In "Borowski und eine Frage von reinem Geschmack" läuft alles auf "Anne Will" zu, ehe kurz vor Schluss, oh Schreck, der leibhaftige Reinhold Beckmann erscheint
Auf Cargo hat Simon Rothöhler unlängst und nicht zum ersten Mal sowie völlig zurecht und überaus anregend darauf hingewiesen, dass man den Tatort/Polizeiruf eigentlich nicht isoliert betrachten kann: Was tatsächlich an widerstrebenden Gefühlen von dem einzigartigen Bewusstseinsstrom Fernsehen erzeugt wird, lässt sich nur in Beschreibungen eines größeren Zusammenhangs fassen, in dem der Tatort/Polizeiruf dann lediglich den Platz zwischen 20.15 Uhr und 21.45 Uhr behauptet.
Leider ist diese Arbeit zu leisten aufgrund der hiesigen Produktionsbedingungen nicht möglich (weshalb darauf zu hoffen bleibt, dass Cargo noch mehrere Sonntagabende resümieren wird). Im aktuellen Fall Borowski und eine Frage von reinem Geschmack steht allerdings zu ver
duktionsbedingungen nicht möglich (weshalb darauf zu hoffen bleibt, dass Cargo noch mehrere Sonntagabende resümieren wird). Im aktuellen Fall Borowski und eine Frage von reinem Geschmack steht allerdings zu vermuten, dass Anne Will problemlos an die Ermittlungen im Kieler Tatort anschließen kann (schließlich ist in der ARD "Themenwoche" unter dem philosophischen Motto "Essen ist Leben") – sie muss nur auf Axel Milberg (Borowski) hören, der im Presseheft zum Tatort die Richtung vorgibt: "Ich halte es für absolut richtig, dass sich das Fernsehen ausgiebig mit dem Thema Ernährung beschäftigt." Ausgiebig – das hieße dann Ilse Aigner, Thilo Bode sowie Bauernverbands-Chef Gerd Sonnleitner, und vielleicht findet sich ja auch noch ein ausgestiegener Monsanto-Lobbyist für die Runde.Zwar liefert der Tatort schon Zahlen, die sich normalerweise erst bei Anne Will um die Ohren gehauen werden: „1960 gab der Durchschnittsdeutsche 25 Prozent seines Geldes für Essen aus, heute sind es 11 Prozent.“ Aber zuerst macht der Fernsehfilm doch, was ein Fernsehfilm tun muss – er bricht das komplexe wie hotte Thema Ernährung runter auf eine Familiengeschichte. Die nicht so plump ist, wie man annehmen möchte (Buch: Kai Hafemeister, Christoph Silber, Thorsten Wettcke), denn das gute alte deutsche Familienunternehmen, das sich etwa in den Erfolgsgeschichten über die Bionade noch als Residuum des Richtigen in Stellung bringen ließ gegen gesichtlose internationale Großkonzerne, ist hier von Grund auf, also vom Patriarchen her (der große Joachim Bißmeier) verderbt: Weil der sich bei der Erbfolge vertan hat (wie konnte es dazu kommen?), versucht er seinen Fehler nun rückgängig zu machen durch Sabotage – damit die böse Tochter (cold as ice: Esther Schweins) von der leuchtenden Zukunft, die die Enkelin (Sonja Gerhardt) verkörpert, beerbt werden kann. Der Sohn hat sich derweil zum radikal-dissidenten Ökostießel entwickelt ("Ich wollte Wildschweine schießen, ich weiß, das klingt absurd") und hängt irgendwie mit Sarah Brandt zusammen, von der man noch nicht weiß, was sie eigentlich tut (Boro: „Sind Sie Psychologin?“), die aber diesmal und künftig mit Borowski flirten darf – und so wie Sibel Kekilli das macht, könnte es nach den, zumindest unserer Ansicht nach, zähen Jahren mit Frieda Jung aka Maren Eggert doch ganz heiter werden ("Warum nicht?").21.28 Uhr. Der Atem stocktDie Rolle, die Markus Hering spielt, ist undankbar: der alleinerziehende Vater, dem der Energy-Drink den Sohn raubt, darf nur ein trister Tropf sein. Und er wird noch nicht einmal so reich beschenkt wie Milan Peschels Erziehungsberechtigter dereinst in Weil sie böse sind von Matthias Schweighöfers legendärem Adelsabräumer.Seinen kritischen Punkt erreicht der Tatort (dessen dümpelnde Musik nicht weiß, wie Beth Ditto geschrieben wird) um 21.28 Uhr: Da kommt die völlig durchmediatisierte Folge (dauernd so Szenen wie bei dieser Pressekonferenz letzte Woche schon, wo Journalisten – als hätten sie den Tatort bis hierhin verfolgt – ziemlich unrealistisch hartnäckige Fragen stellen) doch tatsächlich in der Beckmann-Sendung von Reinhold Beckmann an. Ist man vor diesem Menschen denn nirgendwo mehr sicher, durchzuckte es uns bang, während wir instinktiv mit der Hand den eigenen Blick verdeckten wie ein Kind, das sich gruselt oder schämt, weil wir doch eben diesen Beckmann einfach nicht ertragen können – und wenn Thilo Sarrazin bei ihm sitzt und die ganze Republik zuschauen mag, länger als bis zum zweiten einfühlsamen Fingerreiben halten wir's einfach nicht aus.Und dann dauert dieses Szene, in der Esther Schweins eine Geschäftsfrau spielt, die beim realen Beckmann sitzt, auch noch gut zwei Minuten, die uns wie eine halbe Ewigkeit vorkamen – selten hat uns der Einbruch des Realen im Fernseher so schockiert wie hier. Zumal, und das war das einzig Interessante an diesem Schreckmoment, Beckmann ja eigentlich überhaupt nicht real ist, was man eben sehen konnte, als er versuchte sich selbst zu spielen und doch nur wie immer war. Daraus könnte man folgern, dass Reinhold Beckmann ein endkrasser method actor ist, der sich nach ein paar Seminare bei Lee Strasberg in New York einfach drei Monate lang mit all den Folgen seiner Talkshow eingeschlossen hat, um sich selbst zu studieren. Oder aber das Reinhold Beckmann immer nur sich selbst spielt - und das leider schlecht.Wir tippen auf letzteres. Es ist alles so traurig.Dass es der junge französische Umweltaktivist, der sich so gut mit Chemie auskannte und mit der Kallenberg-Tochter was hatte, dann doch nicht war sowie das äußerst strange Ende bei dem der alleinerziehende Vater das Alte Testament mit Zwangsvergiftung durchzusetzen versuchte, hat uns dann kaum mehr berührt.Für Angeber – Wissen, das man noch mal gebrauchen kann: „Die Fleischindustrie produziert mehr Treibhausgase als die Transportindustrie in der ganzen Welt.“Für Rhetoriktüftler – wie nennt man dieses sprachliche Mittel: „Das ist ne rhetorische Frage, oder?“