Handelte es sich bei der Sarrazin-Debatte nicht um ein Symptom kollektiver Sozialpathologie, sondern um eine rationale Auseinandersetzung, das Buch von Arye Sharuz Shalicar müsste darin eine Hauptrolle spielen. Enthält es doch alle Leitmotive, die darin vorkommen: die Schwierigkeiten junger Menschen mit „Migrationshintergrund“, die hohe Kriminalitätsrate von Ausländern in „sozialen Brennpunkten“, die Frage nach der Vereinbarkeit des Islam mit republikanischen Tugenden, ja sogar die nach der „Vererbung“ von Intelligenz. Shalicar böte sich als Medienliebling überdies weit besser an als der freudlose Ex-Finanzsenator. Gerade mal 32 Jahre alt, hat er etwas von einem knuddeligen Hiphopper und schreibt einen lässigen Stil. We
Kultur : Der rationale Kern der Islamophobie
Arye Sharuz Shalicar erzählt, wie er vom Deutsch-Iraner aus Berlin-Wedding zum Presseprecher der israelischen Armee wurde
Von
Magnus Klaue
Wenn ihm dennoch keine vergleichbare Resonanz zukommen dürfte, hat dies einen einzigen Grund: Shalicar ist Sohn jüdischer Exil-Iraner und vor allem deshalb von Berlin nach Israel gezogen, weil er hier den handgreiflichen Antisemitismus der deutsch-arabischen Communities nicht mehr ertragen hat.Mehr als die Hälfte seiner Autobiografie Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude, die sympathischerweise weniger um seine Person als um die historische und gesellschaftliche Qualität seiner Erfahrungen kreist, widmet Shalicar der Beschreibung des gewöhnlichen Antisemitismus, der ihm nicht seitens Berliner Kleinbürger, sondern von migrantischen Freunden, Bekannten und Schulkameraden entgegengeschlagen ist. Lange Zeit interessierte sich Shalicar überhaupt nicht für seine jüdische Identität, sondern nahm sich vor allem als das wahr, was er aus „integrationspolitischer“ Sicht tatsächlich gewesen ist: ein Deutscher mit iranischem Migrationshintergrund, eher durchschnittlich in der Schule, mit einem weitläufigen Verwandtenkreis, aber wenigen sozialen Außenkontakten, im Klassenverband stets darauf bedacht, sich mit den übrigen „Schwarzköpfen“ gut zu stellen, weil deutsche Freunde rar waren. Es waren banale Geschehnisse, die ihm bewusst machten, dass es einen Hass gibt, der tiefer sitzt und bedrohlicher ist als der ordinäre Ausländerhass. Das Wort „Scheißjude“ begegnet ihm zum ersten Mal, als arabische Männer in der Berliner U-Bahn bemerken, dass er eine Kette mit einem Davidstern besitzt, die er von seiner Großmutter geschenkt bekam. „Sie kannten mich nicht. Doch offensichtlich hat mein Anhänger, das kleine Symbol um meinen Hals, gereicht, dass sie sich das Recht herausnahmen, mich (...) zu beleidigen und mich andeutungsweise anzuspucken.“ Er beginnt dann rasch zu merken, dass die migrantische Community, die ihn vor der Verachtung schützen soll, die ihm in Deutschland als „Ausländer“ entgegenschlägt, gefährlicher zu werden vermag als jene Verachtung selbst; das Wort „Scheißjude“besitzt eine andere Qualität.Alltägliche DiskriminierungNachdem er seinen Eltern von dem Zwischenfall berichtet hat, sagt sein Vater Sätze zu ihm, die ihn nicht mehr loslassen: „Bevor ich anfange, dir Geschichten zu erzählen, um dir verständlich zu machen, wer oder was du bist, wer wir sind, musst du eins im Voraus wissen und es dein ganzes Leben zumindest im Hinterkopf behalten: Du bist ein Jude und die ganze Welt hasst dich!“ Selten ist die übliche Unterstellung, Antisemitismus sei nur eine besondere Erscheinungsform des Rassismus, durch das Beschreiben alltäglicher Diskriminierungserfahrungen so triftig widerlegt worden wie in Shalicars Autobiografie. Es wird evident, dass „Islamophobie“ – die Angst vor dem Islam – durchaus einen rationalen Kern haben kann. Shalicar jedenfalls bekommt Angst vor dem islamisch begründeten Antisemitismus seiner Klassengemeinschaft im Berliner Bezirk Wedding, in der Sätze wie „Weißt du, ich hasse alle Juden! Sie sollen alle verrecken“ fester Bestandteil der Pausenhofkonversation sind. Obwohl er ihre Interessen und Umgangsformen, ja sogar viele ihrer Ressentiments teilt und alles andere als ein Sonderling ist, wird er fortan als „der Jude“ verhöhnt und tätlich angegriffen. Er muss erfahren, dass seine Familie, von der er sich eigentlich abgrenzen will, der einzige Ansprechpartner für seine Ängste ist.Es gehört zu den Qualitäten von Shalicars Buch, dass es nirgendwo eine Rückbesinnung auf das Judentum als Gegengift zum Antisemitismus propagiert. Die Option, für die er sich entschieden hat, dürfte sein Buch in Deutschland jedoch weit unpopulärer machen als ein Plädoyer für die Rückkehr zum Judentum: Shalicar hat sich für den jüdischen Staat entschieden. Hier hat er als Fallschirmjäger für die Armee gedient, hier hat er an der hebräischen Universität Internationale Beziehungen studiert, für das Nahost-Studio der ARD in Tel Aviv gearbeitet, und hier lebt er heute als Pressesprecher der Israelischen Armee und Vorsitzender der Organisation junger deutschsprachiger Einwanderer. Das „Ticket nach Israel“, das er 2001 in Deutschland ohne Rückfahrkarte gelöst hat, erschien ihm als Ticket in die Freiheit. Was seine Lebensgeschichte über Antisemitismus, Islam und Migrationspolitik in Deutschland aussagt, was seine Karriere vom durchschnittlichen Weddinger Schüler zum erfolgreichen Akademiker für das Verhältnis von „Abstammung“, Erziehung und Gesellschaft bedeutet und welche Konsequenzen Bildungspolitiker aus seinen Alltagsansichten von Berliner Schulen ziehen müssten – darüber zu streiten wäre lohnender als über genetische Alltagsreligion.