Hákon Adalsteinsson ist Schriftsteller. Aufgewachsen in der Nähe von Egilstadir, trieb es ihn rastlos durch Island; vom Job auf dem Fischtrawler bis zur Arbeit als Postwagenfahrer hat er alles mögliche erledigt, ehe ihn der Alkohol beinahe erledigt hätte. Auf den Gedanken, Island zu verlassen, ist er dennoch nie gekommen. Seine Reise führte ihn in die heimatlichen Gefilde der Fljótsdalsheidi zurück, deren Weite er heute als Jäger durchstreift. Auf der Pirsch nach Rentieren findet Adalsteinsson die Ruhe, die sich in seiner Dichtung niederschlägt, deren klassischer, streng formaler Stil bei den Isländern nach wie vor gefragt ist. Kann so einer zum Lobdichter eines Island werden, das von seiner Weltabgewandtheit lässt?
Für die splendi
ie splendid isolation votiert mindestens ein Viertel der Bevölkerung. So viele Einwohner haben eine Petition unterzeichnet, die den Präsidenten an der Abzeichnung eines Gesetzes hindern will, mit dem ausländische Anleger entschädigt werden sollen, die Geld verloren haben in der letzten Finanzblase. Das Gesetz ist von der Regierung mit Mühe auf den Weg gebracht worden – und wäre zugleich eine Bedingung für den Weg in das Stabilität verheißende EU-Europa. Glücklich ist Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurdardottir damit sicher selber nicht. Aber die rosigen Jahre sind vorbei, die Zeit, als Island darüber nachdachte, das reichste Land der Welt zu werden, nicht mehr nur touristischer Sehnsuchtsort sein wollte, sondern lukrativer Finanzplatz. Die Bevölkerung profitierte eine Zeitlang vom Wachstum auf Pump, wer seinen Schokoriegel am Kiosk nicht mit Karte bezahlen konnte, galt als Hanswurst. Dann kam die Finanzkrise, und das Land stand vor dem Bankrott. Heute hat sich die Welt zum Teil selbst zurückgezogen, Importe sind teuer, die Währung schwach – Ende letzten Jahres machte McDonald’s seine drei Filialen auf der Insel dicht.KirkjubæjarklausturFür die Isländer geht es in der Krise, in der ein EU-Beitritt plötzlich diskutiert wird, um die Identität – es geht um ihre Unabhängigkeit. Davon zeugt die Geschichte, zeugen die langen Jahre von 1602 bis 1854, als Island unter dem dänischen Handelsmonopol Not litt. Mehl, Tuch, Alkohol, Salz, Eisen, Bauholz und andere Produkte von meist schlechter Qualität und in stets unzureichender Menge mussten teuer gegen den begehrten Hochseefisch eingetauscht werden. Freier Handel mit anderen Nationen war streng untersagt, selbst das Erwerben von Angelschnüren zur Selbstversorgung wurde mit drakonischen Strafen geahndet.Der spätere Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness hielt die Erinnerung an diese Zeit wach in seinem Roman Islandglocke, der die alten Sagen fortschreibt für die Gegenwart. In die Zeit seiner Entstehung fiel die Entscheidung des Landes, 1944 im Windschatten des Zweiten Weltkriegs die bestehende Union mit Dänemark einseitig aufzulösen. 95 Prozent der Bevölkerung stimmten dafür, die Ausrufung der Republik am 17. Juni 1944 in Pingvellir, dem Versammlungs- und Gerichtsplatz des mittelalterlichen Freistaates, geriet zum Volksfest.Den lebendigen Beweis für die Selbstgenügsamkeit Islands verkörpert Fillipus Hannesson. 1909 wurde er in Núpsstadur geboren, 2009 lebt er immer noch dort. Sein Vater war der Postreiter des Bezirks, zweimal im Monat machte er sich daran, die gefährlichen Gletscherabflüsse in der nahegelegenen Sanderfläche zu überqueren. Den Fährdienst über den nahen Fluss übernahm er ebenso, denn eine Straße, gab es hier lange nicht. Núpsstadur – für den durchreisenden Islandtouristen oft kaum mehr als ein Halt zur Besichtigung der kleinsten Kirche der Insel, deren grasgedecktes Dach einen Raum von 2,5 mal 6 Metern überdeckt – ist der Ort von Hannessons Leben. Seit dem Tod seines Bruders Eyjólfur vor wenigen Jahren bewohnt er das von der Zeit gezeichnete Elternhaus neben dem hutzeligen Grasgehöft allein. Der klapprige Jeep mit dem gelb-roten Anstrich wirkt mit seinen angenagten Holzbauteilen, den angerosteten Sitzen und dem freien Blick durchs Bodenblech wie ein Relikt aus der Urzeit des Verkehrswesens – und ist doch 40 Jahre jünger als sein letzter Fahrer. Bis 2004 klemmte sich Hannesson hinter das Steuerrad, um die 30 Kilometer bis nach Kirkjubæjarklaustur im Kriechtempo dahinzuzockeln. Die Lizenz für das Vehikel war einzig auf diesen lebensnotwendigen Versorgungsweg zugeschnitten – Kirkjubæjarklaustur ist der nächste Ort, in dem man einkaufen kann und medizinische Hilfe erhält. Einmal, so berichtet er, hätten sich die Brüder in einem Altenwohnheim versucht, doch dort sei ihnen so langweilig gewesen, dass sie auf den heimatlichen Hof zurückkehrten. Einsamkeit? Spätestens, wenn am ersten Augustsonntag der jährliche Gottesdienst in seiner Kirche abgehalten wird, hat Fillipus Gesellschaft genug. Meist ist er nach dem Rummel froh, sie wieder los zu sein.Die Erfolgsgeschichte Islands begann nach der staatlichen Unabhängigkeit. Noch um 1900 hatten mittelalterliche Lebens- und Arbeitsbedingungen vorgeherrscht, die Bevölkerungszahl lag mit 78.000 Einwohnern nicht höher als im 13. Jahrhundert. Viele Isländer hausten in aus Grassoden und Torfplatten errichteten Einzelgehöften. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Land innerhalb von zwei, drei Generationen zu einem der reichsten in der westlichen Welt.SaudárkrókurDabei gab es weitere Kämpfe auszustehen: War der Betritt zur UNO 1946 noch im Stolz der erlangten Freiheit erfolgt, stellte sich die Einbindung in die NATO weitaus schwieriger dar. Große Teile der Bevölkerung sahen darin – wie in der fortlaufenden Stationierung der während des Krieges ins Land gekommenen amerikanischen Truppen – einen Verkauf der eben erst erlangten staatlichen Souveränität. Eine konservative Regierung setzte den Beitritt 1949 gegen heftigen Widerstand im eigenen Land durch. Mochten die Sicherheitsvorteile auf der Hand liegen, die Nation war gespalten. Zwar blieb Island auch nach dem Abzug der fremden Truppen Mitglied der NATO, jedoch hält es nach wie vor daran fest, keine eigenen Streitkräfte zu unterhalten.Die Drohung, aus der NATO auszutreten, führte 1982 zum definitiven Ende der so genannten Kabeljaukriege: Island setzte durch, ausländischen Trawlern das Fischen in einer eigens errichteten Wirtschaftszone zu verbieten. Dieser Erfolg trug maßgeblich zum späteren Wohlstand bei. Ein Arbeitsplatz auf See schafft vier Arbeitsplätze an Land, heißt es. Viele kleine Fischer sind durch den Verkauf ihrer Fangquoten an große Fischereigesellschaften reich geworden. Gerade deshalb geht die Angst um vor Veränderungen, die ein Beitritt zur EU der Fischerei bringen könnte.Mit dem Ende der Spekulationen ist für Island eine neue Zeit angebrochen, und es sind keineswegs nur verschrobene Alte, denen der Weg dahin suspekt war und die die Segnungen des Wohlstands nicht mit einem Ausverkauf des Landes bezahlen wollen. Zum Beispiel: Baldur Sigurdsson, 38, Pferdezüchter aus Saudárkrókur im Norden Islands und in der Sommersaison leidenschaftlicher Busfahrer. Die Hauptstadt, einst Mekka eines globalen Ausgeh-Jetsets, mag er nicht. „Mir gefällt Reykjavik, wenn ich es im Rückspiegel sehe.“ Vor der Überquerung des Jökulsá á Brú im Osten des Landes, eines ehemals gewaltigen Gletscherflusses, legt er einen didaktischen Stopp ein. „Seht ihr, wie der Wasserspiegel gefallen ist“, ruft er den aussteigenden Touristen zu, die gehorsam die kahl liegenden Uferböschungen fotografisch dokumentieren, „alles wegen dieses vermaledeiten Stausees!“ Stromaufwärts ist ein neues Wasserkraftwerk errichtet worden, dessen Elektrizität einzig dazu diene, mittels ins Land gelockter Aluminiumwerke Steuereinnahmen zu erzielen. Dabei könne Island seinen Energiebedarf mit Geothermie decken.Das Wasserkraftwerk versteht auch Jon Haraldsson nicht. Er ist letzter Bewohner eines nicht weit entfernten Tals, in dem er nach dem Tod seiner Frau 1995 Landwirtschaft betreibt. Allein, in der Gesellschaft seines Hundes. Die Isländer seien über Jahrhunderte selbst klar gekommen, sagt Haraldsson, durch den Reichtum ihres Landes, auch in harten Zeiten: „Einsamkeit ist der beste Nachbar“. Die Welt der EU mit ihren Regeln, Verhandlungen, Einigungen und die der Finanzspekulation, mit ihren Zahlen, Übertreibungen, Täuschungen, sind hier weit weg.Sie werden es wohl bleiben.