Arabien erwacht. Jahrhundertbeben in Japan. Tsunami. Reaktor-Katastrophe in Fukushima. Dann stirbt auch noch Knut. Die Großereignisse schieben sich nachrichtlich ineinander und die Medien versuchen, diese Ereignisflut zu kanalisieren. Die reale Monsterwelle wird umgeformt in eine Sturzwelle aus Nachrichten. Sogar das öffentlich-rechtliche Fernsehen, sonst solide eingedeicht gegen unerwartete Programmänderungen, berichtet zeitweise im 20-Minuten-Takt. Besonders die Online-Medien scheinen sich in der Ereignisfülle förmlich zu überschlagen. Leuchtendes Beispiel für herausragende Berichterstattung ist Al Dschasira, das mit seinem Livestream auch die ins Netz abgewanderten Nachrichtennutzer wieder nach Hause holt, in die Gegenwart der Bilder. Und d
Kultur : Die Zuvielisation
Man kann am steten Strom der partikularisierten Informationen verzweifeln. Oder sagen: Veränderung ist der Zustand. Nine to five war gestern. Jetzt ist immer
Von
Peter Glaser
d die deutschen Nachrichten-Portale entdecken den Live-Ticker wieder.In einer ruckeligen Art von Echtzeit-Nachrichtenversorgung kommen in Fünf-Minuten-Abständen die neuesten Katastrophenfragmente herein. Jedermann hat nun eine Nachrichtenlage, wie sie noch vor einem Jahrzehnt nur Privilegierten zugänglich war; mit Wikileaks und Cryptome gibt es heute sogar die Bürgergeheimdienste dazu. Was früher die Morgenlage im Kanzleramt war, ist jetzt dank der durchs Netz geisternden Weltnachrichtenströme demokratisiert und Public Domain.Vor lauter EilheitBemerkenswert ist, dass das Erkennungszeichen der Tickermeldungen nichts Neues ist, sondern ein Rückgriff in die Frühzeit der Telegrafie. Aus Kostengründen wurden damals im sprichwörtlichen Telegrammstil keine ganzen Sätze gebildet, nur knappe Wortaneinanderreihungen. Um bei der telefonischen Übermittlung an das Telegrafenamt sicherzustellen, dass das Ende einer Sinneinheit richtig markiert wird, war es üblich, „stop“ zu sagen – auf dem Telegramm standen dann an der Stelle drei Pluszeichen („schicket gelder +++ darbe +++ sohn“). Dieser kleine, alte Haltebefehl soll nun im Online-Journalismus für jene Anmutung von Atemlosigkeit sorgen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.Das Stilmittel ist dabei längst selbst überdreht. Als etwa Focus Online im Juli 2005 über eine Serie von Bombenanschlägen in London tickerte, waren es bereits acht Pluszeichen, mit denen die Kurzmeldungen jeweils angerissen wurden. Heute zeigen die Nachrichtenschnipsel der Online-Ticker vor allem eines: dass auch der Journalismus heimgesucht wird von etwas, das die einen für eine fundamentale Umwälzung halten, andere für eine Katastrophe. Die alten Formen, in denen Kulturprodukte gebündelt waren, zerfallen in Folge der Digitalisierung und Vernetzung. Das Musik-Album ist atomisiert zu einzelnen Tracks. Filme zerfallen zu YouTube-Clips, der Trailer ist oft schon der Hauptfilm. Auch die Weltordnung in einer Zeitung, die in Rubriken strukturierten Texte und Bilder, lösen sich auf. Mehr und mehr werden die einzelnen Texte, Meldungen, Stories zu Tracks. Sie werden nicht mehr nur an der Quelle gelesen, sondern weitergereicht, verteilt, getwittert, via Facebook empfohen, reblogged und weiter partikularisiert zu Zitaten und Ausschnitten.Die Nachrichtenfetzchen in den Livetickern passen genau in das Muster – fasste man mehrere der keuchend hervorgestoßenen Zeilen zu einer übersichtlicheren Meldung zusammen, ergäbe sich meist eine ganz gewöhnliche Nachricht über die ungewöhnlichen Dinge auf dieser Welt. Aber erst einmal zerbröseln die Nachrichten jetzt. Und sie lassen sich in hysterischem Ton vernehmen, um nicht überhört und übersehen zu werden im Orchester der neuesten Mitteilungen aus der Wirklichkeit. Denn schon gibt es die ersten Strukturen, in denen die herumfliegenden Realitätspartikel sich zu den nächsten Evolutionsformen von Kulturprodukten neu zusammensetzen – Google News etwa, die Informationszumutung schlechthin. Aber jeder, der über ein Zuviel an Information klagt, kann selbst entscheiden, wie weit er aufdreht – vom flüchtigen Blick über die von Googles Weltwichtigkeitsalgorithmus hervorgehobenen Schlagzeilen bis hin zum Kreuzvergleich der Nachrichtenwolken über mehrere nationale Google News-Versionen hinweg.Trotz Vernetzung linearWas die Liveticker mit ihrem +++-Gefuchtel zu simulieren versuchen, ein fließendes Kompendium aus Nachrichten, Informationen und Einschätzungen, gibt es auch schon in echt: Twitter. Twitter ist die erste Zeitung, die nur aus dem Inhaltsverzeichnis besteht – aber was für eins! Augenzeugen, Experten, Bekannte, die auf bemerkenswerte Artikel, Bilder, Videos hinweisen, das alles in einer fließenden Zeitleiste („Timeline“) am Bildschirm, die allerdings trotz Vernetzung und Verlinkung nach wie vor linear abläuft. Bei manchen führen diese neuartigen Vorgänge gelegentlich zu etwas wie einer wütenden Sehnsucht nach Nichtlinearität. Kaum wird in einer der zahllosen individualisierten Dimensionen, aus denen Twitter besteht, zu lange über zu Guttenberg parliert, beschweren sich schon welche, in Libyen, im Jemen, in Syrien würden Menschen sterben, etc. Das leuchtende Schwert der Aufmerksamkeit müsse seine Spitze auf das Zentrum des Geschehens richten. Aber es gibt kein Zentrum mehr.„Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf“, schrieb der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits 1964. „Die elektrische Geschwindigkeit, mit der alle sozialen und politischen Funktionen in einer plötzlichen Implosion koordiniert werden, hat die Verantwortung des Menschen in erhöhtem Maß bewußt werden lassen. ... Es ist dies das Zeitalter der Angst, weil die elektrische Implosion uns ohne Rücksicht auf ‚Standpunkte‘ zum Engagement und zur sozialen Teilnahme zwingt.“Frank Schirrmacher spricht von den „jede Aufmerksamkeitskraft überfordernden apokalyptischen Echtzeittickern“ und übersieht dabei, dass Überinformation nicht die Folge einer Informations-, Wissens- und Kommunikationsgesellschaft ist, sondern ihre Grundbedingung. Nietzsche fand schon 1878: „Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Kultur, ist so groß geworden, dass eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist.“ Mit seiner Streitschrift Payback hat Schirrmacher zuvor eine Art Skript für ein intellektuelles B-Movie vorgelegt, in dem sich gehirnzersetzende Maschinensysteme, verbunden zum Internet, über unser Bewusstsein hermachen. Da das entsprechende Grusel-Oevre nicht neu ist – in den sechziger Jahren hieß es wahlweise „Reizüberflutung“ oder „Managerkrankheit“, später „Information Overload“ oder „Trödelfaktor“ –, bedient Schirrmacher sich eines rhetorischen Tricks. Es gibt verschiedene Möglichkeiten einen Waldspaziergang zu beschreiben. Man kann sich von der Wahrnehmung einer Unzahl von Blättern und Tannennadeln überfordert sehen und eine Rückkehr zur humanistischen Gehölzwahrnehmungstechnologie fordern. Man kann aber auch einen Spaziergang durch einen Wald machen und erholt wieder nach Haus kommen.Sämtliche Medien, allen voran das Netz, sind inzwischen auf einen Zustand der Ständigkeit ausgerichtet – Permanenz. Der digitale Medienfluss ist dabei, sich in eine Umweltbedingung zu verwandeln. Etwas, das überall und immer da ist. Früher öffnete sich einmal pro Abend mit der Tagesschau das Nachrichtenfenster in die Welt. Heute fließen die Auskunftsströme unausgesetzt und vielarmig. Das Netz ist zum Inbegriff der Permanenz geworden. Ständig geht es vor sich, aktualisiert sich, vibriert vor Mitteilsamkeit. Früher gab es einen Zustand, dann kam eine Veränderung, dann ein neuer Zustand. Jetzt ist Veränderung der Zustand. Nine to Five war gestern, jetzt ist Immer.„Im übrigen“, schrieb der Kulturphilosoph Lewis Mumford 1967, „ist der Vorschlag, den Menschen in die Gegenwart einzusperren und ihn von Vergangenheit und Zukunft abzuschneiden, nicht erst unserer Zeit entsprungen und auch nicht an die ausschließliche Orientierung auf die elektronische Kommunikation gebunden. Die alte Bezeichnung für diese Form zentralisierter Kontrollmacht ist Bücherverbrennung.“