Chaotisch ins Chaos der Welt einklinken – die eigensinnigen Gedichte der amerikanisch-österreichischen Lyrikerin Ann Cotten sind ein Fest des Eklektizismus
Aufgabe von Kunst heute“, so belehrte uns einst Theodor W. Adorno, „ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ In der amerikanisch-österreichischen Dichterin Ann Cotten, geboren 1982, der derzeit eigensinnigsten Aktivistin der jungen Lyrik-Szene, hat der Philosoph der Negativen Dialektik nun eine willige Vollstreckerin gefunden.
„Es ist gedacht, sich in das Chaos der Welt chaotisch einzuklinken“, teilt uns Cotten in einer Anmerkung zu ihrem neuen Projekt www.glossarattrappen.de mit. In Zusammenarbeit mit dem jungen Filmemacher und Web-Designer Nils Menrad hat die Autorin derFremdwörterbuchsonette: Gedichte">Fremdwörterbuchsonette ein anarchisches Text-Bild-Projekt ausgeheckt, das interessierte Leser in die Lage versetzt, zufallsgenerierte Wort-
rterbuchsonette ein anarchisches Text-Bild-Projekt ausgeheckt, das interessierte Leser in die Lage versetzt, zufallsgenerierte Wort-Bild-Kombinationen nach Belieben zu einem „einzigartigen Buch“ zusammenzusetzen.Die Idee vom begehbaren, interaktiven Kunstwerk ist ja uralt, seit mindestens einem halben Jahrhundert ein Lieblingsmythos aller Avantgardebewegungen. Die Environments der modernen Künstler erweiterten sich seit den frühen Sechzigern multi-medial und machten den User oder Betrachter durch Feedback-Mechanismen zum aktiven Mitarbeiter am Kunstwerk.Das fing an mit so putzigen Elektronik-Effekten wie bei der Tanzmaschine „Mimosonic“, die den Teilnehmern erlaubte, elektronische Musik zu generieren, indem sie sich vor einer Wand von Fotozellen bewegten. Hinzu kamen Pop-Art-Projekte, zum Beispiel die „Soundings“ von Robert Rauschenberg. Hier konnte der Betrachter durch Töne Lichtkontakte auslösen, die jeweils bestimmte Teile der Komposition aufleuchten ließen.Ständig neue TexteNun demonstriert uns Ann Cotten mit einem von ihr produzierten Set von Textfragmenten, Fotografien und Zeichnungen, was ein interaktives Sprach-Bild-Kunstwerk leisten könnte. Sie hat über 500 kurze Denkbilder, Begriffs-Geschichten und Theorie-Anekdoten als Grundstock für ihre „Glossarattrappen“ verfasst und dazu über 600 Fotografien und 80 Zeichnungen in eine Datenbank eingefügt. Die Einträge sind nicht sakrosankt und ewig gültig, sondern werden je nach Notwendigkeit umgewandelt oder auch gelöscht, es kommen ständig neue Texte hinzu.Trotz dieses immensen Text-Floatings hofft die Erfinderin der „Glossarattrappen“ immer auch auf den „perfekten Satz“, der „mit anderen Resultaten und Destillaten bis zur totalen Explosivität interagieren“ soll. Interessierte Nutzer können sich nun diese Text-Bild-Gewebe nach eigenem Gusto kombinieren. Als technischer Realisator der individuellen Glossarien agiert dabei der Ausnahme-Verlag, der das jeweilige Buch-Unikat druckt und für 20 Euro zustellt (www.ausnahmeverlag.de).Die Texte, die Cotten zu Begriffen wie „Arbeit“, „Expansion“ , „Brainmap“, „kubital“, „Logorrhoe“ oder auch „Reform (Halbschlaf)“ geschrieben hat, sind – vorsichtig gesprochen – sehr disparat. Sie folgen einer radikal subjektivistischen Assoziationslogik, die poetische Sequenzen mit „Romanen in Pillenform“ (Giorgio Manganelli) und verwegenen Reflexionen kreuzt. In dieses Glossarium werden ständig neue semantische Minimaleinheiten implementiert, die unvorhersehbare Richtungen einschlagen. Hier regiert eine literarische Sprunghaftigkeit, die immer neue Reizkonstellationen ausprobiert. Etwa beim Begriff Expansion: „Vom Unverbliebensein im Schlaf zur Weltherrschaft in den morgendlichen Dehnübungen ist es nur ein Katzensprung, welcher als Sinn der Tasse die Welt auszumessen in der genauen Lage ist.“Erkenne die LageSo geht es weiter über Stock und Stein und nur eine hellwache Aufmerksamkeit vermag der wilden Dichterin, die 2008 mit dem Clemens-Brentano-Förderpreis ausgezeichnet wurde, in ihren „Glossarattrappen“ zu folgen. Erkenne die Lage? Die alte Frage Gottfried Benns wird mit der ureigenen Cotten’schen Lust an der Sabotage dekonstruiert: „Um welche Lage handelt es sich da? Ich bin Sahne, ihr seid Bisquit! Ich liebe keinen von uns beiden, aber dafür gibt es den Kommunismus.“ So mancher Glossar-Eintrag ist der Intensität und mystischen Kraft der Fotografien eindeutig unterlegen. Es sind diese Fotografien mit ihrem sezierenden Blick auf menschenleere Landschaften und hochkomplexe Strukturgewebe, die am meisten beeindrucken. „Aber Kunst ist immer ausweichlich, man braucht nur zum nächsten Bild weiterzuscheitern.“ Wohl wahr. Die Risikofreude, beim Sprung zum nächsten Satz und zur nächsten Assoziation nicht nur „weiterzuschreiten“, sondern eben auch „weiterzuscheitern“, macht den Reiz dieses Unternehmens aus. Bei aller Cotten´schen Chaotik werden hier vielleicht die Umrisse einer nicht-linearen Literatur der Zukunft sichtbar: offen in der Form, globalisiert im Netz, nach allen Richtungen kombinierbar, ein Fest des Eklektizismus.