seiner Familie auftauchen und einen Tee trinken würde. Mungan dachte, das sei seine Geschichte. Im besten Fall kann Theater eine Identitätsmaschine sein.Das macht es für die Politik interessant. Im Vorwort zum Istanbul-Gastspielkatalog grüßt Frank-Walter Steinmeier.Keinerlei Vereinahmungen – so bin ich angetreten. Bei einem Modellprojekt wie dem unserem, muss klar sein, dass alle Politiker das unterstützen. Kürzlich kam sogar eine CDU-Gruppe aus Neukölln, die sich Ferienlager. Die Dritte Generation angeguckt hat. In Klassentreffen. Die Zweite Ge- neration spielt der grüne Politiker Özcan Mutlu mit. Vor allem SPD, Grüne und die Linke sind bisher von Bezirk über Land bis Bund Sympathisantinnen des Ballhaus Naunynstraße. Und Frank-Walter Steinmeier ist für uns der Außenminister, der sich für die deutsch-türkischen Bezie- hungen interessiert und eine Ernst-Reuter-Initiative gegründet hat. Er war einer der ersten, der die kulturpolitische Idee unseres Hauses unterstützt hat. Die sind sich bewusst, dass wir kein Rahmenprogramm für Integrationspolitik machen.Kann es nicht dennoch problematisch sein, auf seine Beispielhaftigkeit reduziert zu werden?So ideologisch war ich zwischen 14 und 18. Ich habe mich entschieden, Verantwortung zu übernehmen und etwas zu erzählen. Ich glaube zwar nicht mehr an die Revolution, aber immer noch an das Leben.Zum Theater gekommen sind Sie vom Film.Anfangs fand ich es erbärmlich, wie wenig Leute man im Theater erreicht mit aufwändigen Projekten wie etwa X-Wohnungen Migration, das ich damals am Berliner HAU kuratiert habe. Was wir aber im Moment erfahren durch die Begeisterung der Zuschauer, ist, dass die Idee des Ballhaus Naunynstraße Sinn macht, 30.000 Menschen haben wir in der ersten Spielzeit mit allen Produktionen und Gastspielen erreicht. Dieses Feedback bedeutet: Es ist wichtig, was wir machen.Und wie lange?Zumindest bis 2011, danach brauchen wir eine Konzeptionsförderung, auf Dauer kann man nicht Formel 1 mit einem Trabi fahren. Und das haben wir gemacht, von den 250.000 Euro, die wir pro Jahr erfreulicherweise vom Land Berlin bekommen, hätten wir unser Programm nicht produzieren können. Ich kenne auch kein anderes Off-Theater, das in seiner ersten Spielzeit so viele Gastspiele hatte. Wir sind sehr glücklich, dass es gut läuft.Ein postmigrantisches Theater als Institution würde die deutsche Realität widerspiegeln.Das liegt nicht nur an der Mehrheitsgesellschaft. Viele kluge Menschen aus der zweiten und dritten Generation entscheiden sich für die Wirtschaft oder andere Felder. Selbst in der Politik gibt es keinen einzigen kulturpolitischen Sprecher mit Migrationshintergrund. Eine Kulturpolitik, die dafür gemacht würde, könnte neue Möglichkeiten eröffnen. Da bieten sich bislang nicht viele Zugänge, auch wenn es einen neuen Liberalismus in der Hochkultur gibt – dass Einwanderungsgesellschaft jetzt was Schickes ist. Und wenn gesagt wird, die multikulturelle Gesellschaft ist tot, es lebe die postethnische Gesellschaft, dann sagt mir unsere Realität, in der nach 60 Jahren Einwanderung noch nicht einmal ein kommunales Wahlrecht besteht, etwas anderes. Und ich arbeite in der Praxis.