Der Freitag: Der Westen hat Angst, schreiben Sie. Wovor eigentlich?
Tzvetan Todorov: Sie gründet auf uralten Gewohnheiten. Jahrhunderte waren wir daran gewöhnt, die Welt zu beherrschen. Die Entschlüsse westlicher Politiker wirkten sich in der gesamten Welt aus – auch dann, wenn andere Staaten diese Entschlüsse nicht mittrugen, sogar gegen sie waren. Dieses Modell kommt nun an sein Ende. Der Süden der Welt ist nicht mehr bereit, sich durch eine Handvoll nördlicher Mächte beherrschen zu lassen. Darum fühlen wir uns bedroht, darum werden wir nervös.
Wir haben also Angst, weil wir von unserem unseren Wohlstand etwas abgeben müssen?
Zumindest können wir nicht mehr so selbstverständlich auf ihn rechnen. Wir können zum Beis
?Zumindest können wir nicht mehr so selbstverständlich auf ihn rechnen. Wir können zum Beispiel nicht sagen, ob wir unser Öl wegen der chinesischen Nachfrage in Zukunft immer noch günstig beziehen können. Vermutlich wird es teurer. Wahrscheinlich werden wir dann noch mehr Industrieanlagen schließen und eine noch höhere Arbeitslosigkeit ertragen müssen. Davor fürchten wir uns, können gegen diese Angst aber nichts ausrichten. Immerhin können wir sie berechenbar machen: Wir wissen, dass wir mit ihr leben. Dieses Bewusstsein kann uns helfen, zu Distanz auf uns selbst zu gehen.Trotz der wirtschaftlichen Herausforderungen widmen Sie sich in Ihrem Buch „Die Angst vor den Barbaren“ hauptsächlich unseren kulturellen Ängsten. Warum das?Weil die Kultur ein Sammelbecken unserer Ängste ist. Ob wir wollen oder nicht, wir werden in eine kulturelle Welt geboren. Wir lernen eine bestimmte Sprache, übernehme die Gewohnheiten unserer Eltern, später unserer Freunde. Ohne es zu wollen und ohne es wirklich zu bemerken, sind wir eingebettet in eine ganz bestimmte, regional geprägte Kultur. Und die gibt uns die Raster vor, durch die wir die Welt sehen. Das ist so selbstverständlich, dass wir es leicht vergessen. Jede Veränderung unserer Kultur nehmen wir darum als Aggression wahr. Die Anwesenheit einer fremden Kultur bedroht uns zwar nicht wirklich. Aber anders als den schleichenden Niedergang der Wirtschaft nehmen wir sie intensiv wahr. Und dann schlägt die Stunde der Populisten.Ja, in den USA zum Beispiel. Die Republikaner haben diesen Mechanismus begriffen. Über Jahre haben sie Wahlen dadurch gewonnen haben, dass sie ihre Themen nicht auf der politischen, sondern der kulturellen und moralischen Ebene suchten. Eigentlich sind sie die Partei der Wohlhabenden. Aber die sind in der Minderheit. Indem sie aber die Werte der Mehrheit beschworen, gewannen sie auch deren Stimmen. In Europa beobachten wir nun mehr und mehr vergleichbare Tendenzen. Sie selbst sehen das Verharren auf Traditionen mit Skepsis.Man muss begreifen, dass lebende Kulturen sich unausgesetzt verändern. Nur tote Kulturen verändern sich nicht. Wir können heute definieren, wodurch die byzantinische Kultur sich definiert – aber nur, weil sie untergegangen ist. Lebende Kulturen erfassen wir dagegen immer nur vorläufig, sie durchlaufen einen ständigen Wandel. Genau das beweist aber ihre Lebendigkeit. Denn Leben bedeutet Veränderung.Nun scheint es so, als hätten die Menschen im Süden der Welt das besser verstanden als wir.Sie sind bereit, ihre Traditionen für ein Leben in Wohlstand aufzugeben. Inzwischen wissen die Menschen selbst in den abgeschiedensten Regionen des Südens, dass sich Geld in Europa sehr viel leichter verdienen lässt. Sie fühlen sich erniedrigt, sie leiden darunter, keine Arbeit zu haben, leiden daran, kein würdiges Leben führen zu können – und das treibt sie an. Dafür sind sie durchaus bereit, ihre Traditionen zu opfern, sie zumindest eine Zeitlang aufzugeben. Wirtschaftliche Interessen verbunden mit weltweiter Information: das sind ungeheuer dynamische, dynamisierende Faktoren. Dennoch ist es riskant, ohne Kulturen und Traditionen zu leben. In Ihrer Stadt, in Paris, beobachten Sie, wie leicht man Kulturen auch verlieren kann. Ich sehe das bei einer Reihe von Migranten, genauer: den Nachkommen von Migranten. Oft sind sie jeglicher Kultur beraubt. Ihre Eltern füllen in der französischen Gesellschaft eine untere soziale Stellung aus. Und ihre in Frankreich geborenen Kinder sind weder mit der Kultur der neuen Heimat vertraut noch mit derjenigen, in der ihre Eltern aufwuchsen. Dementsprechend verfügen sie über kein inneres Exil, in das sie fliehen könnten. Ihr Inneres ist leer. Da Menschen aber ohne kulturelle Codes nicht auskommen, bilden sie Banden, Gangs, Gruppen, in denen sich ein bestimmter gemeinsamer Verhaltenscodex herausgebildet hat. Er dient ihnen als Kulturersatz, ist tatsächlich aber das Ergebnis einer Entkulturalisierung. Die Entkulturalisierung ist eine große Gefahr. Sie wirkt verrohend, sie lässt die Menschen aus allen Bindungen außer der der eigenen kleinen Gruppe fallen. Deshalb muss man alles tun, damit sie die Kultur der Gesellschaft erwerben, in der sie leben.Wenn das nun aber nicht gelingt – was tut man dann?Es kommt darauf an, zwischen dem herrschenden Gesetz eines Landes und seiner Kultur zu unterscheiden. Wenn man Verstöße gegen das Gesetz feststellt, gibt es keinen Grund, für mildernde Umstände zu plädieren. Denn jeder, der auf dem Territorium eines bestimmten Staates lebt, fällt unter dessen Gesetze. Zugleich schützen ihn diese Gesetze aber auch. Ganz anders verhält es sich mit Kultur und Religion. Jeder Mensch sollte die Religion praktizieren können, zu der es ihn zieht. Es ist nicht Aufgabe des Staates, über die Religion seiner Bürger zu wachen. Allerdings gibt es auch sehr schwierig zu entscheidende Fälle. Die Frage etwa, ob muslimische Frauen eigene Nutzungszeiten für Schwimmbäder zugestanden bekommen. Es ist schwierig, solche Fälle pauschal zu diskutieren. Eher sollte man die Dinge von Fall zu Fall entscheiden. Der Titel Ihres Buchs – „Die Angst vor den Barbaren“ – enthält eine ironische Volte: Zu Barbaren können wir selbst werden – und zwar schneller, als wir glauben wollten.Die instinktive, blinde Angst, die wir angesichts der angeblichen Barbaren empfinden, lässt uns selbst zu Barbaren werden. Der Gebrauch der Folter während der Kriege im Irak und in Afghanistan ist ein sehr anschauliches Beispiel für diese Barbarisierung unserer Gesellschaft. Außerdem wurden in Abu Ghraib und Guantánamo viele Unschuldige festgehalten. Wenn ich aber von „Unschuldigen“ spreche, setze ich stillschweigend voraus, dass dort auch Schuldige einsitzen. Ich setze dann auch voraus, dass es legitim war, sie zu foltern. Und das kann nicht sein. Es ist nicht nur zutiefst illegitim, Gefangene zu foltern; die Folter verwandelt auch uns selbst. Dadurch verlieren wir den Kampf, in dem wir uns befinden, denn wir werden genauso barbarisch, vielleicht sogar noch barbarischer als unsere Gegner. Letztlich bedeutet die in den westlichen Gefängnissen praktizierte Folter also einen Anschlagen auf die eigene Zivilisation. Der Westen verspielt seinen moralischen Kredit. Das leuchtet ein. Aber der Westen, sagen Sie, ist auch in anderen, weniger spektakulären Fragen nicht auf der Höhe der Zeit.Auch in seinem Dialogverhalten könnte er geschickter vorgehen. Denn worauf basiert ein Dialog? Zuallererst doch auf der Annahme, dass ich selbst nicht im Besitz der vollen und ganzen Wahrheit bin und mein Gesprächspartner auf ganzer Linie Unrecht hat. Glaubt man das, braucht man den Dialog gar nicht erst zu versuchen. Nein, ein echter Dialog muss davon ausgehen, dass mein Gegenüber mir Bedenkenswertes zu sagen hat, und dass ich seinen Argumenten zumindest grundsätzlich folgen kann. Gleichzeitig muss ich es aber auch hinnehmen, dass wir nicht in allen Punkten Übereinkunft erzielen. Wir müssen anerkennen, dass bestimmte Menschen zu einer bestimmten Zeit nicht so denken, wie wir es gerne hätten. Aber unseresgleichen bleiben sie trotzdem.