In Wahrheit ist Walter Kohls Buch eine Abrechnung mit der Vergangenheit der Bundesrepublik – nicht mit seinem Vater. Eine Rezension von Konstantin Neven DuMont
Wie kann ein Mensch anfangen zu leben? Ein Mensch, der bisher gelebt wurde? Walter Kohl hat in Leben oder gelebt werden auf die Frage nach dem selbstbestimmten Leben eine bestechend einfache Antwort gegeben. Im Kern kommt es nicht darauf an, sagt er, die Erwartungen Dritter zu erfüllen, sondern der eigenen „inneren Stimme“ zu folgen. Wer mag ihm bei dieser Einschätzung widersprechen? Die praktische Umsetzung dieses Anspruchs war für ihn allerdings nicht einfach, wie sich auf den 274 Seiten seines Buchs herausstellt.
War Kohl einfach genervt?
Als sein Werk der „Versöhnung“ (wie er es nennt) erschien, schrieben viele Journalisten gleichwohl von einer Abrechnung mit seinem Vater Helmut. Die Welt sprach sogar von einer „großen AbrechnungR
ner „großen Abrechnung“. Diese allzu oberflächliche Analyse wird dem Text nicht gerecht. Walter Kohl zeichnet ein differenzierteres Bild des Bundeskanzlers a.D. Er kritisiert zwar, dass sein Vater in der Vergangenheit zu wenig auf ihn ein- und zugegangen sei, lobt ihn an anderer Stelle aber überschwänglich. Zwischen den Zeilen lässt er immer wieder durchblicken, dass sein Vater als Politiker Großartiges für Deutschland geleistet hätte. Ja, zum Teil liest es sich sogar wie eine Werbebotschaft.Walter Kohl stand seinem Vater den größten Teil seines Lebens helfend zur Seite, so sieht er das selber. Und vermutlich würde er das auch heute noch tun, wenn Helmut Kohl die Beziehung zu seinem Sohn nicht vor zwei Jahren für beendet erklärt hätte. Angeblich soll seine zweite Frau Maike Kohl-Richter die Hauptursache für diesen Schritt gewesen sein. Zumindest kommt der Merkel-Biograf Gerd Langguth im Handelsblatt zu diesem Schluss. Maike Kohl-Richter soll Walter einmal anvertraut haben, dass sie Helmut am liebsten für sich alleine hätte. Offensichtlich gab es aber auch noch andere Gründe für diesen Schnitt. Kohl schreibt, dass sein Vater ihm die heftigsten Vorwürfe gemacht hätte, als er anfing, eigenständig Interviews zu geben. So entsteht der Eindruck, dass Walter mit seinen öffentlichen Aussagen gegen einen ungeschriebenen Familienkodex verstoßen hat. Oder war Helmut Kohl von den Gesprächen mit seinem Sohn ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach nur genervt? Letztendlich bleiben die Gründe für den Bruch vage, solange sich Helmut Kohl dazu nicht äußern will.An dieser Stelle sei angemerkt, dass Helmut Kohl seine Familie in der Vergangenheit öfter für politische Zwecke eingesetzt hat. In regelmäßigen Abständen wurde ein Familienidyll nach außen präsentiert, das nach Walters Ansicht in dieser Form gar nicht existierte. Dennoch hat er dieses Spiel jahrzehntelang mitgemacht. Man kann es verstehen: Gerade in konservativen Kreisen gilt es immer noch als verpönt, wenn kritische Familienangelegenheiten in die Öffentlichkeit getragen werden. Auch im Internet wird Kohls Buch diskutiert: In den Kommentaren finden sich zahlreiche Beiträge, die dieser Ansicht folgen („das hätte er nicht tun sollen“). Von einer gefühlten Mehrheit der Kommentatoren erhält Walter jedoch Zustimmung: Endlich hat er sich von seinem vermeintlich übermächtigen Vater befreien können, heißt es.Demaskierung der IdylleAuch die Presse reagierte größtenteils verständnisvoll auf Kohls Ausführungen, auch wenn man ihnen den Charakter einer „Abrechnung“ zuschrieb. Kohl scheint sich über diese Einschätzung zu ärgern. Dem Zürcher Tagesanzeiger teilte er mit, dass in dem Buch keine einzige Stelle zu finden sei, wo er seinem Vater eine Schuld gebe.Der öffentlich-rechtliche Rundfunk beschäftigte sich ebenfalls intensiv mit der Causa Kohl. In zahlreichen Interviews durfte Walter auf seine Veröffentlichung aufmerksam machen. Dabei lässt ARD-Moderator Reinhold Beckmann keine Zweifel daran, auf wessen Seite er in dieser Angelegenheit steht. Mit seinen unnachahmlichen Suggestivfragen biedert er sich seinem Gesprächspartner an. Beckmann versucht immer wieder, Kohl etwas Negatives über seinen Vater zu entlocken. Kohl gibt aber nicht mehr preis, als ohnehin in seinem Buch steht.Wenn Walter über seine Familie und sein Leben spricht, klingt er authentisch und glaubhaft. Daher nimmt man es ihm auch ab, dass er nach jahrelanger innerer Zerrissenheit endlich seinen persönlichen Frieden gefunden haben will. Die Demaskierung der vorgetäuschten Familienidylle kann ihm dabei nicht vorgeworfen werden.Kohls Buch enthält aber auch Ambivalenzen. So empfand er zum Beispiel sein Abitur im Jahr 1982 als Erlösung. „Endlich fort von dieser Schule, diesen Lehrern, diesem System des Wegsehens,“ schrieb er. Ähnlich rigoros arbeitet er sich an einem lokalen Fußballverein oder seinen Vorgesetzten bei der Bundeswehr ab. Offenbar bekam Kohl während seiner zwei Jahre beim Bund eine menschenunwürdige Einzelbehandlung. Das ging sogar soweit, dass Kohl von einem Vorgesetzten aufgrund seines für ihn unvorteihaften Namens solange unter Druck gesetzt wurde, bis er sich vor mehreren Augenzeugen übergeben musste.Die Aneinanderreihung von Schlägen, Demütigungen und Schikanen seiner Landsleute zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Zwangsläufig empfindet der Leser Mitleid mit Kohl. Gleichzeitig schämt man sich aber auch für die offen zur Schau getragenen Vorurteile der Beteiligten. Wer jetzt allerdings glaubt, dass Kohls Leben ein einziger Albtraum gewesen sei, wird im Kapitel „Land of the Free“ eines Besseren belehrt. In seinem Traumland USA findet er jene aufgeschlossenen Menschen, die er in Deutschland so schmerzlich vermisst hatte. Durch die Verherrlichung Amerikas und die gleichzeitige Abwertung seiner Heimat entsteht ein Zerrbild, das realitätsfremd wirkt. Wer längere Zeit in Amerika gelebt hat, weiß, wie zerrissen die amerikanische Gesellschaft ist. Obwohl die Armut auf den Straßen der Vereinigten Staaten deutlich sichtbarer ist als in Deutschland, findet sich für derartige Themen in Kohls Ausführungen offensichtlich kein Platz. Der Rest des Buches liest sich wie eine Mischung aus einem Psychologieratgeber und religiösen Glaubensfragen. Das soll nicht abwertend gemeint sein. Kohl versetzt sich damit in die Lage, sein in weiten Teilen traumatisiertes Leben in etwas für ihn Positives umzuwandeln.Nicht anerkanntIn gewisser Weise kann Kohls Buch als zeitgeschichtliches Dokument der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden. Obwohl – oder gerade weil – seine Geschichte sehr speziell ist, beschreibt er indirekt den Generationenkonflikt vieler heute 40- bis 50-Jährigen mit ihren Eltern. Diese Elterngeneration hat den Zweiten Weltkrieg noch mehr oder weniger hautnah miterlebt. Der Schauspieler Peter Millowitsch drückte diesen Konflikt zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters Willi drastisch aus. Er sagte, dass die Söhne dieser Generation von ihren Vätern nicht anerkannt würden, unabhängig davon, ob sie „auf den Händen laufen“ oder „über Wasser gehen“ könnten. Auch wenn diese Verallgemeinerung sicherlich überzogen ist, beschreibt sie das offenkundige Dilemma so einiger Protagonisten dieser Generation. Auch in weniger bekannten Familien kamen derartige Konflikte vor. Auffällig ist, dass Kohl den für ihn notwendigen Abnabelungsprozess erst Ende 40 geschafft hat. Andere Kinder dieser Elterngeneration hatten das schon viel früher vollzogen. Sie betrachteten ihre Eltern zum Teil als spießig und voller Widersprüche. Einige verließen ihre Familie deshalb von sich aus und lebten in der Folge ein eigenes, selbstbestimmteres Leben. Woran lag das? Waren die Lebenserfahrungen dieser Generationen einfach zu unterschiedlich?Kohl sagt, dass er und sein Vater wie zwei Funkgeräte sind, die auf unterschiedlichen Frequenzen senden. Er betont, dass sein Vater, bis auf ganz wenige Ausnahmen, große Probleme damit hatte, seine Gefühle auszudrücken. Im Gegensatz dazu macht Walter aus seinen Gefühlen keinen Hehl. Mit großer Offenheit schildert er, dass er 4o Jahre lang in einem „Opferland“ gefangen gewesen sei. Obwohl Walter schon frühzeitig aufgefallen war, dass das nach Außen verkaufte Bild mit der familiären Realität oftmals nur wenig bis gar nichts zu tun hatte, konnte er sich aus seiner Opferrolle erst nach mehreren persönlichen Tiefpunkten befreien. Das Schreiben des Buchs habe ihm bei diesem Prozess geholfen. Der Balanceakt zwischen der Loyalität zu seiner Familie und der Verwirklichung persönlicher Ziele wurde für ihn zu einer jahrelangen Hängepartie.Genau genommen hat Walter Kohl nicht mit seinem Vater abgerechnet, sondern mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte. Das aber umso schonungsloser. Dabei wird deutlich, dass sich die allgemein anerkannte Vaterrolle in den vergangenen 40 Jahren stark gewandelt hat. In den siebziger Jahren schien es ganz normal zu sein, dass ein karrierebewusster Vater nur sehr wenig Zeit für seine Kinder aufbrachte. Insofern hinkt der unglückliche Versuch, Helmut Kohls Vaterrolle mit heutigen Ansprüchen zu vergleichen. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass der Senior den sensiblen Aspekt des Gebens und Nehmens in der Beziehung zu seinem Sohn unzureichend berücksichtigt hat. Es ist Walter Kohl zu wünschen, dass er in 30 Jahren eine bessere Beziehung zu seinem Sohn haben wird als heute sein Vater zu ihm. Unrealistisch erscheint dieses Szenario nicht.