Im Wohnzimmer steht ein Toaster. An der Wand hängt ein schwarzweißes Zeitungsfoto, das einen amerikanischen Jungen mit einem Baseballschläger zeigt. Im Raum nebenan, dem mit der Ballettstange und dem weichen, beigen Boden, steht eine Badewanne mit fast zärtlich verbundenen Füßen. – So könnte das eigentlich weitergehen. Man beschreibt diesen Ort und identifiziert darüber das Leben seiner Bewohnerin: der Tänzerin und Choreografin Susanne Linke. Nicht nur weil diese Wohnung in einem Berliner Bürgerhaus in Charlottenburg ausgestattet ist mit einem feinen Sinn für Arrangements, sondern vor allem weil man in diese Wohnung tritt und einem sofort schwindlig wird wie bei einem 360-Grad-Schwenk im Kino: Alle Türen stehen weit offen, u
Kultur : Körper lügen nicht
Zwischen Badewannen, Tanzgeschichte und Youtube-Schnipseln von steifen Politikern: ein Besuch bei der Tänzerin und Choreografin Susanne Linke in Berlin
Von
Matthias Dell
, und so hält der Blick nicht still, er rast immer weiter. Vom Flur ins Wohnzimmer, links ins Schlafzimmer, rechts in den Übungsraum mit der Ballettstange, von da aus auf ein anderes Zimmer zu, in dem gerade ein Mann tanzt. Dann geht es nach rechts wieder in Flur, von dem links die Küche liegt, das Bad. So ist man einmal rumgekommen um die Welt, die diese Wohnung ist.Welt ist kein falscher Begriff, denn auf dieser Etage in Berlin-Charlottenburg sind drei große Namen des deutschen Tanzes versammelt: neben Susanne Linke Urs Dietrich, ihr Lebensgefährte, der Mann, der da gerade tanzt und der noch immer das Tanztheater in Bremen verantwortet, dem er und Linke in den neunziger Jahren gemeinsam vorstanden. Und auf dem Klingelschild der Wohnung gegenüber steht „Reinhild Hoffmann“, die ein paar Wochen älter ist als Susanne Linke; beide haben in den siebziger Jahren, nach Pina Bausch, das Folkwang-Tanzstudio in Essen geleitet.Reden ist nicht die Form, in der sich Susanne Linke sich am liebsten ausdrückt. Das mag bei einer Tänzerin eine banale Feststellung sein, bei ihr hat es eine besondere Bewandtnis. Als Baby war sie an Meningitis erkrankt, der Spracherwerb verzögerte sich, bis sie sechs Jahre alt war. Man merkt das noch heute, da ihr die Worte immer ein wenig aus dem Mund zu fallen scheinen, ohne vollends geformt zu sein. Es ist nicht ehrenrührig, das zu bemerken, denn man kann dadurch verstehen, wie Susanne Linke zur ihrer Kunst gekommen ist und was das für sie bedeutet. Wenn sie heute davon erzählt, wie die ältere Schwester sie immer mitnahm, wie sie keine Außenseiterin war in dem kleinen Dorf bei Lüneburg, in dem sie geboren wurde, wie ihre Mutter sich gekümmert hat, wie sie, kurz nach dem Krieg, zu einem Hamburger Logopäden geschickt wurde, bei dem sie in harter Arbeit Grammatik und Sprechen gelernt hat, dann fällt immer wieder das Wort „Glück“.Auf Münder schauenFast könnte man aus der Abweichung eine ästhetische Theorie formulieren: Die größten Theatererneuerer haben aus dem, was nicht die so genannte Norm ist, ihre Kunst gemacht, Robert Wilson, Einar Schleef, die stotterten und das übersetzt haben in Bewegung und die Wiederholung der Bewegung, immer wieder. Bei Susanne Linke ist es etwas anders: Weil die Sprache ihr fern war, hat sie früh ihren Körper erkannt als Ausdrucksmittel. Und weil sie die Sprache sich hat erarbeiten müssen wie ein Programm und nicht gelernt hat, wie Kinder Sprechen lernen, hat sie es später vielleicht auch leichter gehabt, die Härten der Tanzausbildung zu akzeptieren. Es ist überhaupt faszinierend zu sehen, dass das, was man von außen immer als Handicap bezeichnet, bei näherer Betrachtung nur eine andere Form von Wahrnehmung ist: Ihre Schwerhörigkeit, sagt Susanne Linke, habe dazu geführt, dass sie stärker auf den Klang von Stimmen achte als darauf, was sie sagen. Und auf Münder schaue.Die Härten des Tänzerdaseins, das ist ein Thema, auf das man immer wieder kommt im Gespräch mit der asketischen Frau, die genau weiß, wie weit ihre Energie reicht. Die heute, mit 66, immer noch tanzt, demnächst in Rom wieder die Badewanne von nebenan („45 Kilo“) durch einen Raum tanzend schieben wird, ein Teil aus ihrer Choreographie Im Bade wannen von 1980, die dafür aber mehr schläft, weil der Körper sich erholen muss. Es hat etwas Unnachgiebiges, wie Susanne Linke auf Disziplin insistiert, etwas Preußisches („meine Heimatstadt Berlin“), etwas Protestantisches (sie wuchs in einem Pastorenhaushalt auf), und dasselbe sagt man über ihre Stücke, aber es geht nicht um die Lust am Drill, sondern um Einsicht in die Notwendigkeit: Die Befreiung des Körpers wartet erst hinter aller Pein und Mühsal. Man kann das als praktische Anwendung von Kleists Marionettentheater verstehen: Erst muss man einmal um die Welt rum, durch die „Disziplinschule“, „den Fleischwolf“ durch, ehe die Leichtigkeit kommt. Ballett hat sie nie interessiert, aber es war die Voraussetzung für den modernen Tanz, und gleich springt sie auf, um Position 2 vorzuführen. Seine Grammatik muss der Körper lernen so lange, bis die Knie bei der Deklination keine Fehler mehr machen.Gelernt hat Susanne Linke spät, nach Lüneburg und Westberlin zog die Familie nach Hessen, wo sie die „zwei Ruths“ fand, bei denen ihr Körper sich in der Gymnastik richtig fühlte. Für die Wiedereröffnung des Frankfurter Schauspielhauses 1963 durfte sie unter Dore Hoyer proben, angeregt ging sie ein Jahr später nach Berlin, in das Studio von Mary Wigman. Die Geschichte des Tanzes, und das ist ein anderes Thema, was man bei Susanne Linke sehr gut verstehen kann, ist eine Abfolge von großen Frauen, die, wie Wigman und Hoyer, später Pina Bausch, bis zu ihrem Tod weitergegeben haben, was sie gelernt hatten. Zwar gibt es beim Tanz schriftliche Überlieferungen; das eigens entwickelte Notationsverfahren Rudolf von Labans, sagt Susanne Linke, sei aber so komplex, dass es für sie nicht brauchbar sei. Was hilft, sind die Videoaufzeichnungen, die es seit geraumer Zeit gibt; vielleicht macht die Technik es Susanne Linke leichter, keine Schule begründet, sondern an ihren eigenen Arbeiten gesessen zu haben, die dank der Unterstützung des Goethe-Instituts sich über die ganze Welt erstrecken. Und sie sitzt noch immer, gerade bereitet sie ein Stück vor, dass im nächsten Jahr beim Berliner Festival „Tanz im August“ Premiere haben soll.Der amerikanische JungeFür die Aporien der Tanzgeschichte ist Susanne Linke schießlich bedeutsam, weil sie nicht nur bekannt geworden ist durch eigene Arbeiten wie Im Bade wannen (1980), von der es das berühmte Bild gibt, auf dem sie, scheinbar lässig, auf dem Rand der Wanne hängt, dabei kann man sich von ihr jeden Muskel aufzählen lassen, der da gebraucht wird; wie Schritte verfolgen, eine autobiografische Arbeit, zu der es ein schönes Buch gibt; wie Afectos humanos (1987), ihre Dore-Hoyer-Hommage. Bekannt geworden auf noch mal ganz andere Weise ist Susanne Linke durch Le dernier spectacle (1998) von Jérôme Bel. Darin hat der französische Konzepttanztheatermacher – von „Konzeptleuten“ hält Susanne Linke im allgemeinen nicht so viel, weil da viel Kopf ist und wenig Fleischwolf – ein Stück aus Wandlung zitiert, einer Schubert-Bearbeitung. Zitieren wollen. Denn so einfach, und da ist Susanne Linke wieder in ihrem Element, wie es auf der Aufzeichnung aussah, war es nicht. Also hat sie Bel und seinen Tänzern drei Tage, das ist jetzt nicht ihre Wortwahl, die Flötentöne beigebracht. Susanne Linke pfeift nur kurz und knackig, wenn sie den Eindruck hat, jemand wolle es sich zu leicht machen.Man kann mit Susanne Linke auch über Politik sprechen. Und zwar einmal ganz anders: „Wenn ich die Kanzlerin wäre, würde ich alle Politiker zwingen, dass sie Yoga machen oder Tai-Chi, sich also richtig bewegen müssen.“ Der amerikanische Junge mit dem Baseballschläger ist niemand anderes als Barack Obama, von dem sie so restlos begeistert ist, dass sie einen kleinen Scherz in Richtung des Raums macht, in dem Urs Dietrich tanzt. „Mit Worten kann man lügen, mit dem Körper kann mich nicht lügen“, sagt Susanne Linke, und deshalb soll die Probe aufs Exempel gemacht werden. Youtube-Schauen mit Susanne Linke.Schröder fällt durchErster Ausschnitt: Wladimir Putin, nicht tanzend, aber angelnd, reitend, Auto fahrend.Susanne Linke: Ich denke, der ist körperlich ganz gut drauf. Putin hat was.Der Freitag: Wäre er ein guter Tänzer?Ja.Nicht zu muskulös?Nee, nee, das ist muskulös, aber nicht zu. Er hat keinen Bauch, das ist schon eine Leistung. Zeigt er auch mit Stolz, weil das Disziplin verlangt. Natürlich ist das ein Macker, völlig Testosteron gesteuert.Nächster Ausschnitt: Idi Amin, der einstige ugandische Diktator (Videoausschnitt ab Minute 5:30).Kann man ein böser Mensch sein und trotzdem gut tanzen?Das Gesicht ist mir nicht sympathisch, das kann ich schon sagen. Hier tanzt er ja in einer Menge, wo alle tanzen, da macht man schon mal mit. Aber dem Gesicht traue ich nicht.Wieso nicht?Wenn man mit Überzeugung tanzt, muss man eine gewisse Unschuld haben. Und wenn man böse ist, ist man nicht mehr unschuldig, dann hat man zu viele Hintergedanken im Kopf, Ränkespiele. Man vermeidet zu zeigen, was man eigentlich denkt. Das sieht man hier gut: Er guckt ganz verstohlen.Nächster Ausschnitt: Gerhard Schröder tanzt Schuber zu „Die Capri-Fischer“ in einer Gartenkolonie.Steif, total steif. Very german. Schreckliche Musik. Um Gottes willen.Es ist ihm eigentlich unangenehm?Der Arme muss da durch. Aber das ist nicht glaubwürdig. Er spielt die Rolle. Der fällt durch.Zuletzt: Barack Obama in der Show von Ellen DeGeneres, er kommt herein zu „Crazy in Love“ von Beyoncé.Das ist ganz was anderes. Gucken Sie mal, er bewegt die Hüften!Man glaubt gar nicht, dass das ein Politiker ist.Obama tanzt mit Ellen.Da macht sie schon viel zu viel, geht viel zu stark hoch und runter, er bleibt auf einer Ebene.Die Musik ist besser als bei Schröder.(Steht auf und macht vor) Und er hält den Kopf ruhig, bewegt sich von innen und in der Hüfte ganz subtil. Mehr ist gar nicht nötig. Sie macht auf Sex. Das ist der große Unterschied, was aber oft nicht bemerkt wird. So unterrichte ich auch. Selbst die Profitänzer können nicht die Hüften bewegen. Da bin ich streng.Der Toaster steht im Übrigen im Wohnzimmer, weil dort gefrühstückt wird.