Ich gebe zu, dass mir das Wort "Neoliberalismus" nicht besonders gefällt. Noch vor ein paar Tagen habe ich es aus einem ansonsten sehr klugen Artikel für unsere Zeitung herausredigiert, und häufig, wenn ich es in einem Freitag-Leitartikel lese (und ich lese es sehr oft), befällt mich ein leichtes Unbehagen. Das Wort erscheint mir dann eine etwas wohlfeile Chiffre für eine recht simple, dafür umso radikaler anmutende Kritik am Kapitalismus unserer Tage. Und es wirkt im Kontext oft auch etwas rechthaberisch, wie ja überhaupt die Rechthaberei zu den unangenehmeren Zügen der an angenehmen Zügen reichen linken Mentalität gehört.
Aber ich muss wohl umdenken. In die an sich unbedeutende Historie des Feuilletons könnte der 14. August 2011 als wichtige Zäsur eingehen. Als der Tag, an dem im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der Begriff Neoliberalismus auftauchte. In kritisch-analytischer Verwendung. Von Frank Schirrmacher. Hier das Zitat: "Es war ja nicht so, dass der Neoliberalismus wie eine Gehirnwäsche über unsere Gesellschaft kam".
Mehr noch könnte dieser Tag einen Paradigmenwechsel für die Publizistik einläuten. "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik", schreibt Schirrmacher und appelliert an das Bürgertum respektive den politischen Konservatismus, sich produktiv mit dieser Kritik auseinanderzusetzen, ja implizit, sie selbst zu betreiben. Dazu muss sie zuallererst ein Vokabular entwickeln. Denn Schirrmacher hat ja recht: Wenn es um den Kapitalismus geht, herrscht nicht nur bei Angela Merkel Einsilbigkeit: "Über das Wort 'Monster' ist die politische Positionierung der Konservativen bis heute nicht hinausgekommen - und das las man früher und besser auf den 'Nachdenkseiten' des unverzichtbaren Albrecht Müller, einst Vordenker von Willy Brandt".
Der Basistext
Gerne wollen wir an dieser Stelle sagen: Auch diese Zeitung hier hat mehr zu bieten als Anthropomorphismen (Monster, Heuschrecke). Wer weiß, vielleicht können wir unseren vielen neu hinzugewonnenen Lesern (mit CDU-Parteibuch evtl. ein vergünstigtes Abo?) schon bald einen "Kapital"-Lektürekurs bieten, der sich gewaschen hat. Von A (Akkumulation) bis Z (Zinseszinsen). Wobei wir vermutlich dann bei R (Revolution) aufhören können. Bis dahin empfehlen wir schon mal die Lektüre des neuen Basistextes, der dem Schirrmacherschen Aufruf explizit zugrund liegt. Charles Moore also, der offizielle Thatcher-Biograf, der sich im Telegraph dazu bekannt hat zu glauben, "dass die Linke recht haben könnte."
"Die Reichen beherrschen ein globales System", schreibt Moore, das "ihnen erlaubt, Kapital so zu akkumulieren, dass sie den geringst möglichen Preis für Arbeit bezahlen. Die Freiheit, die daraus entsteht, nützt nur den Reichen. Die meisten müssen schlicht und einfach noch härter arbeiten in immer unsicherer werdenden Verhältnissen, um die Reichen noch reicher zu machen."
Es sind Sätze von einer simplen und bezwingenden Logik, die Moore hier schreibt, so simpel und bezwingend, wie wir uns fast schon nicht mehr getraut haben, "es" zu sagen. Und ja, auch in Sachen "Neoliberalismus" müssen wir ganz bestimmt umdenken und uns sagen: Manche, die schlicht recht haben, klingen einem Rechthaber einfach nur zum Verwechseln ähnlich.