Alexander Kluge ist kein Optimist. Aber er kennt Auswege aus der Gegenwart. Ein Gespräch über das weltweite Netz, die Libellen und den Glauben an den besseren Menschen
Freitag: Herr Kluge, dies ist unser erstes Skype-Interview.
Alexander Kluge: Meins auch!
Sie haben uns ein Kamerateam ins Büro geschickt und lassen sich selbst in München auch filmen. Was haben Sie mit den Bändern denn vor?
Oh, mal sehen. Wir werden das in dctp.tv aufstellen.
Sie sind ein Sammler.
Ja, wir müssen es machen wie die Gebrüder Grimm. Denen gehört meine ganze Bewunderung.
Lassen Sie uns über die Zukunft reden. „Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich als harmlos“, sagt Robert Jungk. Wo ist denn das Morgen im Heute vorhanden, und wie harmlos ist es?
Die Zukunft ist in den Vergangenheiten vorhanden, und sie kommt auf uns zu. Man muss überlegen: Sind wir Menschen deswegen übrig geblieben, weil wir
den, und sie kommt auf uns zu. Man muss überlegen: Sind wir Menschen deswegen übrig geblieben, weil wir in unserem Erbe etwas haben, das klüger ist, als wir selbst. Dann wäre die Zukunft das Potenzial, das wir in uns tragen. Wir wären alle längst ausgerottet, wenn da nicht ein Schutzengel wäre. Es ist etwas kühn gesagt, aber es gibt in diesem Sinne nicht wirklich eine Zukunft isoliert von der Möglichkeitsform, von den Wünschen, dem Konjunktiv, und es gibt keine von der Vergangenheit gelöste Zukunft.Paul Klees Engel der Geschichte fliegt rückwärts in die Zukunft und blickt erschrocken in unsere Vergangenheit.Ja, aber man kann das auch positiv wenden: Das ist nicht nur ein böser Wind, der uns von der Vergangenheit in die Zukunft treibt. Sondern auch ein Wind, der aus der Zukunft auf uns zuweht, weil er in der Vergangenheit schon längst vorhanden war. Ich will ein Beispiel nennen: Da gibt es ein Raubtier, das uns an Raublust alle übertrifft: die Libelle. Sie vibriert über dem Teich, sie ist in der Lage, Daten taktil so genau zu erfassen, wie wir es selbst mit Computerhilfe nicht hinkriegen. Und das Gehirn der Libelle ist nicht einmal stecknadelgroß. Aber vor 70 Millionen Jahren ist ihre Intelligenz entstanden. Es ist eine Begabung, nach der sie im MIT in Boston heute Maschinen bauen. Ihren künstlichen Intelligenzwesen bauen sie keinen Kopf ein, der dauernd reflektiert und zögert. Sie werden alle nach dem Modell der Libelle gebaut: taktil, immer in Not, immer voller Gier. Diese Intelligenz, die 70 Millionen Jahre zurückreicht, mag eine ähnliche Intelligenz sein, wie wir sie in der Haut, in den Darmzotten und überall haben, nur nicht im Kopf. Aber nicht jeder kann diese historischen Potenziale gleichermaßen aufrufen. Wie lernt man es?Man lernt es nicht, man hat es. Wir haben nicht nur das Erbe der Gene, das ist ein Irrtum: Alle haben wir auch jenes Erbe des Unverhofften. Menschen, die in Not sind, haben es eher mehr. Die Elenden, in Marx’ Worten, haben davon eine große Portion, sie wissen Auswege. Sie haben Fähigkeiten, die mit dem, was wir Kultur nennen, wenig zu tun haben, aber von Lévi-Strauss, der in diesem Jahr gestorben ist, untersucht werden könnten. Er war groß darin zu sehen, wie man unabsichtlich intelligent ist. Jeder von uns hat diese Mitgift, und sie ist die einzige Chance, nicht ohnmächtig zu sein gegenüber den Neuerungen des 21. Jahrhunderts. Wir haben mit unseren Revolutionen ja keineswegs den Sieg davongetragen. 1789 nicht und 1917 auch nicht. Wir haben ziemlich viele Niederlagen hinter uns. Rosa Luxemburg wird, wenn sie den Kopf hinausstreckt, genauso ermordet wie Gracchus in Rom. Wer gegen die Tyrannei und für die Emanzipation eintritt, ist im Leben gefährdet. Das ist die eine Seite. Währenddessen hat die Welt der Dinge gesiegt. Die rotieren mit ihren Zufallsketten, ihren Wahrscheinlichkeiten, als Pensionsfonds, als Maschinerie, als Dateien um die Welt wie ein Wetter. Es ist das zweite Weltwetter, das Weltwetter der zweiten Natur. Das ist übermenschlich, aber auf der Mitgift, die ich eben genannt habe, gründe ich den Satz: Man darf sich von der Macht der anderen nicht dumm machen lassen, und man darf sich durch die eigene Ohnmacht nicht dumm machen lassen. Das ist ein Leitsatz von Adorno. Man muss begründen können, warum man nicht pessimistisch wird. Schirrmachers Payback ist ein sehr pessimistisches Buch. Ich würde da nach Auswegen suchen. Die Frage ist doch, was bleibt von der Zukunft des Menschen übrig, wenn er in der Lage ist, die Zukunft zu berechnen, wenn er über die Fähigkeiten verfügt, alle denkbaren Varianten der menschlichen Existenz in seine Algorithmen zu pressen?Ich glaube, dass man Menschen nicht ausrechnen kann und die Verhältnisse auch nicht. Planwirtschaften haben noch nie funktioniert. Die Menschen werden automatisch zur Gegenwehr übergehen. Nach der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg setzte eine Schwemme von Informationen ein: Alles konnte man drucken, und das Meiste waren Pamphlete, also: Aufruf zum Bürgerkrieg, Aufruf zum Religionskrieg, Aufruf zur Intoleranz. Und dagegen wehren sich die Menschen, indem sie die Kritik erfinden. Kant ist gleichsam die Antwort auf die Übermacht an Gedrucktem. Dirk Baecker hat das untersucht. Und Sie können heute beobachten, dass Menschen, die das Netz nutzen, fast immun sind gegen die Fülle der Informationen, die nehmen die ersten 40 Worte und lassen 1.800 aus. Dieser Reduktionismus hat etwas Gutes und etwas Schlechtes. So ein User wird sich nicht bei Abendlicht hinsetzen und Anna Karenina lesen. Er wird aber auch nicht in Information ertrinken. Der Mensch schafft sich seine eigene Übersichtlichkeit. Aber ist diese Auswahl wirklich gleichbedeutend mit Kritik?Im Sinne von Kant ist es bestimmt keine Kritik. Aber diese Selbstverteidigung ist sehr zielsicher. Ich sage nicht, ob das gut ist oder schlecht. Es ist die Reaktion, die jetzt schon zu beobachten ist, und sie wird ihre eigene Intelligenz entwickeln. Eine Reaktion auf die neuen Medien und ihre Datenmengen ist die Zerstreuung; man kann sich nicht mehr konzentrieren, man wird ignorant. Und man merkt es selber nicht mehr. Weil sich die Maßstäbe für Erkennen und Erleben verändert haben.Aber wenn Sie die Chance haben, die Datenmasse so zu verringern, dass sie in Ihren Kopf passt, dann geht es doch. Sie kommen in einen Garten, zum Freitag, zum Guardian oder in die Informationsgärten von dctp.tv und können sich so zu sich selbst zurückziehen. Was wir brauchen, sind abgegrenzte Räume, in denen die Datenmassen gesammelt, sortiert und reduziert werden. Gärten, Häfen, Gefäße, welche Metapher Sie wollen. Da das Bedürfnis nach Reduktion wächst, werden solche Gärten auch benutzt werden. Man muss sie nur bauen, diese Gärten im Netz. Aber vergessen wir nicht: Hinter den Daten stecken ja wirkliche Verhältnisse, die durch die Daten nur benannt sind, und die sind viel unheimlicher als die Datenmasse. Wir haben bei der Finanzkrise gemerkt, was für ein Tsunami an Spekulationen, an unverantwortlichen Annahmen, an Hypotheken losschwappen kann. Das führt zu Vertrauensverlust. Nach der Krise von 1929 ging die politische Gesellschaft scharf nach rechts. Die subjektive Reaktion kann viel gefährlicher sein als das, was je ein Spekulant anrichtet.Wenn wir über Zukunft sprechen, dann tun wir das doch, weil wir glauben, dass die Zukunft ein hinlänglich offener Raum ist, den wir mit der Freiheit unseres Willens gestalten können. Wenn wir uns selber aber in unserem Verhalten wie Programme begreifen, die einfach ablaufen, wenn sie einmal gestartet sind, dann macht der Begriff Zukunft keinen Sinn mehr. So wie er auch bei einem Programm keinen Sinn macht. In dem Augenblick, da man es startet, ist seine Zukunft bekannt, also Gegenwart.Nach allem, was ich weiß und was ich in der Geschichte lesen kann, wird eine Zukunft ausgewechselt, wenn sie verbaut ist. Die Menschen werden sich das nicht gefallen lassen. Es kann sehr schmerzhaft sein, die Zukunft auszuwechseln.Das können Sie laut sagen. „In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann“, das ist ein Nazi-Lied. Wenn die Menschen die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus der Wirklichkeit ergreift, dann ist das ein gefährlicher Moment. Vor einem Jahr schien der Kapitalismus dem Untergang geweiht. Heute hat man den Eindruck, es hat sich nichts verändert. Warum ist der Ausbruch nicht gelungen?Wir haben es nicht mit einem einzigen Kapitalismus zu tun. Es gibt einen schönen Satz: „Tut der Kapitalist, was er liebt, und nicht, was ihm nützt, wird er von dem, was ist, nicht unterstützt.“ Der Kapitalismus ist eine Maschine. Und die wurde von Menschen erfunden. Marx hatte große Mühe zu beschreiben, wie der Kapitalismus entsteht. Raub und Akkumulation, ja, aber auch sehr viel Zustimmung. Wenn eine Idee die Massen ergreift, bekommt sie Macht. Das hat der Kapitalismus vorgeführt.Ich habe von keinem, dem ich vertrauen würde, ein Rezept gehört, wie man eine andere, nicht Clan-gesteurte, nicht gewalttätige Ordnung schaffen soll, die Menschen so eifrig macht und die Waren bis nach Sinkiang bringt. Es ist spannend, was der Kapitalismus alles kann. Aber es gibt viele Arten davon. Und wo hat er eine Berührung mit Menschen? Der Kapitalismus glaubt vielleicht, dass er ohne Menschen auskommt. Aber ohne Menschen klappt er zusammen, weil die Arbeitskraft fehlt. Dann fällt er zurück, er wird rückfällig. Dann kommt der Faschismus, darauf die Refeudalisierung – das ist ja das Schlimme am Kapitalismus, dass er so viele Rückfallmöglichkeiten besitzt. Max Horkheimer hat gesagt, man muss, solange man lebt, darüber nachdenken, wie man ihn ersetzen kann. Ich habe in meinem Leben viele Momentaufnahmen von Solidarität beobachten können. Dinge, die Menschen für Geld nie machen würden. Das ist der Punkt außerhalb des Kapitalismus! Punktuell gibt es so etwas. Aber diese Beobachtungen haben nicht die Tendenz, zusammenzuschließen zu einem weltweiten System, das die Menschen verbindet. Die Organisationsfähigkeit der Solidarität ist ganz gering. Die Fähigkeit, sich zu assoziieren, und die Fähigkeit, mein Eigentum herzustellen, das kommt nicht zusammen.Es gibt Arten von Kapitalismus, die mit menschlichen Eigenschaften zusammenpassen und andere, die nicht damit zusammenpassen. Wenn man die Knechte eines spekulativen Systems mit Unternehmern vergleichen, die sich am 5. Januar 2009 vor einen Zug werfen, weil sie sich nicht verzeihen können, welche Verträge sie unterschrieben mussten – dann merken Sie, das sind ganz verschiedene Menschen. Es gibt da einen Menschentyp, dem ich vertraue. Ich finde, man sollte den bürgerlichen Menschen neu untersuchen.Im Moment der Katastrophe lässt der Mensch das Gute aufscheinen. Aber wie kommen wir dahin, es nicht nur in der Katastrophe sehen zu lassen?Ich wünsche mir die Katastrophe nicht. Aber wenn sie eintritt, müssen wir sie wie in einem Laboratorium studieren. Der Mensch kann sehr viel mehr, als der Kapitalismus ihm erlaubt. Aber man muss anerkennen: Der Kapitalismus kann Verbindungen erzwingen, auf die die Menschen von selber nicht kämen. Dreiviertel des Kommunistischen Manifestes sind ein Loblied auf den Kapitalismus, wie er den Menschen aus dem trägen Mittelalter herausführt und Initiative erzeugt. Ähnlich wie das Internet eine neue Öffentlichkeit mobilisiert.Kapitalismus ist nur eine Form des Austausches, aber die effektivste, wenn es darum geht, viele Menschen über große Entfernung miteinander zu verbinden. Der Produktionskapitalismus der Handwerker im Quartier Saint Antoine im Revolutionsjahr 1789 will etwas aufbauen – aber er will nicht die Kolonien ausbeuten, wie die britische Börse es tat.Lassen Sie uns zu den Ausbrüchen zurückgehen. Das interessiert uns. Es gibt ja viele Möglichkeiten auszubrechen. 1968 waren es die Drogen. Heute sind es für manche die Koranschulen. Wer unterscheidet denn zwischen den guten, gelingenden Ausbruchsversuchen und den schlechten?Das kann man nicht wirklich unterscheiden. Man kann es vielleicht in der Analyse unterscheiden, wenn man Beobachter ist. Aber wenn man beteiligt ist, ist es sehr schwer zu unterscheiden, weil es ja keinen Richter gibt. Auch wir sind ja nicht Richter dessen, was andere tun. Und was wir selbst tun, wissen wir nicht genau. Also 1968 will man aus den Verhältnissen ausbrechen, will man sie zum Tanzen bringen. Unter dem Pflaster ist der Strand, heißt es. 1914 sagen die Künstler: Wir brauchen den Ausbruch! Wir gehen in den ersten Weltkrieg. Und das ganze Jahrhundert entgleist. Und 1917 / 18 heißt es: Wir sind in der neuen Wirklichkeit angekommen, jetzt müssen wir entweder Bolschewisten werden oder Freicorps gründen. Wir schaffen einen neuen Menschen, wir schaffen einen gepanzerten Menschen, wir brauchen eine andere Härte. Das sind die Ausbrüche, die man ganz genau studieren muss. Die dauern manchmal so lange wie der Dreißigjährige Krieg – von 1914 bis 1945 sind es 31 Jahre. Wir können nicht sagen: Das sind gute, das sind schlechte Ausbrüche. Wenn der Impuls einmal gesetzt ist, kann man ihn kaum noch steuern. Ja, wir müssen versuchen, diese Maschinen rechtzeitig abzubauen, wenn wir können. Aber wenn wir es nicht können, müssen wir studieren, welche Gefäße es gibt, diesen Impuls so aufzufangen, dass er noch zu uns Menschen passt. Der erfolgreiche Ausbruch unter diesen Bedingungen kann doch nur sein, das Netz zu verlassen, die Informationsweitergabe zu unterbinden. Wir müssen Daten-Boykott betreiben. Also so wie die Arbeiter früher ihren Schuh in die Maschine geworfen haben, müssen wir heute versuchen, den Schuh in den Schaltkreis zu werfen. Das geht nur, wenn man keine neuen Daten liefert. Das ist aber die Absage an jede Form von gesellschaftlicher Tätigkeit.Das ist die Haltung der Stoa. So hat es eine Elite im Römischen Imperium in verzweifelter Lage ausgehalten. Entweder Selbstmord oder diese Haltung. Beides schafft menschliche Würde. Und während die das machen, kommt eine Masse von Religionen herauf, die der „unbesiegbaren Sonne“, oder die von Christus, das ist einander zunächst ähnlich. Große, religiöse Romane ergreifen die Macht. Also, die wirklichen Verhältnisse kann man nicht durch Enthaltsamkeit beantworten. Wir sind gesellige Lebewesen – viel zu schwatzhaft, um uns zurückzuziehen wie die Mönche. Aber die Mönche haben mit Gott kommuniziert. Das Zurückziehen aus der gesellschaftlichen Kommunikation kann man nicht mehr so leicht erkaufen mit der Hinwendung zur Transzendenz. Die Leute, die sich heute zurückziehen, sind wirklich arme Gesellen.Der Aufklärer Condorcet zieht sich während der Französischen Revolution zurück, bevor er lügen müsste und begeht am Ende Selbstmord, um seine Freiheit zu erhalten. Aber mein Subjekt ist doch ein Palast mit vielen Zimmern, und ich kann einen Raum so ausrüsten, dass ich jederzeit fähig bin, mich dorthin zurückzuziehen. Und gleichzeitig bleibe ich gesellig und bin im Chatroom der Gesellschaft. Ich bin mehr als ein Mensch, ich bin viele. Wenn die Daten so zunehmen, verwandeln wir uns in polyphone Lebewesen. Wo sind die Ausbruchsversuche der Gegenwart?Nehmen Sie mal die Universität Princeton. Da gibt es lauter Zellen, in denen emanzipativ gedacht wird. Ich kenne zum Beispiel eine, da sind fünf Forscher tätig, die untersuchen den babylonischen Talmud und das Jahr 70 nach Christus. Ich könnte denen so zuhören wie meinem Großvater, wenn er über die Seeschlange erzählt.Und von solchen Zellen gibt es Millionen. Wer weiß, was in China erforscht wird? Wir müssen also sammeln und uns einen hortus conclusus bauen. Aber in diesem Garten wächst etwas. Und das ist unterirdisch mit allem Leben verbunden. Pablo Neruda hat gesagt: Man kann alle Pflanzen am Stengel abschneiden, aber man kann den Frühling nicht verhindern. Es gibt zwei Typen des Ausbrechens: die des Mönchs und die des Kriegers. Der eine Ausbruch führt in die Kontemplation. Aber der Krieger führt ins vernichtende Kollektiv. Ernst Jünger hat beides in sich vereinigt. Jünger macht 1914 das Notabitur, zieht sich kurz zurück und geht dann in den Krieg.Das ist richtig. Es gibt ein schönes Lied von Schubert, das ich sehr liebe. Es ist das Lied der Fische im Wasser. Die Forellen singen: „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht.“ Wir haben im Moment in der Welt Verhältnisse, die das Fürchten lehren können. Wer sagt uns denn eigentlich, dass das 21. Jahrhundert nicht entgleist? Und ich hatte nach 1989 das Gefühl, es breche ein augusteisches Zeitalter an. Ich hatt viel Hoffnung. Aber die ersten zehn Jahre unseres neuen Jahrhunderts sind sogar noch unheimlicher als die Jahre von 1900 bis 1910. Jetzt fehlt nur noch ein Untergang der Titanic. Das war der Zusammenbruch des World Trade Centers. Das war unser Menetekel. Die Frage ist nur: Können wir es richtig entziffern?9/11, die Finanzkrise oder Tschernobyl, das sind Einbrüche, die durch einen Prozess der Ausgrenzung entstehen. Die sowjetische Verwaltung des Imperiums hielt sich bis in die Mitte der achtziger Jahre für die Herrin des Verfahrens. Aber mit diesem Glauben an Kontrolle, an Planwirtschaft hatte sie etwas ausgegrenzt. Und das Ausgegrenzte verhält sich wie 13. Fee im Märchen Dornröschen, die nicht eingeladen war: sie kehrt zurück und legt das Reich hundert Jahre in Schlaf. Das ist eine der Erfahrungen in unserer Welt. Ernst Jünger hat den Rückzug ins Mönchstum und den Ausbruch als Krieger vereint. Das tut der Islamismus heute auch. Aber man muss soweit kommen, dass man Pseudoausbrüche macht, solche, die in Wahrheit keine sind. Baudelaire hat von den „künstlichen Exilen“ gesprochen.Das hat Schiller sehr beschäftigt. Spielen ist etwas Ernstes, hat er gesagt. Ich muss nicht alles durchführen, was ich im Herzen habe! Das Theater lebt davon. Es gibt mehrere Realitäten nebeneinander; Parallelwelten, die man alle sehr Ernst nehmen kann. Sie haben von der Intelligenz der Libelle gesprochen. Für mich hat das Netz etwas unmittelbar Rauschhaftes. Wenn ich abends um zwölf mit den Leuten chatte, hat das etwas, was mit der Droge vergleichbar ist.Aber es ist nicht so egozentrisch wie die Drogenerfahrung. Man muss sich den Ursprung der Netz-Technologie richtig vor Augen führen: Die Schweizer Feinmechanik und die Einsteinsche Physik bauen gemeinsam ihre Fragestellung im CERN auf – die Beschäftigung mit etwas so Kleinem wie den Quanten, dieses Kleine, das das Spiegelbild des Großen im Kosmos ist. Der Nachrichtenaustausch darüber ist so komplex, dass dafür das Internet erfunden wurde – zunächst als Binnenkommunikation zwischen Physikern – das macht dann zunächst noch einen Umweg über das Pentagon, aber dann eignet sich die Menschheit das an! Das ist doch eine großartige Geschichte! Es kommt aus der kleinen Zelle, aus der Neugier nach der Frage, was das Kleine und das Große miteinander verbindet. Daraus entsteht eine neue Öffentlichkeit.Wenn man die Erde aus dem Orbit sieht, wie sie leuchtet, dann kann man schon einen Rausch empfinden, wenn man sich vorstellt, wieviele Menschen sich da unten Mühe geben, miteinander zu kommunizieren. Wenn ich mir das vorstelle, kann ich herrlich schlafen. In Paris schlafe ich zum Beispiel wie ein Bär, weil ich weiß, die anderen arbeiten und leben. In Berlin auch.Sie haben über das Fernsehen einmal gesagt, dass Sie das Fernsehen offenhalten für das, was außerhalb des Fernsehens Geltung hat. Gilt das auch für das Netz?Das ist nicht in gleichem Maße nötig. Das geschieht fast von selbst. Das Fernsehen ist ein sehr reduktives Medium. Der Programmdirektor ist subtraktiv tätig, er lebt von dem, was er aussortiert. Und das TV-Medium hat einen tiefen Minderwertigkeitskomplex. Rundfunk, das heißt Sendung an alle, wird mit einem permanenten Minderwertigkeitskomplex bezahlt. Das ist im Netz ganz anders. Dort sind selbstbewusste Leute und die denken additiv, multiplikativ, das platzt ja geradezu. Aber die Gefäße, die es außerhalb des Netzes gibt – die hereinzutragen, das ist etwas Wertvolles. Worin man etwas aufbewahren kann, etwas unterschieden halten kann, das muss man hereintragen. Auch die Metamorphosen von Ovid sind ein Netz. Die Leitfigur von dctp.tv und mir persönlich ist Arachne, die Spinne. Das war eine Tuchweberin in Byzanz, die auf ihre Stoffe Geschichten malte. Die ganze Weltgeschichte wob sie in die Gewänder hinein. Sie trat in den Wettstreit mit der Göttin Athene. Und weil die vernetzten Bilder der Athene nicht halb so gut wurden, verwandelte die enttäuschte Göttin Arachne von einer Spinnerin in eine Spinne. Sie ist die Schutzherrin des Netzes. Eine der schönsten Geschichten bei Ovid. Ist das Netz eine positive Erweiterung bürgerlicher Öffentlichkeit?Es ist eine revolutionäre Erweiterung. Es ist nicht nur die Durchsetzung der brechtschen und der enzensbergerschen Radiotheorie. Jeder ist hier Sender! Es ist eine Revolution. Man darf es sich nicht wieder wegnehmen lassen! Es muss offen bleiben. Der freie Zugang muss erhalten bleiben. Da soll man nicht sagen, dass es dann aber ein großes Durcheinander gebe. Der Ozean ist auch ein großes Durcheinander.Aber Sie haben selber einmal geschrieben, dass im großen Ozean der Artenreichtum gefährdet ist, weil sich der Stärkere durchsetzt und der Schwächere verdrängt wird. Während die Seen die Keimzellen der Vielfalt sind: Für Fische sind Seen Inseln, haben Sie geschrieben. Sie sind Philanthrop und Optimist. Das Netz kann auch zur Verflachung führen, zur Herrschaft des lautetesten Gedanken, der nicht der beste sein muss. Und es kann einen scheinbaren Freiraum bieten, der aber keine wirkliche Kontrolle von Herrschaft gewährleistet.Ich bin kein Optimist. Ich kenne nur viele Auswege. Aber einen anderen Weg, als den, dass wir uns verbinden gegen das, was wir ablehnen, kenne ich nicht. Wir müssen uns schon die Mühe machen, uns zu einer Koalition zu vereinen.Der Turm von Babel, das ist eine Revolution, eine Schichtung von Unten nach Oben, da werden die Äcker gestapelt und Oben ist der Kaiser und der Papst. Nachdem der Turm zerfallen ist, entsteht 1.000 Jahre später im Inneren der Menschen ein neuer Turm, der homo novus von 1.600, ein Gallilei, ein Monteverdi, ein neuer, selbstbewusster Mensch, der sagt: Meine Bilanz, meinen Betrieb ordne ich verantwortlich, das ist mein Acker in der zweiten Natur, meine Lebensverhältnisse werde ich bewusst gestalten, auch meine Liebesverhältnisse. Es kommen die Liebesromane auf! Die Beziehungen werden nicht nur rational sondern auch emotional bestückt! Hier entstehen Gärten! Der bürgerliche Mensch. Der ist heute im Silicon Valley, sozusagen im Flachbau, nicht im Hochbau tägig. Ich halte sehr viel vom Gartenbau.Der normale Ackerbau wird in Italien nach dem Mittelalter um den Gartenbau ergänzt. Mit Feingriff gebaute Gärten, handwerklich sozusagen, nicht mehr bäuerlich, das ist der Fortschritt.Die wahre Geschichte vom Turmbau zu Babel geht aber so, dass die Menschheit darauf wartet, dass der Bau endlich beginnt. Dass sich die Menschen also in den Bauvorbereitungen zerstritten haben und dann beschlossen, den Baubeginn erst einmal zu verschieben; aber eines Tages soll es losgehen. Die Erlösung. Darauf warten wir immer noch.Ach wissen Sie, Hochbau ist dem Menschen nicht angemessen. Wir suchen das dem Menschen gemäße Maß. Das ist nicht der Hochbau. Henry IV, der „gute König“ in Frankreich, hat die Räume des Louvre so ausgebaut, dass die für die Körpermaße eines südfranzösischen Menschen wie ihn passten: das ist Menschenmaß, Corbusiers „Modulor“.Ich habe sehr bedauert, dass der Palast der Republik abgerissen wurde. Der Stahl, der da verbaut worden war, war das Idol der Ingenieure der DDR. Immerzu mussten Sie ihre Materialien verdünnen und Selterwasser reinkippen; aber hier konnten sie mal den besten Stoff verbauen. Der ist nun abgerissen worden und ein Stück davon wurde im höchsten Turm von Dubai eingebaut, oben in der Spitze. Herculaneum ist nicht nur unter Lava verborgen. Es kann im höchsten Turm von Dubai versteckt sein. Das miteinander zu verbinden, das ist kein Optimismus. Das ist, was die Gebrüder Grimm uns gelehrt haben: Etwas sammeln. Wir sind Sammler. Die zivilisierteste Form der Sammlung liegt darin, Kooperationen, auch ungewollte, zusammenzufügen. Dafür kann ich schwärmen.Die Kultur ist ein Garten. Daher kommt das Wort.Es gibt Dompteure und es gibt Gärtner. Berufsbezeichnung „Gärtner“, das würde mir gefallen. Das Gespräch führten die Redakteure Michael Angele, Ingo Arend, Jakob Augstein und Philip Grassmann