Der Begriff des Intellektuellen, wie er uns immer noch zu irritieren oder zu motivieren vermag, hat einen genau datierbaren historischen Einsatz. Das war die Dreyfus-Affaire im späten neunzehnten Jahrhundert, die Anklage gegen Albert Dreyfus, einen jüdischen Artilleriehauptmann im französischen Generalstab, für den deutschen Erzfeind Spionage getrieben zu haben, und seine Verurteilung zu lebenslänglicher Haft auf der Teufelsinsel in Franzöisch-Guyana – gefolgt von der mit flammender Rhetorik die Öffentlichkeit umstimmenden Aufdeckung eines Militär und Regierung verbindenden antisemitischen Komplotts durch den Romancier Emile Zola.
Zolas Tat brachte nicht nur die Revision des Verfahrens in Gang bis zur vollständigen Rehabilitation von Dreyfu
von Dreyfus, sondern veränderte auch nachhaltig das Kräfteverhältnis zwischen den politisch-ideologischen Lagern des französischen Bürgertums. In dieser durch ein bewusst angenommenes Risiko so exemplarischen Bewährung des Intellektuellen wollte man ein Versprechen der Aufklärung verwirklicht sehen, nach dem die „philosophes“ (so der Vorgängerbegriff zu den „Intellektuellen“) fernab von allen Spannungen des praktischen Alltags über zentrale Probleme der Nation nachdenken und ihr Orientierungen, wenn nicht gar Lösungen vorgeben sollten.Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dann die Bereitschaft zu solcher Intervention als eine bindende Rollen-Verpflichtung der Intellektuellen aufgefasst und mit der Haltung des „Engagements“ assoziiert, welche Nähe und zugleich kritische Distanz zu den politischen Parteien forderte. Vieler Ansätze hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit den fünfziger Jahren bedurft, bis literarische und akademische Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas gegen die Widerstände einer zunächst eindimensional pragmatisch ausgerichteten Gesellschaft die Rolle des Intellektuellen wieder etablieren und damit an Traditionen aus den zwanziger Jahren anschliessen konnten, aber auch an deren von Lessing verkörperte Anfänge im Zeitalter der Aufklärung.FortschrittsfeindlichAus den Kreisen der heute längst pensionierten deutschen Intellektuellen der verspäteten ersten Stunde (die natürlich in Anspruch nehmen, dass ihre Rolle mit Pensionierung nicht zu vereinbaren ist) werden nun immer wieder Klagen über das Ausbleiben von Meisterdenkern in den nachfolgenden Generationen von Gebildeten laut, und es ist schon zu einer Tradition geworden, dass diese inzwischen selbst im Lebensalter weit fortgeschrittenen „neuen“ Generationen mit Selbstkritik und Depression auf solche Fehl-Anzeigen reagieren.Unter akademischen Intellektuellen zumal ist von „Engagement“ im klassischen Sinn tatsächlich kaum noch etwas zu spüren. Je jünger desto deutlicher wollen sie sich vor allem als „Gelehrte“ verstehen. Selten nur liest man geisteswissenschaftliche Dissertationen, deren Autoren sich nicht schon auf der ersten Seite selbst entmündigen, indem sie ihrem Buch das ausführliche Zitat einer Autorität voranstellen; die Themenwahl ist im Normalfall – aus schierer Vorsicht – hoch spezialisiert (ein gelehrter Traktat über den Begriff des Urteils bei dem deutschen Idealisten Jacobi liegt näher als ein engagiertes Manifest über den Stellenwert des Urteilens in der Gegenwart); und als Krone reifer Kompetenz gilt es, im Namen der „Wissenschaft“ Skepsis über alle kühnen Gedanken und Thesen zu verhängen. So ist der pragmatische Helmut Schmidt zum nostalgisch verklärten Helden der akademisch „jungen“ deutschen Mittvierziger geworden; an den leidenschaftlichen Willy Brandt erinnern sie sich kaum.Die 60- bis 90-Jährigen beklagen sich also nicht ohne Anlass. Eine ganz andere Frage ist es freilich, ob sie damit politisch recht haben. Denn man könnte ja behaupten, dass der Rückzug der potenziellen Intellektuellen aus der Öffentlichkeit in dem Maß fortschritt, wie Meinungen in der Gesellschaft dominant wurden, die man früher allein mit den Intellektuellen assoziiert hatte, so dass die klassische Intellektuellen-Ethik der Intervention und des Engagements obsolet geworden ist.Umbrüche unerwünschtIhr maximaler Erfolg scheint mit dem Ende der Intellektuellen-Rolle zusammenzufallen. Das gilt gewiss nicht nur für Deutschland, aber es trifft andererseits (aus ganz verschiedenen Gründen) weder auf die Vereinigten Staaten noch auf die asiatischen Gesellschaften zu. Sollte es sich also um eine vorerst allein innerhalb in der Europäischen Union entstandene Entwicklung handeln? Jedenfalls ist zum Beispiel der Pazifismus, wie er noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem ein Wert der linken Intellektuellen war, heute zu einer Abweichungen kaum zu tolerierenden Norm aller Alltagsgespräche geworden; wer Ausländer nicht mehr liebt als seine Landsleute, der fällt dem Verdacht der Xenophobie anheim, und analog werden bloß halbherzige Bekenntnisse der Homophilie bestraft.Vor allem aber ist gemeineuropäisch aus den ökologischen Praxisnormen und Begriffen, von Trennmüll über Windrad bis zur Nachhaltigkeit, eine diskursive Schneide geworden, jenseits derer man sich in ein moralisch aufgeladenes politisches Abseits setzt. Noch sind es nur kleine deutsche Universitätsstädte wie Freiburg, Konstanz oder Tübingen, wo Grüne zum Bürgermeister gewählt werden, aber bald schon werden wohl die ehemaligen Minderheitsmeinungen der akademischen Intellektuellen und Studienräte auch auf Landes- und Bundesebene mehrheitsfähig sein. Im wörtlichen Sinn sind deshalb die Grünen – eher als die Sozial- oder Christdemokraten – die Volkspartei der Gegenwart.Als gemeinsamer Nenner aller dabei verbindlich gewordenen politisch korrekten Positionen und Öko-Philien lässt sich eine allgemeine Fortschritts-Phobie ausmachen. Paradoxerweise stehen die europäischen Gesellschaften in einer Phase des radikalen Umbruchs, weil man sich Umbrüche – vor allem radikale Umbrüche – keinesfalls wünscht. Neue Bahnhöfe gar nicht mehr und neue Autos mit viel weniger Innbrunst als noch vor einem Jahrzehnt. Vielleicht haben sich ja auch die Zeithorizonte verändert, in denen man inzwischen den Alltag erlebt. Statt die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um aus einer Gegenwart, die nichts als Übergang war, die Selbstüberbietung jeder Zukunft in ihrer eigenen Vorwegnahme zu planen (aus dieser Konstellation war um 1900 der Begriff der „Avantgarde“ entstanden), sammeln die Europäer Vergangenheiten, um die Zukunft auf den ökologischen Status quo einer vorindustriellen Zeit festzuschreiben und so die Gegenwart zu verbreitern und anzuhalten, damit bedrohliche Zukünfte nie eintreten können.Kritik ist nur als Detailkorrektur auf der Linie eines immer breiteren Mehrheitskonsensus akzeptier- und denkbar. Denn Andersdenkende, liest man, stehlen den Kindern von heute die zukünftige Gegenwart ihres Erwachsenenalters. Vielleicht ist Brasiliens jüngste politische Vergangenheit Europas nächste politische Zukunft: dort hatte bei den nationalen Wahlen des Herbsts 2010 die von dem charismatischen (aber nach der Verfassung nicht mehr wählbaren) Präsidenten Lula aufgestellte Nachfolgerin schon Monate im voraus ihr zukünftiges Kabinett benannt, während sie erfolgreich vor der politischen Alternative als unvermeidlicher nationaler Katastrophe warnte.Riskantes DenkenDie neue Mehrheitsmeinung hat nicht nur eine vollkommen demokratische Basis, auch an ihren Werten lässt sich kaum rütteln. Wer gegen ökologische Normen argumentiert, gegen Windräder und für die Schönheit der Landschaft, gegen restriktive Rahmenrichtlinien beim Energieverbrauch und für die Entwicklung von Gewinnspannen in der Industrie, der wirkt egozentrisch – oder wie ein kapitalistischer Amerikaner. Und warum sollten sich ausgerechnet Intellektuelle darüber beklagen, dass der Sonderstatus der Intellektuellen im geschichtsphilosophischen Sinn aufgehoben ist, das heißt: zu einer Wirklichkeit geworden, welche alle Vorformen auslöscht, seit aus ihrem klassischen Minderheiten-Status die Dominanz einer neuen Mehrheit wurde?Eine andere Version des Selbstverständnisses allerdings (oder eine andere Gegenwarts-bezogene Interpretation ihrer Geschichte) assoziert die Intellektuellen mit dem Gestus des „riskanten Denkens,“ mit jenem Denken, das prinzipiell Alternativen zu etablierten Mehrheitspositionen entwickelt, Alternativen, deren unmittelbare Verwirklichung mit dem Risiko einer Blockade wohlfunktionierender kollektiver Praxis verbunden wäre.Es war ein klassischer Fall von riskantem Denken (und ein klassischer Fall der Reaktionen, welche es provozieren kann), als Peter Sloterdijk im Herbst 2009 die deutsche Intellektuelle Öffentlichkeit mit einer Frage über die politische und ethische Legitimität der staatlichen Steuerhoheit in fast konvulsive Unruhe brachte. Eigentlich hatte Sloterdijk nur bemerkt, wie erstaunlich es sei, dass Bürger mit erheblichem Einkommen und einem gewissen Einfluss Jahr für Jahr ganz ohne Widerrede bis zur Hälfte ihres Einkommens an einen Staat abtreten, dessen Investitionspläne gar nicht immer ganz transparent sind. Die Reaktionen auf diesen Moment riskanten Denken fielen dann – einmal abgesehen von vielen Arten akademischen Beleidigtseins, die sichtbar wurden – wirklich so aus, als hätte Sloterdijk die politische Macht gehabt, alle Steürzahlungen in Deutschland bis auf weiteres zu stornieren. Doch das war es ja genau nicht, alles praktische Risiko war ja schon dadurch ausgeschaltet, dass die Debatte nie über die Seiten der deutschsprachigen Feuilletons schwappte; kein Politiker hat sich nach meiner Erinnerung je eingeschaltet – leider, möchte man fast sagen.Riskantes Denken mag riskant aussehen, gewinnt aber seine Legitimatät gerade dadurch, dass es das wirkliche Risiko vermeidet; es ist also immer nur auf andere Werte und Ziele aus, als die, welche gerade als selbstverständlich gelten, es kennt keine stabilen Orientierungen. Ohne die stimulierende Kraft des riskantes Denkens, befürchte ich, könnten die zur Norm gewordenen ehemaligen Intellektuellen- und Minoritätenmeinungen so repressiv werden wie in der Vergangenheit – auf der anderen Seite des für immer verschwundenen Eisernen Vorhangs – eine zum Staats-Sozialismus entartete Sozialdemokratie.