Ich habe mir vor kurzem die Liste der 200 besten Platten der Nuller Jahre des Online-Magazins Pitchfork angesehen. Als ich mir die Top 10 genauer ansah, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Natürlich muss man aufpassen, dass man in die Bestenliste von ein paar Kritikern nicht allzuviel hineininterpretiert. Andererseits ist Pitchfork eine der wenigen Institutionen, von der man sagen kann, dass ihre Themensetzung und ihr Urteil wirklich einflussreich sind.
Pitchfork führt und spiegelt eine große Leserschaft, die sich recht klar umreißen lässt. Man könnte hier von „Post-Indie“ sprechen, und für diese Generation hat Pitchfork in den Nuller Jahren die Rolle des Sprachrohrs übernommen, die der NME einst im Anschluss an die Punk-Ära inneha
Übersetzung: Christine Käppeler
er Jahren die Rolle des Sprachrohrs übernommen, die der NME einst im Anschluss an die Punk-Ära innehatte (damals war seine Ausrichtung noch eindeutig „Rock“, aber er war grundsätzlich auch offen für andere Stilrichtungen wie Reggae, Disco, Funk, Africa and Jazz). Die Stimmberechtigten – die Angestellten von Pitchfork – sind Menschen, die sehr viel Zeit damit verbringen sich ein breites Spektrum an Musik sehr intensiv zu anzuhören. Ihrem kollektiven Urteil dessen, was im vergangenen Jahrzehnt wichtig war, wird es also kaum an Substanz mangelnd.Was also war nun so faszinierend seltsam an dieser Liste der besten zehn Alben der Nuller Jahre? Mich beeindruckte unmittelbar, dass sieben der zehn Alben aus den Jahren 2000 und 2001 stammten, dazu kamen zwei weitere aus den Jahren 2002 und 2004. Das einzige Album, das erst nach der Hälfte des Jahrzehnts veröffentlicht wurde, war Panda Bears Album Person Pitch. Was hat es mit dieser intensiven Häufung (acht von zehn) an „besten Alben“ in den ersten drei Jahren der Dekade auf sich? Zwei Interpretationen sind denkbar.Erstens, die Qualität der Musik hat im Verlauf des Jahrzehnts abgenommen. Zweitens, es wurde einfach immer schwieriger, einen Konsens darüber zu finden, welche Bands etwas bedeuteten, welche Alben wichtig waren. Das erste Szenario erscheint eher unwahrscheinlich, also versuche ich es mit dem zweiten. Es passt dazu, wie sich dieses Jahrzehnt angefühlt hat. Verstreute Szenen zersplitterten in Unterszenen, auf die Frage ob einer diese oder jene Band kenne, erntete man immer häufiger ein Kopfschütteln oder einen völlig verständnislosen Blick.Eigener WilleIch habe mich gefragt, ob meine eigene Top Ten Liste ähnlich aussehen würde, ob sie auch so eine Schlagseite in Richtung der frühen Jahre hätte. Dies ließ sich leicht überprüfen, denn ich hatte eine solche Liste bereits für das Webzine Stylus erstellt, das Pitchforks „geliebter Gegner“ gewesen war, bis es vor ein paar Jahren dicht machen musste. Seine Autoren sind für eine Sonderausgabe zur Bewertung des Jahrzehnts noch einmal zusammengekommen (das Ergebnis und eine Menge von Überblicksessays werden erst in ein paar Wochen zu lesen sein).Als ich mir meine Auswahl noch einmal vornahm, war ich überrascht zu sehen, dass sich meine Top 10 (und auch die gesamten 50 Alben, die ich ausgesucht hatte) gleichmäßig auf die erste und die zweite Hälfte des Jahrzehnts verteilten. Einen Qualitätsabfall gab es bei mir also nicht. Aber als ich noch einmal genauer hinsah, fiel mir auf, dass die Platten, die ich aus den ersten Jahren des Jahrzehnts ausgewählt hatte, eindeutige Konsensplatten waren: Kid A von Radiohead, Jay-Zs The Blueprint, Discovery von Daft Punk und die Avalanches mit Since I Left You (die alle auch in den Pitchfork-Top Ten vertreten sind), Original Pirate Material von den Streets, Kayne Wests College Dropout und Dizzee Rascals Boy in Da Corner.Die Platten, die ich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts bevorzugt hatte, waren wesentlich eigenwilliger. Hier hatte ich mich für Platten des kleinen Labels Ghost Box entschieden und für obskure Bands wie Black Moth Super Rainbow, Dolphins Into The Future, Mordant Music und High Places, die durchaus ihre Anhängerschaft haben, aber vom Mainstream weit entfernt sind. Und so begann ich zu überlegen, ob wir nicht doch alle von dem gleichen Syndrom befallen sind. Driften wir alle immer weiter auseinander?Ein Beet voller BlumenDie Fragmentierung des Rock und Pop ist ein Prozess, der im Gange ist, solange ich denken kann. Doch dieses Jahrzehnt scheint sie eine Schwelle überschritten zu haben. Es gab eine unüberschaubare Menge an Musik, die man entdecken konnte und von der man Fan werden konnte. Es gab kein Genre, das in diesem Jahrzehnt starb. Alle machten weiter, warfen Platten auf den Markt und brachten neue Untergenres hervor. Genausowenig hörten Musiker einfach auf, wenn sie älter wurden.Alle, die nicht starben, leisteten Akkordarbeit, drängten sich an die Seite von jüngeren Künstlern und schoben sich wieder ins Rampenlicht. Die Versuchung ist groß, die Musik der Nuller Jahre mit einem Garten, der mit Unkraut übersät ist, zu vergleichen. Aber sie entspricht in der Tat eher einem Blumenbeet, in dem sich zu viele interessante Sorten drängen, denn sehr vieles von dem, was veröffentlicht wurde, war gut. Das Problem war kein rein quantitatives, das Problem war, dass sich Qualität und Quantität potenzierten.Und dann war da noch die Vergangenheit, die, so verfügbar wie nie zuvor, um unsere Aufmerksamkeit und um unsere Gunst warb. Homestudios und digitale Aufnahmesysteme wurden immer günstiger, dazu kam, dass sich die Musiker aus dem Fundus der Musikgeschichte bedienen und Altes mit Neuem kombinieren konnte, so dass an allen Ecken und Enden qualitativ hochwertige Songs und Tracks wie Pilze aus dem Boden schossen. Deshalb findet man so wenige Überschneidungen, wenn man sich die Jahrespolls und die Best-Of-Listen dieses Jahrzehnts ansieht. Wenn selbst eine so enge Community wie die Pitchfork-Redaktion sich nur auf Alben einigen kann, die am Anfang des Jahrzehnts entstanden sind, dann legt das nahe, dass wir immer schneller einem Zustand der Entropie entgegenschlittern.Ich habe einen Verdacht. Ich glaube, die Nuller Jahre wären der Sieger, wenn man eine Liste der besten 2.000 Alben einer jeden Pop-Dekade festlegen müsste. Die Neunziger würden sie locker schlagen, die Achtziger mit Links und die Sechziger und Siebziger würden sie haushoch übertreffen. Aber ich glaube auch, dass es sich mit den Top 200 umgekehrt verhalten würde: die Sechziger würden die Siebziger ganz knapp schlagen, die Siebziger würden die Achtziger schlagen, die Achtziger die Neunziger ganz deutlich und die Nuller würden von den neunziger Jahren nur noch eine Staubwolke sehen. Wie gesagt, es ist nur ein Verdacht, aber ich denke er ist plausibel. Denn je höher man in den Charts klettert, desto weniger geht es nur um musikalische Qualität. Es geht um das gewisse Etwas, um Eigenschaften wie „Bedeutung“ und „Größe“.Die Bedeutung hängt in den seltensten Fällen allein von der Musik oder dem Talents ihres Schöpfers ab. Entscheidende Komponenten sind der Einfluss, den sie hat und wie sie rezipiert wird. Beides hängt vom Publikum ab. Die „vereinende Kraft“, von der Cohen schreibt, geht nur zu einem Teil von der Platte selbst aus. Im Prinzip muss der Wunsch danach im Vorfeld existieren, die Musik muss ihn auffangen und spiegeln können. Bedeutung ist keine Einbahnstraße.StreubereichSchon die Beatles waren so erfolgreich, weil sie wussten, dass die Welt auf sie wartete, weshalb sie sich der Herausforderung stellten. Für dieses Syndrom gibt es auch ein aktuelleres Beispiel. Ende letzten Jahres erschienen zeitgleich das neue Guns N Roses-Album Chinese Democracy und die neue Kayne West-Platte 808s Heartbreak. Chinese Democracy war ein verpatzter Schrei nach Aufmerksamkeit, das grauenhafte und groteske Spektakel eines Mannes, der alle Erwartungen übertreffen wollte, 808s Heartbreak hingegen war das fesselnde Ego-Drama eines verletzten Narzissten, das auf der größtmöglichen Bühne aufgeführt wurde.Die musikalische Schwemme, die durch die Potenzierung von Quantität und Qualität entstand, führt nun im Ergebnis dazu, dass all die unermüdlichen Optimisten, die jedes Jahr verkünden, was für ein fantastisches Jahr es doch gewesen sei, das „viel bessere Musik hervorgebracht habe als das vergangene Jahr“, tatsächlich einmal recht behalten. Aber auch die üblichen Meckertanten, die über die Defizite der diesjährigen Ausbeute jammern, haben recht. Viel mehr gute Musik als sonst ist in diesem Jahr entstanden, aber dadurch wurde verhindert, dass etwas wirklich Großes entstanden ist, ja es wurde im Keim erstickt. Je größer der Streubereich, desto zerstreuter ist auch unsere Aufmerksamkeit. Und umso weniger Einfluss kann eine einzelne Platte haben. Schlimmer noch, während die Künstler diese gesunkenen Erwartungen verinnerlichen, dreht sich die Spirale des Bedeutungsverlusts immer weiter ein.