Wir pflegen und hegen, was uns abhanden kommt: Bedrohte Arten, bedrohte Wörter, Behinderte oder die Familie. Folgt man den Debatten der letzten Zeit rückt nun sogar „das Bürgertum“ auf die rote Bestandschutzliste. „Echte“ Citoyens wie Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler sahen das Ende der bürgerlichen Epoche allerdings schon vor Jahren besiegelt. Die Überwältigungsängste und Bedrohungsszenarien sind mit der Finanzkrise nicht geringer geworden und das Personal erlebt die Globalisierung ebenso wie Fest und Siedler als einen „Naturprozess“, dem es wie einem Tsunami ausgeliefert ist.
Willkommen sind da Volksaufklärer und intellektuelle Zuchtmeister, die in der rasant beschleunigten Zirkulation den Überblick zu beha
ck zu behalten und der gefühlten materiellen und symbolischen Enteignung etwas entgegenzusetzen versprechen. Gleichgültig ob sie „nur“ als so genannte Tabubrecher auftreten oder als anstiftende Herausforderer, verlangen sie ihrem Publikum etwas ab: Es muss sich in Stellung bringen, sich für eine Seite entscheiden und unter Umständen sogar den „inneren Schweinehund“ überwinden, wenn es an der Erweckungs- und Distinktionsbewegung teilhaben will. Peter Sloterdijk und Thilo Sarrazin sind im vergangenen Jahr die beiden zufälligen, aber wirksamsten Exponenten dieser Aufmerksamkeit fordernden „Es-muss-Schluss-sein“-Propaganda. Wobei sich Ersterer mit seinem angemessen verklausulierten Askese-Raunen an ein absetzungsgewilltes Bildungsbürgertum wendet, Letzterer mit seiner pseudowissenschaftlich grundierten und statistisch gesättigten Kampfschrift an ein technophil-faktengläubiges Mittelschichtspublikum, dem er den scheinbar positiven Nachweis existenzieller Bedrohung liefert.Überlebensfabrik Familie„So kann es mit Deutschland nicht weitergehen “, sagt der eine, „Du musst dein Leben ändern“, der andere. Thilo Sarrazin geht es um eine Grenznutzenrechnung: Wie viel Fremdheit hält Deutschland aus, bis es sein „Wesen“ verändert? Wie viel bildungsunfähige und –unwillige muslimische Transferempfänger verkraftet es, ohne sich am „Substanzverlust zu verzehren“? Und nicht zuletzt: Wo liegt der Grenznutzen des Erwerbsbürgers? Bei 60 Prozent der mittleren Arbeitsproduktivität, rechnet Sarrazin vor. Der Rest ist unproduktiv, überflüssig. Sloterdijk hat dagegen eher die Eliten im Blick, die er „auf Augenhöhe mit der Weltlage“ bringt, aus der ignoranten „Frivolitätskultur“ reißt und einem Realitätsdruck aussetzt, der sie in selbst überfordernde „Vertikalspannung“ bringt. Wer in die neue „immunologische“ Gemeinschaft aufgenommen und sich der „Ethik des Unmöglichen“ gewachsen fühlen will, muss sich resistent machen gegen die Angst, darf Mitleid nur zeigen, wenn es opportun ist.Zwischen beiden scheint es zunächst wenig Verbindendes zu geben, doch sie treffen sich, wo es um den Unwillen der Leistungsträger geht, das „unrentable“ System weiter zu alimentieren. Sloterdijk wollte mit der „Revolution der gebenden Hand“ den Steuerstaat zugunsten einer Caritas erledigen, die die Bedürftigen der Willkür der Besitzenden überlässt. Sarrazin argumentiert als Technokrat und beziffert den „Armutskomfort“, den eine Hartz IV-Bedarfsgemeinschaft mit zunehmender, aber absehbar unproduktiver, weil „dummer“ Kinderschar generiert. „Staatlicher Transfer verführt zu einem bequemen Leben“; deshalb lohne es sich für die „Unfähigen und Faulen nach Deutschland einzuwandern, sofern sie in ihrem Heimatland arm genug“ seien. Auf jeden Fall, so ließe sich mit Sloterdijk folgern, hebt der „versorgende Sozialstaat“ die Betroffenen gerade nicht aufs „gespannte Seil“ einer asketischen Leistungsgesellschaft. Obwohl sich Sarrazin primär mit dem gefürchteten Niveauabfall durch die angeblich besonders „fruchtbaren“ Einwanderer-Communities befasst, ist ihm elitäres Denken nicht fremd. Die Transferempfänger zwingt er in ein kleinbürgerliches Tugendkorsett – Sparsamkeit, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit und ein puristisches Verständnis von Lebensqualität –, das kompatibel mit den Anforderungen der Erwerbswelt ist. Doch die besonders Begabten, die genetisch determiniert sind und sich seiner Ansicht nach folgerichtig aus den Mittel- und Oberschichten rekrutierten, will er nicht mit der Masse lernen lassen, sondern in Privatschulen. Die Leistungen eines Goethe oder Humboldts, so die Begründung, wären „in einer integrierten Gesamtschule in Rüsselsheim oder Duisburg“ gewiss nicht hervorgebracht worden.Dass es nicht nur darum geht, die Kinder aus bildungsfernen Schichten „gegen ihre Eltern“ zu erziehen und sie ihrem „anregungsarmen Milieu“ ganztägig zu entziehen, sondern die Elternhäuser auch fürsorglich zu belagern mit „Hausbesuchen“, passt zum kleinbürgerlichen Paternalismus Sarrazins, der gemessen am „immunologischen Aufstufungsprogramm“ Sloterdijks antiquiert wirkt. Beide konzentrieren sich auf die Schule als letzte verbliebene Instanz disziplinarischen Trainings, „üben, üben, üben“. Das Kloster steht für diese Zurichtung nicht mehr zur Verfügung; nun entfällt wohl auch noch das Militär. Auch unter diesem Aspekt ist die Debatte um soziale Pflichtdienste zu sehen.Ihre militante Aufrüstung erfährt Sarrazins naive Leistungsideologie allerdings erst durch die aggressiv vorgetragenen Thesen zur Bevölkerungspolitik. Der Boden ist gut vorbereitet mittels eines liberal sich kostümierenden Biologismus, der das Schicksal der „Überlebensfabrik Familie“ (Frank Schirrmacher) in die Verantwortung der gebildeten Frauen stellte.Der Geist der GebärprämieBedroht ist diese deutsche Schicksalsgemeinschaft nun angeblich von der muslimischen „Bevölkerungsbombe“. Diese Spur zieht sich von Samual P. Huntingtons Clash of Civilizations über Gunnar Heinsohns Söhne und Weltmacht bis hin zu Thilo Sarrazin, der die Vorstellungen vom Krieg der Kulturen und dem Fight der jüngeren Söhne um soziale Anerkennung banalisiert und ihn als innere Front im eigenen Land aufbaut. Bei ihm kriecht der „youth bulge“, der Jugendüberschuss, dann nicht mehr „aus den Gebärmüttern der palästinensischen Frauen“, um im Heiligen Krieg verheizt zu werden (Heinsohn), sondern aus dem der Muslima in Neukölln, die möglichst viel Sozialgeld abzocken will. Dagegen hilft nur qualitativ gesteuerte Migrationsauswahl und Begrenzung des Familiennachzugs.Müßig, an dieser Stelle das krude islamophobische Weltbild Thilo Sarrazins noch einmal aufzurufen. Seltener kommt allerdings zur Sprache, dass hier offenbar auch die Ängste älterer Männer gegenüber der „Flut“ junger, „fremder“, potenter Männer den Diskurs antreiben. Gleichzeitig ist Sarrazins Verteidigung gegen die „Kopftuchmädchen“ antifeministisch legiert, indem er die jungen deutschen Frauen mit einer Gebärprämie bestechen will: 50.000 Euro für den Nestbau stellt er in Aussicht.Was allerdings die Sarrazin vorgeworfene positive Eugenik betrifft, die ihn exkommuniziere, sollte die deutsche Mainstream-Gesellschaft darüber nachdenken, ob sie nicht in ähnlichem Fahrwasser treibt, wenn sie Hartz IV-Empfängern das Elterngeld vorenthält oder wenn künftig geschädigte Embryonen im Reagenzglas ausgesondert werden sollten. Ob „deutsches Wesen“ oder „gesundes Wesen“, es handelt sich in beiden Fällen um ein Qualitätsurteil.Immerhin würden 18 Prozent der deutschen Bevölkerung, sagen Umfragen, eine neue Partei unter Sarrazins Führung wählen. Sein auf Abschottung, Disziplinierung und Regression orientiertes Programm mobilisiert die Stammtische und noch etwas darüber hinaus. Doch um eine neue rechte Sammlungsbewegung zusammenzuführen, müsste der Tugendterror für die Massen angereichert werden durch einen Elitismus Sloterdijkscher Prägung. Das „Tabu einer rechten Partei“, ließ der in diesen Gefilden strauchelnde Medienwissenschaftler Norbert Bolz kürzlich wissen, sei nämlich nur durch ein „Coming out der Starintellektuellen“ zu brechen. Deren „Hofnarrenstatus“ beklagen auch die einschlägigen rechtsintellektuellen Plattformen: „Wer wird der deutsche Geert Wilders?“, fragt ein User etwa und spielt mit anderen das mögliche Personal durch: Martin Hohmann? Friedrich Merz? Aber die, beklagt ein „Hans Freyer“ (!), kriegen ja „ihre fetten Ärsche“ nicht hoch.Die nun scheinen, um im Bild zu bleiben, den etablierten Parteien allmählich auf Grundeis zu gehen. Auch wenn Sarrazin gewiss kein Geert Wilders wird, setzt er die SPD doch unter Entscheidungszwang und treibt die Union vor sich her. So ließ Angela Merkel am Wochenende wissen, dass sie den Einsatz von Hartz IV-Empfängern im Pflegebereich für durchaus möglich hält. Man muss nicht Thilo Sarrazins Vorurteile teilen, um bei dieser Idee zu schaudern. Und bei der Vorstellung, was uns diese Debatte noch alles bringen wird.