Wie in einem Krimi verdächtigt ein Kreativer den anderen, die FDP bei der Bundestagswahl gewählt zu haben. Ein Besuch im Grill Royal, dem angeblichen Ort der Bewegung
Hermann Otto Solms sitzt am Rand. An einem kleinen Tischchen, direkt in der Nähe der Küche, so dass Igor, der Empfangs- und Platzzuweisungsmeister des Grill Royal fast ein bisschen ärgerlich wird, als man fragt, warum Solms denn einen solchen Platz abbekommen habe, an dem er am Ende des Tages womöglich Küchengerüche in der Kleidung trägt. „Bei uns gibt es keine schlechten Plätze“, sagt Igor, „und Solms, das ist der zukünftige Bundesfinanzminister!“
Er könnte Recht behalten mit dieser Prognose. Solms, der FDP-Politiker, gilt als der Finanzexperte seiner Partei – und das Grill Royal, das am Kanal gelegene Restaurant in der Nähe des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße, steht seit neuestem im Ruf, einer der
einer der Orte zu sein, an denen sich die Bewegung einer neuen, ehemals Rot-Grün orientierten Wählerschicht hin zur FDP manifestiert.Unter der bewusst zweideutigen Überschrift „Berlin Mitte“ äußerte Gustav Seibt, der Feuilletonist at large der Süddeutschen Zeitung nach der Bundestagswahl die These, es gebe in Berlin „ein neues liberales Milieu“, dessen „wirkungsmächtigen Teil“, genauer „die Welt der Galeristen, Filmproduzenten, Kuratoren und Meinungsmacher“ man an der „Rennstrecke zwischen den Restaurants Borchardt und Grill Royal“ beobachten könne. Der Soziologe Heinz Bude ging in der Zeit noch weiter und konstatierte, dem linken Lager sei die kulturelle Hegemonie verloren gegangen: „Heute ist der Bürgerbegriff ein positiver Bezugspunkt fürs Selbstverständnis. Der Bürgerbegriff aber ist kein linker Begriff.“ In der taz wiederum antwortete Diedrich Diederichsen auf Bude und Seibt: „Natürlich haben die arrivierten Galeristen immer schon wirtschaftsliberal gewählt und Investoren sowieso, den Rest dieses ‚Milieus‘ wird man aber in einer Stadt, die zu ungefähr zwei Dritteln gegen Schwarz-Gelb gestimmt hat, lange suchen müssen. Er passt womöglich komplett in zwei Lokale.“Strebertum und HipnessDas Grill Royal ist das hedonistischere dieser beiden Restaurants, die, jedes auf seine Art eine Bühne für das so genannte Hauptstadtleben bieten. Neben dem FDP-Politiker Solms sind am Wochenende unter anderem eine junge Erbin der Milliardärsfamilie Quandt, die frühere Vogue-Chefin Angelica Blechschmidt, der Schlagerproduzent Jack White und eine hoch gewachsene Dame zu Gast, von der es heißt, sie habe früher einmal eine Berliner Stadtillustrierte geleitet, arbeite heute aber als Domina. Solms ist unter diesen Leuten die exotischste Figur: Seine steife Körperhaltung am Tisch hat schon fast etwas Calvinistisches, und als er aufsteht, geht er geradewegs hinaus, ohne die Geschehnisse in dem großen, von verspiegelten Säulen, roten Lampen und zahllosen Kunstwerken geschmückten Saal mit einem weiteren Blick zu würdigen oder dort gar eine weitere, verwandte liberale Seele zu suchen. Stefan Landwehr, der Besitzer des Grill Royal, stoppt Solms’ Begleiterin mit einer geradezu fußballerisch choreographierten Schrittfolge und überreicht ihr seine Karte.Leute wie der Kunstsammler Landwehr stehen für die heftige Nähe zwischen Grill Royal und Kunstszene – die Verknüpfung des Lokals mit der FDP aber besorgte ein anderer: Ulf Poschardt, Vize-Chef der Welt am Sonntag und charismatisch schillernder Propagandist eines „neuen Bürgertums“, glaubte in einem Gastbeitrag für das Kunstmagazin Monopol, ein magisches Dreieck zwischen Grill Royal, dem zum Privatmuseum umgebauten Bunker des Sammlers Christian Boros und der FDP-Zentrale in der nahe gelegenen Reinhardtstraße ausgemacht zu haben – eine steile These. So sehr Poschardt auch bei gelegentlichen Fernsehauftritten die Rolle des bärbeißigen Gewerkschafts-Bashers zu genießen scheint, steht bei seinen stets konzis terminierten Ausflügen ins Berliner Nachtleben sein gewinnendes, selbstironisches Wesen dem Coming-out als dogmatischer FDP-Mann im Weg. Noch schwerer politisch festlegbar ist Claudius Seidl, der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Als der im Februar 2009 behauptete, „gerade wer die FDP nicht mag, muss sie wählen“ – und das ausrechnet in „Pro und Contra“, der ziemlich postmodenen Debattenparodie-Rubrik der FAS – musste man sich fragen: Meint er das ernst, schreibt er bewusst überpointiert oder erlaubt er sich einen kleinen Scherz auf Kosten seines Nachbars Poschardt, mit dem er sich im Berliner Südwesten eine Villa teilt?Bei Seibt sind es, ohne dass ihre Namen genannt werden, exakt Seidl und Poschardt, an denen die neue Begeisterung für die FDP festgemacht wird: „Der neue FDP-Wähler ist hier oft ein Berliner Stadtbewohner, der in den vergangen Jahren von Prenzlauer Berg oder Mitte weggezogen ist. Er wohnt nun im stillen Ortsteil Nikolassee.“Hört man sich nun im Berliner Kunst- und Kulturbetrieb um, stellt man fest, dass die verschiedenen Zeitungsartikel zum Thema FDP und Berlin Mitte allesamt genau gelesen wurden, und dass das Nachdenken über die FDP hier, anders als das über die CDU, sehr wohl eine Rolle spielt. Markus Peichl, Medienproduzent und angeblich Medienberater im Steinmeier-Wahlkampf (was Peichl allerdings dementiert), meint sogar einen gewissen „Hipnessfaktor“ der FDP ausgemacht zu haben. Bislang allerdings sind die einzigen Prominenten aus dem Kulturbetrieb, von denen bekannt ist, dass sie FDP wählen, Ben Becker und Sky du Mont.An einem Tisch im Grill Royal kommt ein Fotograf schnell auf Westerwelles bereits notorisch gewordenen Auftritt vor der Bundespressekonferenz zu sprechen. Dabei hatte der FDP-Chef einen BBC-Reporter, der ihn um eine Antwort in englischer Sprache bat, schulmeisterlich abgekanzelt. Es ist weniger die Tatsache, dass Westerwelles Englisch sich so ungemein deutsch anhört, die hier die Leute amüsiert, sondern die, wie es ein Gast ausdrückt „Streberhaftigkeit“ von Westerwelles Auftreten, die sie abschreckt.Doch wie bei einem der Landhauskrimis von Agatha Christie hat ein in der Luft liegender Verdacht dazu geführt, dass sich Bekannte untereinander gegenseitig ihrer Unschuld versichern und die Verdächtigen nach und nach einkreisen – nur dass es hier nicht um Mord geht, sondern um eine Stimme für Blau-Gelb. Immerhin ein bekannter Galerist, so glaubt man mittlerweile zu wissen, hat tatsächlich FDP gewählt.Zwielichtige BürgerlichkeitDer Zweitstimmenanteil für SPD, Grüne oder Linke ist in den verschiedenen Wahlbezirken von Berlin-Mitte jeweils zwei bis dreimal so hoch wie der FDP-Anteil, die Grünen erreichen bis zu 30 Prozent, die FDP kommt kaum einmal deutlich über 10 Prozent – in Nikolassee aber hat sie 24 Prozent.Es scheint, als ob der Soziologe Heinz Bude in der Zeit der alten, von CDU und FDP hochgehaltenen Gleichsetzung von Bürgertum und bürgerlichem Lager ein wenig zu sehr aufgesessen ist. Wolf Jobst Siedler, der Doyen des West-Berliner Bürgertums, bekennt im Gespräch, dass ihm die linken Politiker immer sympathischer gewesen seien, auch wenn man ihn stets „für einen Rechten gehalten“ habe. Siedler machte das Bürgerliche im Berliner Alltag einmal am Tragen einer Krawatte fest. Tatsächlich kann man auf einer Geburtstagsparty unweit des Grill Royal einen Krawatte tragenden, jungen Journalisten in verantwortlicher Position entdecken. Er weist die FDP-Nähe weit von sich. Äußerlich aber steht er wie so viele der 30- bis 40-Jährigen für ein Milieu, das dem bürgerlichen Habitus einiges abgewinnen kann. War für die etwa zwischen 1949 und 1967 geborenen alles Bürgerliche tendenziell mit dem Hautgout der Spießigkeit besetzt, so ist bei den Jahrgängen danach das Klassische wieder populär. Florian Illies, geboren 1971, hat dies einmal beispielhaft an einem Fischerhemd festgemacht, dass sein älterer Bruder ihm habe schenken wollen – er aber habe, zu dessen Unverständnis lieber ein weißes, gebügeltes Hemd angezogen. Heute lassen sich auch linksradikale Punkbands wie die Goldenen Zitronen wieder in Hemd und Pullover mit V-Ausschnitt fotografieren.Renate Künast versuchte deshalb vor der Wahl, das „kreative Bürgertum“ für ihre Partei zu reklamieren. Es könnte sein, dass sie damit in Berlin-Mitte nicht völlig daneben liegt. Das Bekenntnis zum Bürgertum selbst allerdings hat es in den dortigen Kreisen schwer – oder wie es ein Mensch aus der Buchbranche ausdrückt: „Die neue Bürgerlichkeit hat einen etwas zwielichtigen Ruf bekommen.“