So alt wie der Intellektuelle ist die Verachtung seiner selbst. Dieser Selbsthass führt regelmäßig zum reaktionären Abgesang auf die angebliche „Priesterkaste“ (Helmut Schelsky) – wie jüngst von Hans Ulrich Gumbrecht im Freitag.
Laut Gumbrecht hat sich der klassische Intellektuelle Zola’scher Prägung selbst aus der Gesellschaft zurückgezogen, seit Meinungen in dieser dominant wurden, die man früher allein mit ihm assoziierte. Zu diesen angeblich weithin geteilten „diskursiven Schneiden“ zählt Gumbrecht den Pazifismus und die „ökologischen Praxisnormen und Begriffe, von Trennmüll über Windrad bis zur Nachhaltigkeit“. Diese Form eines neuen europäischen common sense, die aus den Gr
nse, die aus den Grünen die eigentliche Volkspartei der Gegenwart gemacht habe, hat laut Gumbrecht die klassische Intellektuellenethik von Intervention und Engagements obsolet werden lassen.Zugespitzt könnte man sagen: Nach Gumbrecht leben wir heute in der besten aller Welten. Das Volksempfinden, das vor noch nicht allzu langer Zeit als „gesund“ galt, hat sich zu einem rundum aufgeklärten verpuppt. Spätestens an dieser Stelle regt sich Widerspruch: Unter dem noch frischen Eindruck rasender Sarrazin-Enthusiasten wie antisemitischer und antiislamischer Wutergüsse, nicht nur im Inkognito des Internet – wer wollte da von einer neuen, aufgeklärten Öffentlichkeit sprechen? Im Gegenteil: Weniges ist, wie von Gumbrecht behauptet, „zur Norm geronnen“; deutlich zeigt sich, wie dünn der demokratische Firnis sein kann. Wachsende Gleichgültigkeit bei zunehmender Radikalisierung – das sind die zwei Seiten einer Medaille in der herrschenden Postdemokratie. Sensible Beobachter sprechen bereits von einer „Verrohung des Bürgertums“ (Wilhelm Heitmeyer). Und vor dem Hintergrund eines nicht nur in Ungarn, sondern auch in Italien, Frankreich und Deutschland nach wie vor erstaunlich lebendigen Nationalchauvinismus’ wird die These vom linken, aufgeklärten common sense zum grotesken Befund.Riskant – für andereAber, das zeigt sich an Gumbrechts zweiter These, diese Behauptung ist ihm ohnehin nur Mittel zum Zweck. Anstatt es mit dem Abgesang auf den Intellektuellen alter Schule sein Bewenden haben zu lassen, präsentiert er stolz sein Nachfolgemodell. Indem er den traditionell linken Mahner und Warner für obsolet erklärt, setzt er die Kategorie der intellektuellen Dissidenz frei für jene, die sich eben nicht dem common sense beugen. Darin besteht für Gumbrecht heute wahres „riskantes Denken“. In dieser „leicht kitschigen Vorstellung vom Theoriegeschäft“, wie der Welt-Feuilletonist Andreas Rosenfelder in seiner Kritik an Gumbrechts Beitrag spottete, ist dessen Gewährsmann, wen wundert‘s, niemand anderes als Peter Sloterdijk.Nach Norbert Bolz, der sich unlängst im Magazin Cicero zum Sancho Pansa des Großdenkers aus Karlsruhe aufgeschwungen hat, bewirbt sich mit Gumbrecht ein Zweiter als Steigbügelhalter, um Sloterdijk bei dessen Kampf mit den Windmühlenflügeln der Kritischen Theorie in den Sattel zu helfen. Während Bolz Sloterdijk bereits zur letzten „großen Persönlichkeit im antiken Sinne“ ausgerufen hat, die im Kampf mit den Frankfurter „Spaßphilosophen“ mit „ungeheurem Ernst“ und „aus ganzem Herzen“ nach Antworten sucht, sieht Gumbrecht in Sloterdijk den letzten Hüter des gefährlichen Denkens in der Tradition Nietzsches.Ausgerechnet Sloterdijk! Dieser hat seit dem Erscheinen seiner bemerkenswerten Kritik der zynischen Vernunft einen derartig gekonnten Seitenwechsel vom kynischen Kritiker der Macht zu deren zynischem Apologeten unternommen, dass bei seinen regelmäßig inszenierten „Tabubrüchen“ jedes von Gumbrecht so enthusiastisch gefeierte Risiko auf der Strecke geblieben ist. Von Sloterdijks Regeln für den Menschenpark zieht sich ein roter Faden bis zu dessen, von Gumbrecht gepriesenem FAZ-Artikel Die Revolution der gebenden Hand.In der Tat riskantGumbrecht will dem Leser weismachen, darin habe Sloterdijk nur bemerkt, „wie erstaunlich es sei, dass Bürger mit erheblichem Einkommen und einem gewissen Einfluss Jahr für Jahr ganz ohne Widerrede bis zur Hälfte ihres Einkommens an einen Staat abtreten, dessen Investitionspläne gar nicht immer ganz transparent sind.“ Hätte Sloterdijk allein das behauptet, wäre die anschließende Debatte kaum zu verstehen gewesen. Nein, an dieser Stelle muss man Sloterdijk vor seinem Adepten in Schutz nehmen. Tatsächlich entpuppte sich dessen Artikel als durchaus gefährlich. In der Bundesrepublik, so dessen Kernbotschaft, haben wir es laut Sloterdijk mit einer Form des „Semisozialismus“ zu tun, nämlich mit „Staatskleptokratie“ zu Lasten der Vermögenden.Sloterdijk stellt die Kategorie der Ungerechtigkeit damit regelrecht auf den Kopf: Heute beuten nicht länger die Reichen die Armen aus, sondern im Gegenteil die unproduktiven Armen die produktiven Reichen. Konsequent und ganz im Sinne bekannter Geistesverwandter ruft Sloterdijk die „Bürger auf die Barrikaden“: Die „Leistungsträger“ müssten sich dieser Ausbeutung widersetzen; die normale, angebrachte Reaktion wäre der „fiskalische Bürgerkrieg“. Dessen Ziel ist klar: Die „Abschaffung der Zwangssteuern“ und deren Umwandlung in „Geschenke an die Allgemeinheit“.Solches Denken ist in der Tat riskant – doch nur für diejenigen, die auf staatliche Alimentierung angewiesen sind. Die Folge von Sloterdijks „Revolution“ liegt auf der Hand: ein dem Wohlverhalten der Gutsituierten überlassener Schrumpfstaat – mit allem „Risiko“ für die sozial Schwachen. Wie heißt es doch im Volksmund: „Auf fremdem Arsch ist gut durchs Feuer reiten“.Untaugliche KategorieWie untauglich der Maßstab des Riskanten für die Intellektualität einer Äußerung ist, zeigte sich derweil ironischerweise anderswo. Eine Person, von der man es nicht erwartet hätte, schickte sich an, gefährlich zu denken. Die Linksparteichefin Gesine Lötzsch gab ein Beispiel des Gumbrecht’schen Typus’ – allerdings mehr des Riskanten als des Denkens. Im 50. Jahr des Mauerbaus noch einmal „Wege zum Kommunismus“ beschreiten zu wollen, ist an politischer Dummheit kaum zu überbieten. Eine von den Entartungen nicht nur des Stalinismus heil gebliebene Utopie des Kommunismus zu konstruieren, ist historisch und intellektuell unredlich – und offenbar in erster Linie ein taktisches Manöver zur Einbindung der kommunistischen Traditionsbestände östlicher und westlicher Provenienz. Nimmt man Gumbrecht ernst, müsste man Lötzschs Aussagen gleichwohl den Charakter des „riskanten Denkens“ zusprechen. Schon das belegt die Untauglichkeit seiner Kategorie.So absurd es ist, dieser Gesellschaft noch einmal mit dem Kommunismus kommen zu wollen, so sehr wird man damit umzugehen haben, dass der politische Gegner umgehend in die Offensive geht. „Der mäßige Erfolg der Linken mag daran liegen, dass das heutige Deutschland einer klassenlosen Gesellschaft schon sehr nahe kommt“, hieß es in einem der FAZ-Kommentare. Wer wollte da behaupten, dass Sloterdijk nicht Wirkung gezeitigt habe?Umso mehr empfiehlt es sich, eine andere Intellektuellen-Definition zu Rate zu ziehen. Der Intellektuellen-Begriff Antonio Gramscis abstrahiert von der Frage der richtigen Moral – anders als Gumbrecht jedoch keineswegs von der gesellschaftlichen Verortung. Organische Intellektuelle sind bei Gramsci, anders als ihre traditionellen Vorgänger, diejenigen, die jede Klasse oder Bewegung braucht, um die kulturelle Deutungsmacht zu erlangen. Entweder als, so Gramsci, „Angestellte der herrschende Klassen und der politischen Herrschaft“, oder eben auch als Vordenker der Opposition.Jede soziale Gruppe, die Hegemonie anstrebt, muss Intellektuelle aus ihren eigenen Reihen hervorbringen oder die traditionellen Intellektuellen assimilieren und für ihre Ideologien einnehmen. Gelingt dies der Linken zukünftig nicht besser, muss man für ihre Zukunft wahrlich schwarz sehen. Den Herren Gumbrecht und Sloterdijk mag es dagegen recht sein, in ihrer besten aller Welten.