Wenn der Chansonnier Georg Kreisler am 6. Juni dieses Jahres, einen guten Monat vor seinem achtundachtzigsten Geburtstag und rechtzeitig zum Erscheinen seines Lyrikbandes „Zufällig in San Francisco“, mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet wird, beruht diese Ehrung auf einem mehrfachen Missverständnis.
Einerseits kommt sie zu spät: Denn wer hätte einen Literaturpreis, dem ein des Jakobinismus verdächtiger, gleichwohl als Klassiker rubrizierter romantischer Idealist den Namen gibt, früher erhalten dürfen als er? Andererseits kommt sie zu früh: Denn anders als die meisten Liedermacher, die noch gelegentlich mit ihrem Repertoire durch die Lande tingeln, hat Kreisler sich im Alter stark verändert. Er hat Romane und eine Autobiographie
iographie geschrieben und viele seiner Lieder umgetextet, weil sie ihm nicht mehr zeitgemäß erschienen. Statt auf sein Lebenswerk wie auf ein Denkmal zurückzublicken, behandelt er es als work in progress.Damit freilich potenzieren sich die Missverständnisse. Es könnte nämlich der Eindruck entstehen, Kreisler werde geehrt, weil er noch immer schöpferisch und wandlungsfähig sei – einer jener jungen Alten, die unsere obsessiv agile Gegenwart so schätzt. Das jedoch ist ebenfalls falsch. Denn zum einen war die Entwicklung, die Kreislers Werk in den vergangenen Jahren genommen hat, nicht unbedingt eine zum Besseren. Zum anderen wäre es ungerecht, ihn am ästhetischen Gestus jener Klientel zu messen, die sich in Deutschland Liedermacher nannte und die Jugend gepachtet zu haben glaubte. Im Gegenteil lässt sich Kreislers Schaffen, auch wenn ihm selbst dies nicht bewusst sein mag, als Gegenentwurf zum Unwesen deutscher Liedermacherei verstehen.Gegenstück zu BiermannDie Bewegung der Liedermacher, die ihre Wurzeln in den frühen sechziger Jahren hat und sich im Zuge der Studentenbewegung politisierte, hatte mit dem französischen Chanson und dem populären jüdischen Lied, auf die sie sich teilweise berief, wenig gemein. Das Chanson und der jüdische Schlager, wie er in der Weimarer Republik populär gewesen ist, waren Erscheinungsformen urbaner Unterhaltungskultur. Ihr Blick auf die Moderne war melancholisch und euphorisch zugleich. Sie betrauerten den Verlust überkommener Sicherheiten, die Liquidierung des Zweckfreien in einer nüchternen Gegenwart, aber sie priesen auch die Leichtigkeit, Frivolität und Wurzellosigkeit der Stadt. An den Chansons von Georges Brassens, aber auch an den jüdischen Schlagern eines Max Hansen oder Willi Rosen aus den zwanziger Jahren, die Kreislers „Nichtarischen Arien“ ähneln, lässt sich dies erkennen.Die deutschen Liedermacher dagegen waren Nachkommen der Jugendbewegung. Sie verachteten Zivilisation, Amerikanismus, Technik und Abstraktion und verherrlichten die bodenständige, basisdemokratische Kameradschaft. Kreislers wichtigstes Instrument, das Klavier, zu dessen Virtuose er als Emigrant in amerikanischen Bars geworden war, blieb den Liedermachern, die Klampfen und weltmusikalischen Klimbim bevorzugten, immer fremd. Und seine poetischen Verfahrensweisen – das surreale Lautspiel, die Sprachkritik, Kalauer und Nonsense – stammen aus ästhetischen Traditionen, die es in Deutschland, anders als in Österreich, immer schwer hatten.Dennoch waren es die Liedermacher, die Kreisler hierzulande einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machten. Im Zuge dieser Popularisierung entstanden eine Reihe von Schallplatten, die Kreisler zwischen 1968 und 1975 teils mit seiner damaligen Partnerin Topsy Küppers, teils allein eingespielt hat: Anders als die anderen von 1969 mit dem eindringlichen kleinen Lied „Warum?“, einer Art lakonischem Gegenstück zu Wolf Biermanns großmäuliger Ermutigung im Steinbruch der Zeit; die Vorletzten Lieder von 1972 mit ihrer Mischung aus Militanz und Surrealismus; schließlich „Allein wie eine Mutterseele“ und „Purzelbäume“ von 1974 und 1975, die gegen blinde Politisierung und autoritäre Staatsverherrlichung einen konzessionslosen Individualismus vertraten. Politisch im Sinne des politischen Liedes ist kaum eines der dort versammelten Stücke. Ihr Medium ist die Parodie, die den Jargon der Reaktion adaptiert, um ihn gegen sich selbst zu kehren, wie es auch in Kreislers Wiener Liedern geschieht, die den Schmäh als Fratze der Inhumanität entlarven. Und wo die Liedermacher in Flugblattmanier zur Revolution aufrufen, zeichnet Kreisler das Bild einer besseren Zukunft in einer klang- und unsinnsverliebten Sprache in der Nachfolge von Ringelnatz und Morgenstern, etwa in seinen Liedern „Der Tag wird kommen“ oder „Die Schizophrenie“.Dass sich Kreislers Werk jeder Forderung nach politischer Eindeutigkeit und identitärer Parteinahme verweigert, merkten auch die Liedermacher schnell, die ihn nie ganz als einen der ihren akzeptierten. Was Kreisler selbst auch nicht wollte. Statt dessen kooperierte er in späteren Jahren mit dem Chansonnier Tim Fischer, dessen Varietétimbre Kreislers schillernden Chansons besser entspricht. Gewisse Zugeständnisse an die Forderung nach Eindeutigkeit und Konsumierbarkeit hat er im Alter aber doch gemacht. Fast keines seiner Lieder aus den sechziger und siebziger Jahren hat er in den zahlreichen Bearbeitungen für Neuaufnahmen unverändert gelassen. Aus einem Anarchismus der Form ist auf diese Weise oft genug platte Gesellschaftskritik geworden.Angemessene FlapsigkeitDie in Zufällig in San Francisco versammelten Gedichte und Skizzen setzen diese Tendenz fort. Die Neudichtung des Nonsens-Klassikers „Zwei alte Tanten tanzen Tango“ etwa kommt als parodistische Texterklärung daher und nennt die enigmatischen Titelfiguren „zwei Emanzen“, die „in Mähren aufgewachsen und gestorben“ seien. Auch wenn solche scheinbaren Konkretisierungen am Ende ad absurdum geführt werden („Doch beim Dichter nachzufragen / schafft das größte Unbehagen“), erreicht der Text nicht die Dichte und Radikalität des früheren, der sich ohne jede selbstreflexive Koketterie dem deutenden Zugriff verweigert, indem er ganz und gar auf seine Sprachform vertraut.Die Neigung, Aussagen, die in früheren Gedichten in der ästhetischen Form enthalten sind, unmittelbar auf die Inhaltsebene zu übertragen, ist vielen der hier versammelten Texte eigen. Manchmal entsteht eine angemessene Flapsigkeit, die an die Lyrik von Tucholsky oder Mascha Kaléko erinnert. Etwa in dem Gedicht „Außenpolitik“, das auf den Streit zwischen „altem Europa“ und „neuer Welt“ Bezug nimmt, um Europa als Gesellschaft der „Soundsos“ und „Gernegroße“ bloßzustellen: „Auf einer Insel irgendwo / sind die United States, / und manchmal fliegt Herr Soundso / dorthin und fragt: Wie geht’s? / ... / Amerika ist beispiellos, / ist groß und voller Kraft, / Europa wäre gerne groß / und hat’s noch nicht geschafft.“ Oder in „Ein Ärgernis“, wenn Kreisler sich gegen das populäre Gerücht wehrt, er sei ein „Kabarettist“. Oft genug aber bedienen die Texte abgeschmackte populistische Vorurteile – gegen die da oben („Wir sind da, um zu schuften und notfalls zu dienen / den Bossen, den Herrschern, dem Geld, den Maschinen“); gegen die Kapitalisten („Bewerbe Konsumenten / und brate Konkurrenten!“); gegen „die Behörden“, „die Religion“ und so weiter. Als wollte Kreisler endlich doch noch ein gewöhnlicher „politischer Dichter“ werden.Freilich gibt es auch mehrere Ausnahmen von dieser Tendenz, Texte, in denen die spinnert-melancholische Phantasie der früheren Chansons aufleuchtet. Zu ihnen gehört das titelgebende Gedicht „Schwache Stunden“, in dem das lyrische Ich am „Strand von San Francisco“ den „Mond“ beobachtet, der „eine alte Narbe“ in ihm aufzureißen scheint. Oder „Das geheime Tor“, ein ebenso makabres wie heterodoxes Bekenntnis zum Judentum und zu Israel, dem Land, in dem das Ich sich vornimmt, „die Bibel wegzusingen“ und „die Tauben umzubringen“, womit sich Kreislers berühmtes Lied vom „Taubenvergiften“ rückblickend nicht zuletzt als ein Angriff auf die verlogene Friedenseligkeit der postnazistischen Ära erweist. Wenn der Hölderlin-Preis Kreisler für solche Zeilen zugesprochen wird, ist er doch nicht nur ein Missverständnis.