Es ist Sonntag um neun. Trübes Wetter mit Nebelbänken. Die Straßen im Prenzlauer Berg sind noch menschenleer, nur ein ungeübter Vater führt seinen Sprössling Gassi. Das Kind hat sich gerade in eine Pfütze gesetzt und fordert seinen Vater auf, es ihm nachzutun. Der Vater will nicht. Das Kind brüllt. Das Brüllen hallt zwischen den Häuserwänden.
Am Georgen-Parochial-Friedhof stehen die Tore weit offen. Es ist Totensonntag. Ich könnte die verdienten Prenzlauer Berger besuchen, die hier und auf dem benachbarten Marien- und Nikolaifriedhof liegen, Lothar Feix aus dem Torpedokäfer oder Bernd Holtfreter aus dem Stadtbad Oderberger. Ich könnte das Grab der Familie Krüger besuchen, das der Lieblingsspielplatz unserer Kinder wa
Kinder war, wo sie imaginären Kaffee für uns kochten oder Ostereier suchten, zu einer Zeit, als auf dem Friedhof nicht bestattet wurde, bis die Kirche aus Geldmangel den Friedhof wieder öffnete und sogar bereit war, einen kleinen Teil der Fläche an Investoren zu verkaufen.Im 19. Jahrhundert wurde alles, was schlecht roch oder die Seele des Bürgertums zu verletzen drohte, hinter die Tore verbannt, um während der bald notwendigen Stadterweiterungen immer schon da zu sein: Schlachthöfe, Obdachlosenasyle, Brauereien und eben Friedhöfe. Heute gelten letztere als Garanten des ökologischen Gleichgewichts und als städtische Oasen. In Prenzlauer Berg sieht man öfter Jogger zwischen den Gräbern herumhasten, mit Turnschuhen, teurer als ein Armengrab. Hier müssen die Friedhöfe dafür herhalten, um ortsunkundigen, aber solventen Käufern im Namen der Rendite das Blaue vom Himmel zu erzählen, wie kürzlich ein Investor im Winsviertel, der seine überteuerten Eigentumswohnungen damit anpries, dass sich in der unmittelbaren Umgebung fünf Parks befänden. Davon sind drei Friedhöfe, aber mit Google Earth sieht man die Gräber ja nicht auf den ersten Blick.Wildschweine vor den TorenBerlin hat 221 Friedhöfe, davon sind 182 geöffnet. 86 werden vom Land Berlin verwaltet, das sind 602 Hektar, der Rest gehört den verschiedenen Konfessionen. Der größte und wegen seines Waldreichtums, seiner Gartenkunst und seiner Grabkultur schönste ist der Südwestkirchhof in Stahnsdorf, auch Totenstadt genannt, in der es analog zur lebendigen Stadt sogar Viertel mit Namen wie Stahnsdorf, Charlottenburg oder Schöneberg II gibt. Man musste, wenn man starb, also das Viertel nicht wechseln, wie auch die konfessionell Gebundenen bis zur Aufhebung des Friedhofszwanges in den dreißiger Jahren von der Wiege bis zum Grab in der Hand ihrer zuständigen Kirche blieben. Dieser Tage ist von Peter Hahn ein Buch erschienen, das die berühmteren toten Bewohner des Südwestfriedhofs und der angrenzenden Friedhöfe mit Namen und Adressen (Charlottenburg, Gartenblock I, Erbbegräbnis 16) und ihren Verdiensten preist. Die Literatur über Berliner Friedhöfe ist zahlreich. Es gibt Bücher über den Dorotheestädtischen Friedhof, den Invalidenfriedhof und den Jüdischen Friedhof und es gibt, ein Muss für jeden Liebhaber der Sepulkralkultur, das Lexikon Berliner Grabstätten, ein Adressbuch berühmter Berliner Toter.An diesem Totensonntag bin ich ein eingeladen von Gerd Schönfeld, ihn bei seiner Arbeit als Friedhofsorganist zu begleiten. Gerd Schönfeld ist der letzte echte Bohémien und Ur-Prenzlauer Berger, Schachspieler, Kaffeetrinker und Geschichtenerzähler. Seit 1984 arbeitet er als Beerdigungsmusiker, eine Zeitlang konnte gut er davon leben. In der U-Bahn nach Tegel erzählt er von dem Tag, als er 16 Beerdigungen hintereinander hatte und der Trauerredner immer nur drei Minuten, um sich auf die jeweils nächste Rede vorzubereiten. (Wann ist er geboren? – Ah, 1928. Krieg? – Ah, Flakhelfer. Wo gearbeitet? – Ah, in der Fabrik. Geht’s noch genauer?) Der Philosoph Hugo Velarde wird ihn als Sänger begleiten. Sie treten auch oft in Kneipen auf. Dann allerdings mit Liedern über Don Quichotte.Unter dem Eintrag Friedhof Tegel „Am Fließtal“ führt das Lexikon Berliner Grabstätten nur zwei nennenswerte Ehrengräber auf, zwei Frauen, ich höre das erste Mal von ihnen: Valy Ehrcke, Lucie Englisch,eine Schauspielerin. Der Friedhof existiert, gemessen am Alter anderer Friedhöfe in Berlin, noch nicht lange, 1976 wurde er eingeweiht. Reinickendorf war mit dem Märkischen Viertel, was die Auslastung der Flächen anging, bis hart an die Mauer gekommen. Auch in den neuen Häusern starb man und musste bestattet werden. „Am Fließtal“ ist ein städtischer Friedhof. Über die Rasenfläche der Urnengemeinschaftsanlage hat man einen weiten Blick auf den dahinterliegenden Wald. Die Tore können hier am Totensonntag nicht geöffnet werden, „um das Eindringen von Wildschweinen zu verhindern“, wie es auf einem Schild heißt. Das Tor öffnet und schließt sich heute oft.„Es ist erstaunlich, wie viele Leute in diesem säkularen Berlin doch am Totensonntag auf den Friedhof kommen“. Dirk Battermann hat die Feier zum Totensonntag, die in der kleinen Halle am Eingang des Friedhofes stattfindet, organisiert, zusammen mit seinen Kolleginnen, mit denen er das Berliner TrauerQuartett bildet.Die Brüder BraschIn der Halle haben sich sechzig Menschen versammelt, die meisten schon älter. Gerd Schönfeld spielt Kuhnau, Scarlatti und Die schöne Müllerin. Seine Noten werden von einer Zigarettenschachtel gehalten, die er extra zum Totensonntag gekauft hat: Lord Extra. „Raucher sterben früher“. Auf der Brüstung der Empore ist ein großer LKW-Rückspiegel angebracht, damit der Organist seinen Einsatz nicht verpasst. Hugo Velarde singt zwei spanische Lieder. Die Akustik im Raum, in dem nichts rechtwinklig ist, trägt den Gesang in alle Ecken. Am Ende werden für 50 namentlich Genannte Kerzen angezündet. Beim 23. bricht die Sonne aus den Wolken und durch die Dachfenster in den Feierraum. Am Ende bekommt jeder am Ausgang eine Rose. Wir fahren weiter, von Tegel nach Weißensee, auf den Bartholomäusfriedhof an der Giersstraße. Der Verwalter, Jürgen Kiesow, kennt seinen Friedhof buchstäblich in- und auswendig, er war hier auch schon Totengräber. Fotos zeigen ihn mit anderen fröhlichen Zechern. Alle tragen lange Bärte und Zylinderhüte. Zu DDR-Zeiten war der Totengräber ein schlecht bezahlter, aber ehrbarer Job – man brauchte keinem Funktionär in den Arsch zu kriechen, und wenn man Glück hatte, trug man ihn ins Grab.Kiesow kann sich auch noch hundert Jahre später aufregen über die Weißenseer Stadtväter, die vor der Eingemeindung in die Hauptstadt die Siedlung Neu-Weißensee auf dem Gelände von Bartholomäus errichten wollten. Er erzählt von Feldwebeln, die als Dank fürs Vaterland den Posten des Friedhofsverwalters bekamen, von Toten in Betonsärgen, Zwangsarbeitern auf dem Friedhof und den Toten, die nach Bombenangriffen aus der Innenstadt hier her geschafft wurden, von Kindergräbern des nahegelegenen Kinderkrankenhauses und dass die Stasi auf der Beerdigung von Klaus Brasch, dem Schauspieler, hier alles belagert habe. Klaus’ Bruder Peter, der Schriftsteller, liegt auch hier, und der Maler Micha Voges. Man hat sich gekannt. Und findet sich natürlich im Lexikon Berliner Grabstätten wieder.Es ist voll auf dem Friedhof, am Eingang spielt eine Bläsergruppe Choräle. Eine Frau vollführt seltsame Rituale, die an Gymnastikübungen erinnern, vor dem Familiengrab. Andere haben nur Blumen mitgebracht, die sie auf die namenlose Urnengemeinschaftsstelle legen. Einige kommen in die Kapelle, wo der Pfarrer von Bartholomäus, Jochen Goertz, der Toten des Kirchenjahres gedenkt. Gerd Schönfeld bespielt auf der Empore einen Sythesizer: Befiehl du deine Wege. Hier singt nicht Hugo Velarde, hier singt die Gemeinde. „Wir klammern uns an diese Welt“, predigt der Pfarrer, „wie gut, wenn wir da eine Perspektive haben für unsere Toten und für uns selber.“ Einige bleiben nach der Andacht da und hören Gerd Schönfeld zu, der noch eine Weile weiterspielt. Als alle gegangen sind, bläst er die Kerzen aus. „Nach dem Totensonntag wird es immer ruhig“, sagt Verwalter Kiesow und dass Tote nicht unterm Weihnachtsbaum liegen sollen. Gerd pfeift Scarlatti. Das Geld das er heute verdient hat, reicht nicht zum Sterben.