In seinem Heimatland gilt er seit Jahrzehnten als literarischer Solitär: Kjell Askildsen, der große alte Mann der norwegischen Literatur. Seine streng minimalistischen, mal an die Stories des Amerikaners Raymond Carver, mal an Becketts Kurzprosa erinnernden Erzählungen sind kleine, bisweilen irritierend lakonische Meisterstücke klassisch-realistischen Erzählens. In ihren besten Momenten gelingt es Askildsen darin, in einem einzigen Augenblick ein ganzes Leben zu bannen.
Bereits 1992 war unter dem Titel Eine weite, leere Landschaft eine Auswahl aus den Geschichten des Norwegers auf deutsch erschienen; sieben, von dem Mankell-Übersetzer Wolfgang Butt übertragene Geschichten, die Lust machten, auf mehr. Doch es dauerte weitere siebzehn Jahre, bis man einen ne
e, bis man einen neuen Anlauf wagte, Askildsen hierzulande zu etablieren. Doch der hat es in sich!„Wenn ich den allerersten Satz einer Geschichte hinschreibe“, so der 1929 im norwegischen Mandal Geborene über seine Arbeitsweise, „weiß ich noch nichts über meine Figuren; nicht, was sie antreibt und wer sie sind. Im Grunde weiß ich nicht mehr, als wenn der Leser das Buch aufschlägt und den ersten Satz liest.“ Und womöglich liegt genau darin der besondere Reiz von Askildsens Geschichten: dass er seine Leser regelmäßig zu scheinbar unmittelbaren Zeugen dessen macht, was sich im Rahmen seiner minimalistische Snapshots ereignet, und ihnen damit die Rolle des stummen Richters zuspielt.Ehepaare, die sich seit Langem nichts mehr zu sagen haben und einander weiterhin ebenso hilflos wie verbittert umkreisen; Kinder, die sich auch im fortgeschrittenen Alter noch nicht von ihren Eltern gelöst haben – und im Stillen darüber verzweifelt sind; Geschwister, die einander belauern und hoffen, den verhassten Rivalen wenigstens zu überleben: das sind die Protagonisten, um die Askildsen seine kleinen, nicht selten eisig bitteren Endspiele arrangiert.Und stets sind es so genannte „einfache“ Leute, von denen er erzählt; Wesen, deren Leben stets anders verläuft, als sie es sich vorgestellt haben: Vereinsamte, aus ihren Ehen oder Familien Herausgesprengte und solche, die den Schmerz der Einsamkeit dem noch größeren eines möglichen gemeinsamen Scheiterns vorgezogen haben. Das Versagen der Kommunikation, das Scheitern geschwisterlicher Beziehungen, der Ehe und der Freundschaft wird in sämtlichen Geschichten des soeben unter dem Titel Ein schöner Ort erschienenen Bandes stets – ohne dass es je explizit ausgesprochen würde – unter den oftmals scheinbar banalen Dialogen und den realistischen Schilderungen langsam sichtbar.An der GrenzeDabei schafft Askildens präzise, bewusst kunstlose, lakonische Sprache eine Art Vakuum hinter den Worten, in dessen Sog seine Figuren mit ihrer ganzen Wirklichkeit geraten, für die sie selbst keine Sprache haben. Wenn sie dennoch versuchen, sich zu artikulieren, geraten sie meist schnell an die Grenze des Sagbaren.Und so flüchten sich seine Figuren lieber in Plattitüden, statt ihrer eigenen Unzulänglichkeit ins Auge zu sehen. „Die Zeiten ändern sich. Man muß seine Uhr stellen. Um nicht enttäuscht zu werden, meine ich“, hält eine Figur der anderen in dem Stück „Ich bin nicht so, ich bin nicht so“ stellvertretend entgegen.Entrollt wird darin die Geschichte eines Mannes, der beim Besuch seiner Schwester in deren Treppenhaus auf einen Mann trifft, der ihn in einen zunächst scheinbar belanglosen Dialog verstrickt. Bis der Erzähler dem Fremden wenig später, nachdem seine Schwester jäh verstorben ist, ein weiteres Mal in deren Haus begegnet – und sich kurz darauf sogar auf einen Besuch in dessen Wohnung einlässt.Bis er sich in der plötzlichen Nähe des anderen, einem verurteilten Mörder, der seine Strafe abgesessen hat, „immer unwohler“ zu fühlen beginnt. „Und als er dann auch noch anfing, über Liebe zu reden, beschloss ich, den Besuch zu beenden .... Er half mir in den Mantel, dann gaben wir einander die Hand. Ich ging, fest entschlossen, nie wieder einen Fuß in die Wohnung meiner Schwester zu setzen.“Und wenn der Chronist der Geschichte Elisabeth gegen Ende der Episode bedauernd feststellt, „Ich hätte nicht kommen sollen, ich hätte daran denken sollen, wie wenig ich mit Daniel gemeinsam hatte“, so findet sich in dieser Wendung stellvertretend jene Vergeblichkeit beschrieben, die sämtlichen der in dem Band versammelten Erzählungen mehr oder weniger direkt ihr Thema vorgibt: die schiere Unmöglichkeit gelungenem Mit-und Nebeneinanders.Papierschnipsel im WindSo lastet auf vielen der vorliegenden Geschichten eine seltsame Schwere. Rätselhaft und oft düster ist die Atmosphäre, in welcher die Momente unerwarteten Glücks umso heller leuchten. Und wenn der Ich-Erzähler der vielleicht besten Geschichte des Bandes: Alles wie vorher aufs Tiefste gedemütigt miterleben muss, wie sich seine Gefährtin ungeniert einem X-Beliebigen an den Hals wirft, bloß um sich ihrer Wirkung als Frau zu versichern, so vermögen ihn auch die sexuellen Entschädigungen, die ihm diese dafür gewährt, nicht darüber hinwegtrösten, dass er auf verlorenem Posten agiert. „Er fühlte sich leer und traurig. Sie lag neben ihm und spielte mit seinen Haaren. ,Jetzt ist doch alles wie vorher, oder?‘, fragte sie. Er dachte nach. ,Doch, ja‘, sagte er.“Der Vater, der nach Jahren des Schweigens seinen ihm fremd gewordenen Sohn besucht oder der Mann, der, eines Verbrechens beschuldigt, eine Art Selbstverteidigung beginnt: Askildens Figuren kämpfen allesamt um einen aufrechten Gang. Doch das Schicksal treibt sie durchs Leben wie Papierschnipsel im Wind. Denn zu tief ist die Kluft zwischen erklärter Absicht und unbewusstem Antrieb.Und genau hier setzen Askildsens Sätze, die er wie Sonden ins Innerste seine Figuren senkt, an: in der bisweilen schmerzhaft genauen Beschreibung von Zuständen, die mehr sagen als jedes Wort. Das Resultat sind kleine, souverän erzählte Geschichten, – verdichtet zu faszinierenden Studien heutigen Lebens am Rand, die mal an die geschliffene Novellistik eines Andre Dubus erinnern, mal an die lakonische Traurigkeit eines Emmanuel Bove.Kurz: Hier präsentiert sich ein Meister der Kleinen Form, der moderne Klassiker, der einmal von sich sagte: „Ich vergleiche mich gerne mit einem Sportfischer, und wenn am Ende der Leser wie eine Forelle an Land liegt, ein bisschen zappelt und wenn es ihm auch ein wenig wehtut, dann habe ich mein Ziel erreicht“.