Der italienische Philosoph und Aktivist Antonio Negri ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Sein Weggefährte Sandro Mezzadra beschreibt die Besonderheit seines Denkens: Er suchte die Erkenntnis in den ungeheizten Räumen sozialer Bewegung
Den Krieg aller gegen alle kann nur der Staat verhindern. Diese wirkmächtige Vorstellung stammt aus dem Vermächtnis von Thomas Hobbes. Bis heute prägt sie politisches Denken. Dem widersprechen Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem neuen Buch Common Wealth energisch. Sie fragen nicht, was der Mensch sei, sondern was er werden könne.
Privateigentum und politische Repräsentation, argumentieren die Autoren, behindern die vollständige Entwicklung menschlicher Fähigkeiten. Die Menschen finden ein Gemeinsames vor (Bodenschätze, Luft oder Wasser), und sie erschaffen mit ihrer Arbeit täglich ein weiteres Gemeinsames. Sie brauchen weder einen Kapitalisten, der es für sie in Besitz nimmt, noch einen Staat, der es für sie verwaltet. Sie kön
altet. Sie können ihre Produktion und ihre Regierung selbst organisieren.Den ökonomischen Unterbau dieser sympathisch anti-autoritären These liefert ein gewandeltes Verhältnis von Kapital und Arbeit. Die Produktionsweise verändert sich ähnlich epochal wie zu Beginn der Industriellen Revolution. So wie sich seinerzeit die Landwirtschaft industrialisiert hat, folgen heute alle wirtschaftlichen Sektoren dem Muster der immateriellen Arbeit. Deutlich orientieren sich die Autoren hier am Beispiel von IT-Branche und Kreativindustrie. Sie beobachten, wie die Grenze zwischen Arbeit und Leben, Produktion und Reproduktion verschwimmt und selbst Affekte nutzbar gemacht werden. Produktion und Gesellschaft sind untrennbar verbunden, alle Menschen permanent produktiv. Kommunikation und soziale Beziehungen erlangen eine zentrale ökonomische Bedeutung. Mit einem bei Foucault entlehnten Begriff: Die Produktion wird biopolitisch.Erschöpftes KapitalIhre Ressourcen unterliegen keiner Knappheit. Informationen und Wissen verbrauchen sich nicht, wenn man sie teilt. Sie vermehren sich eher. Die Produktivkräfte dieser Ökonomie tendieren daher immer zum Exzess; sie sind so gewaltig, dass das Kapital sie nicht mehr zu entwickeln vermag. Biopolitische Arbeit ist zunehmend autonom: Selbstorganisierte Netzwerk-Produzenten stehen einem erschöpften Kapital gegenüber, das keine Innovationen mehr hervorbringt. Es kann dem Arbeitsprozess weder Struktur noch Impulse geben und eignet sich bloß den erwirtschafteten Reichtum an. „Ausbeutung“, schreiben Hardt und Negri, trete daher als „Expropriation des Gemeinsamen“ auf.Das Kapital steht nicht bloß außen vor, es errichtet das Hemmnis des Privateigentums. Wer aber beispielsweise Software weiterentwickeln will, darf die Quellcodes nicht privatisieren, sondern muss sie allen Produzenten als Gemeinsames zu Verfügung stellen. Im Gegensatz zu anderen linken Theoretikern verbinden die Autoren ihre Kritik am Privateigentum jedoch nicht mit einem Plädoyer für die Stärkung der Öffentlichen Hand.Sie schlagen einen dritten Weg vor: die „Demokratie der Multitude“, verstanden als Selbstregierung jenseits des Staates und gemeinsam organisierte Produktion jenseits des Kapitals. Tatsächlich halten die Autoren eine weltweite Revolution für nötig, gedacht nicht als Sturm auf ein globales Äquivalent des Winterpalastes, sondern als langsame Entwicklung einer neuen Gesellschaft im Inneren der alten. Sie beschwören dabei keinen zwangsläufigen Fortschritt. Faktisch mag sich die gegenwärtige Wirtschaftsweise überlebt haben. Doch aus ökonomischen Krisen geht der Kapitalismus meist gestärkt wieder hervor. Entscheidender sind die subjektiven Krisen: Das Ende des Kapitalismus muss politisch gewollt und herbeigeführt werden.Doch das kann dauern. Einer schnellen Verbesserung der Lebensbedingungen wollen Hardt und Negri sich daher nicht verschließen. Vielmehr skizzieren sie die Umrisse eines Reformprogramms auf globaler Ebene. Einmal implementiert, würden diese Maßnahmen dem Kapitalismus zwar eine Frist verschaffen – aber zugleich über ihn hinausweisen. Ziel dieser Reformen ist, der biopolitischen Produktion Hindernisse aus dem Weg zu räumen.Zunächst müsse daher in die Infrastruktur im weitesten Sinn investiert werden. Da in der biopolitischen Produktion niemand entbehrt werden kann – die Autoren argumentieren hier bewusst nicht ethisch, sondern beschränken sich auf die ökonomische Perspektive –, ist es nicht tragbar, ganze Bevölkerungsteile in Elendsgebieten vegetieren zu lassen. Sie brauchen saubere Luft und Wasser sowie adäquate Ernährung. Weiter bedarf es einer „weltweiten Bildungsinitiative“, damit jeder die notwendigen kollaborativen Fähigkeiten und den Umgang mit Sprache oder Ideen erlernen kann. Nötig wäre überdies eine „offene Informations- und Kulturinfrastruktur“: gesicherter und freier Zugang zu Computernetzwerken, Codes sowie kulturellen und wissenschaftlichen Werken. Patente und Copyright hingegen beschränken die Nutzung des Wissensbestandes und erschweren Innovationen.Ein zweites Reformpaket zielt auf größere Freiheit. Biopolitische Produktion benötigt die „vorteilhafte Begegnung“ mit dem Anderen, wie sie im günstigsten Fall in Metropolen glückt. Nur eine konsequente Bewegungsfreiheit gestattet, dass man diese Begegnungen suchen – und dort bleiben kann, wo man sie gefunden hat. Dafür schlagen die Autoren eine offene Staatsbürgerschaft vor. Zeitfreiheit wiederum würde die Autonomie und damit die Produktivität der biopolitischen Arbeit erhöhen. Demgegenüber erweist sich Prekarität als Einschränkung von Zeitsouveränität, da sie kurzfristige Abrufbereitschaft verlangt. Ein garantiertes Grundeinkommen würde hier Abhilfe schaffen. Gestärkt werden muss schlussendlich die Fähigkeit, soziale Beziehungen aufzubauen. Als probates Mittel empfehlen die Autoren, partizipatorische Demokratie auf allen Ebenen einzuführen. Dabei könnte die Multitude zugleich ihre Selbstregierung einüben. Ziel ist eine Demokratie, in der Gleichheit nicht Gleichartigkeit oder Homogenität verlangt. Die Autoren kleiden das in das Bild eines „großen Gesprächs“, das umso produktiver gerät, je mehr unterschiedliche Menschen freiwillig daran teilnehmen. Hardt und Negri suchen dabei nicht das harmonische Ideal, in dem alle Gegensätze versöhnt sind. Vielmehr begreifen sie Konflikte als produktiv. Deren Energie soll eine beständige Entwicklung erlauben. Leider bleibt die Demokratie der Multitude an einigen Stellen unbestimmt. Hardt und Negri kritisieren, politische Repräsentation vereinheitliche die Subjekte zum Volk und distanziere sie zugleich von ihren Vertretern. Aber folgt daraus, dass Entscheidungen überhaupt nicht mehr delegiert werden sollen? Selbst wenn man die Fähigkeit zur Selbstregierung ähnlich einschätzt wie die Autoren, kann man nicht bestreiten, dass manche Probleme zu komplex sind, um sie in einem großen Gespräch zu klären, zumal auf globaler Ebene. Schon lokal kann es überfordernd wirken, über alles basisdemokratisch zu entscheiden, würde das doch heißen, jede Alltagsfrage zu politisieren. Aber wie könnte eine Delegation aussehen, die nicht in die Fallen der Repräsentation tappt? Hilft ein imperatives Mandat weiter oder die Rotation der Delegierten?Vorteilhafte BegegnungSolche Einwände schmälern die Qualität dieses großen Wurfs nicht. Schon weil Hardt und Negri in Common Wealth gekonnt aus unterschiedlichsten Quellen schöpfen, ist das Buch lesenswert. Zentrale Einflüsse stammen von Spinoza, Marx und Foucault. Zugleich bündelt Common Wealth kritische akademische Diskurse, etwa aus den Black, Queer und Postcolonial Studies. Die Vielzahl originell verknüpfter Stränge bürgt für Lesevergnügen, allerdings auch für voraussetzungsvolle Lektüre: Der Fürst in der Einleitung verweist auf Machiavelli und Gramsci, ohne dass dies eigens benannt würde. Begriffe wie „Ereignis“ und „Entscheidung“ können an manchen Stellen als Anspielung auf Alain Badiou und Carl Schmitt gelesen werden. Common Wealth ist ein in Methode und Denkbewegungen durch und durch philosophischer Text.Das Buch glänzt trotz einiger pathetischer Wendungen durch seinen Stil und ist mit viel Sprachgefühl und Fachkenntnis übersetzt worden. Nicht nur deshalb handelt es sich bei Common Wealth um das bisher beste gemeinsame Werk von Michael Hardt und Antonio Negri. Das Buch ist konzentrierter geschrieben, ausgereifter und stimmiger als seine Vorgänger. Common Wealth bereichert linkes Denken auch dann, wenn man nicht alle Grundannahmen und Schlussfolgerungen teilt.