Ohne Al-Dschasira und Al-Arabiya wäre der Arabische Frühling nicht möglich gewesen. Die Sender erwartet nun Konkurrenz von jungen Journalisten. Tabus gibt es dort nicht
Als die Massen in der arabischen Welt auf die Straße gingen, taten sie dies nicht, weil es ihnen heute schlechter geht als früher. Viele Menschen in Tunesien und Ägypten können sich mehr leisten, sie konsumieren mehr und sind mobiler geworden. Mehr Zufriedenheit schafft das aber nicht unbedingt. Zu den beliebtesten Konsumgütern auch in den arabischen Staaten gehören Fernseher, Computer und Mobiltelefone. Die wirtschaftliche und technologische Entwicklung ließ in Nordafrika und im Nahen Osten neue Medien entstehen, die zum Wandel beitrugen, auch in der Konkurrenz mit den alten Medien. Die schweigenden Massen wurden zunehmend kritisch.
Sowohl lokale, oppositionelle Medien, als auch Al-Dschasira und Al-Arabiya haben die Politisierung der Massen in den arabisc
en arabischen Ländern während der letzten anderthalb Jahrzehnte entscheidend befördert. Es begann mit der Gründung von Al-Dschasira durch den Emir von Katar im Jahr 1996. Der Sender erreichte rasch internationale Standards, aber erst nach dem 11. September 2001 stieg Al-Dschasira zur Medienmacht auf – als einziger Sender, der ein Büro in Afghanistan hatte, der Botschaften von Bin Laden ausstrahlte und der als Gegenstimme zu den westlichen „War on Terror“-Medien wahrgenommen wurde.Abgesehen davon präsentierte der Sender Formate, mit denen die arabischen Zuschauer nicht vertraut waren. Kontroverse Polit-Talks wurden sehr beliebt, es entwickelte sich eine echte Talkshowkultur. Besonders nach dem 11. September und während des Irak-Krieges waren die Diskussionen extrem aufgeheizt. Kein arabisches Regime war nun vor Kritik sicher. Und so wurde der Emir von Katar zu einem der mächtigsten arabischen Führer, obwohl er nur über 600.000 Untertanen herrschte.„Tote“ und „Märtyrer“Der Aufstieg von Al-Dschasira veranlasste arabische Geschäftsleute, ähnliche Experimente zu wagen. Gab es vor dem 11. September 2001 nur zehn arabische Satellitensender, die weltweit zu empfangen waren, waren es zum Ausbruch der arabischen Revolution mehr als 700, davon 474 gebührenfreie. Viele dieser Sender orientieren sich an Al-Dschasira. Darunter der saudische Sender Al-Arabiya.Dessen Besitzer, ein Schwager des saudischen Königs, vergleicht den Konkurrenten Al-Dschasira mit dem populistischen US-Sender Fox, während er Al-Arabiya wegen der vermeintlichen Sachlichkeit als arabisches Pendant zu CNN betrachtet. Über die Konflikte scheint man in der Tat in neutraler Sprache zu berichten. So ist nicht von einer amerikanischen Invasion des Iraks die Rede, wie bei Al-Dschasira, sondern einfach von amerikanischen Truppen. Auch die israelischen Militäraktionen in Gaza nennt Al-Arabiya „Operationen“ , nicht „Aggressionen“ wie Al-Dschasira. Die palästinensischen Opfer heißen auf Al-Dschasira „Märtyrer“ (in der arabischen Version, nicht in der ungleich milderen englischen), während Al-Arabiya von „Toten“ spricht.Verschwörungstheoretiker messen dem Gründungsdatum von Al-Arabiya große Bedeutung bei: Der Sender ging am 3. März 2003 auf Sendung, keine drei Wochen später schickte George W. Bush Truppen in den Irak, um Saddam Hussein zu stürzen. Während des Krieges war auf Al-Arabiya ein pro-amerikanischer Unterton zu hören. Deshalb hält sich die Popularität des Senders auf arabischen Straßen bis heute in Grenzen. Laut einer Umfrage sehen zwar viele Araber den Sender regelmäßig, aber nur neun Prozent beziehen ihre Information zuerst von Al-Arabiya, 53 Prozent dagegen von Al-Dschasira.Der Erfolg beider Sender setzte die Diktatoren in der arabischen Welt rasch unter Druck. In der Folge genehmigten einige Machthaber private Sender und Zeitungen in ihren Ländern, in Ägypten wurde 2005 ein neues Mediengesetz verabschiedet, das oppositionelle Zeitungen und private Satellitensender zuließ.Tendenziös, irreführend, unprofessionellSpätestens mit dem Aufstieg von YouTube, Facebook und der Etablierung der Blogger-Szene wurden die Satellitensender dann gezwungen, Blog-Themen wie Folter und Korruption in ihre Formate aufzunehmen. Das trug zur Politisierung breiter Schichten bei: Denn während nur zehn Prozent aller Ägypter regelmäßigen Zugang zum Internet haben, verfügen 68 Prozent aller Haushalte über einen Fernseher. In Libyen nutzen weniger als fünf Prozent der Bevölkerung das Internet, während in Tunesien 25 bis 35 Prozent der Menschen online sind. Aber die Reichweite dieser neuen Medien wird durch die Wechselwirkung mit den traditionellen viel größer. Tunesien ist das beste Beispiel dafür.Alles begann mit einer Handykamera. Die Bloggerin Lina Mhenni postete eine Aufnahme von der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Bouazizi auf Facebook. Al-Dschasira entdeckte die Aufnahme und nahm den Kampf gegen den tunesischen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali auf. In Tunesien war die Zensur viel schlimmer als in Ägypten. Al-Dschasira galt als einzige zuverlässige arabische Informationsquelle und konnte nun den verlängerten Arm der neuen Medien bilden. Die Propaganda von Ben Alis staatlichen Medien verlor an Wirkung. Die Berichterstattung von Al-Dschasira über Tunesien animierte die Blogger und Facebook-Aktivisten in Ägypten, von einer Revolution im eigenen Land zu träumen. Zehn Tage nach dem Sturz Ben Alis gingen auch die Ägypter auf die Straße.Die ägyptische Revolution ist die erste in der Geschichte, die komplett live übertragen wurde. 18 Tage lang waren die Geschehnisse auf dem Tahrir-Platz das zentrale Thema in allen arabischen und westlichen Nachrichtensendern und Feuilletons. Doch die Lesart der Ereignisse und die Analysen variierten nicht nur innerhalb der westlichen Medien: Die ägyptischen Staatsmedien etwa berichteten von wenigen Tausend Demonstranten, die von ausländischen Agitatoren zum Aufruhr angestiftet worden seien. Da Mubarak gute Beziehungen zum saudischen Königshaus pflegt, versuchte der saudische Sender Al-Arabiya, die ägyptische Revolution zwar nicht zu verschweigen, aber deren Dimension herunter zu spielen. Man konzentrierte sich auf die Angst vor Chaos und Gewalt und die Darstellung der Reformangebote Mubaraks. Der Administrator der Facebook-Seite „Khalid Said“, Wael Ghoneim, nannte die Berichterstattung von Al-Arabiya tendenziös, irreführend und unprofessionell.Erwartungsgemäß verhielt sich Al-Dschasira anders: Die Beziehung zwischen Mubarak und dem Emir von Katar war längst angespannt. Schon vor Jahren hatte Al-Dschasira eine große Kampagne gegen das Regime gestartet, über Korruption und Reichtum des ägyptischen Präsidenten berichtete und über seine Pläne, die Macht an den Sohn weiterzugeben.Ikonen des WiderstandesAls die Demonstrationen Ende Januar begannen, sprach Al-Dschasira als erster Sender von „Revolution“. Man ließ fast ausschließlich Anhänger der Revolte zu Wort kommen und bediente sich einer sehr emotionalen Sprache. Die Wiederholung bestimmter Bilder und Szenen schuf Ikonen des Widerstandes, wie die des ägyptischen Demonstranten, der sich mutig vor ein gepanzertes Fahrzeug der Polizei stellte und damit an die legendären Szenen in Ungarn 1956, Prag 1968 und an den chinesischen Studenten am Platz des himmlischen Friedens während der Studentenrevolte 1989 erinnerte.In Libyen verfolgte Al-Dschasira dasselbe Konzept. Auch das persönliche Verhältnis des Emirs zum libyschen Diktator war getrübt, und als die Aufständischen im Osten des Landes gegen Gaddafi auf die Straße gingen, war Al-Dschasira vom ersten Tag an auf ihrer Seite.Doch als die Revolte Bahrain erreichte, offenbarte sich die Doppelmoral von Al-Dschasira. Man schilderte den Aufstand nicht als Revolution, sondern als „Unruhe“ mit religiösem Hintergrund – die Mehrheit der Bahrainis sind Schiiten, das Königshaus aber ist der Hauptströmung des Islam entsprechend sunnitisch. Bilder von Folter und der Tötung von Demonstranten wurden zunächst zurückgehalten.Die Glaubwürdigkeit von Al-Dschasira litt am stärksten, als der Sender Archivbilder als aktuelle Bilder aus dem Jemen sendete, auf denen irakische Soldaten irakische Gefangene folterten. Ein weiterer Schlag war ein Video, in dem ein Al-Dschasira-Moderator dem renommierten israelisch-arabischen Kommentator Azmi Bishara vor einer Sendung anweist, Bahrain, Jordanien und Saudi-Arabien zu ignorieren. Daraufhin reichten zwei Urgesteine von Al-Dschasira, der Syrer Faisal Al-Qasim und der Tunesier Ghassan Ben Giddo, ihre Kündigung ein.Werbung für UnabhängigkeitAuch ein Mitarbeiter von Al-Arabiya wollte die Neutralität seines Senders auf die Probe stellen: Hafiz Al-Mirasi, Ex-Chef des Al-Dschasira Büros in Washington und nun Büroleiter von Al-Arabiya in Kairo, kündigte nach der ägyptischen Revolution an, dass er in seiner Talksendung über die Auswirkungen der tunesischen und ägyptischen Revolutionen auf Saudi-Arabien reden werde. Er verabschiedete sich von seinen Zuschauern mit den Worten „Falls Sie mich in der nächsten Sendung sehen sollten, dann ist Al-Arabiya ein neutraler und unabhängiger Sender. Falls nicht, dann möchte ich mich von Ihnen heute schon verabschieden.“ Al-Mirasi tauchte nie wieder in einer Sendung von Al-Arabiya auf. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis viele arabische Journalisten und Moderatoren, die für Al-Dschasira oder Al-Arabiya arbeiten, das Handtuch werfen und eigene Sender gründen, weil sie nicht frei berichten dürfen.Al-Dschasira und Al-Arabiya haben frischen Wind in die arabische Medienlandschaft gebracht, doch die Sender bleiben in den Zwängen von Petrodollar und Politik gefangen und stellen letztlich auch nur eine gut gemachte Mediendiktatur dar. Der 11. September 2011 verhalf Al-Dschasira zu Ruhm, der Irakkrieg etablierte Al-Arabiya als Konkurrenz. Doch die arabische Revolution könnte der Anfang vom Ende beider Sender sein. Früher war der arabische Zuschauer auf Al-Dschasira und Al-Arabiya angewiesen, um der staatlichen Propagandamaschine zu entkommen. Heute nimmt die Skepsis zu, weil beide Sender am Ende doch in Geist und Logik der Diktatur gewachsen sind. Sollten die Befreiungsbewegungen in Tunesien und Ägypten in echte Demokratien münden, werden in diesen Ländern neue Sender und Zeitungen entstehen. Hervorragende Medienmacher und Journalisten gibt es dort schon heute, und ein Anfang ist in Ägypten zu spüren.Wenige Tage nach dem Sturz Mubaraks ging Al-Tahrir auf Sendung, gegründet von einer Gruppe unabhängiger Journalisten, unter ihnen Ibrahim Eissa. Er war einige Jahre zuvor ins Gefängnis gekommen, weil er einen Artikel über den Gesundheitszustand von Mubarak veröffentlicht hatte. Der Sender setzt nun auf junge Ägypter, die in den Programmen des Senders schon spürbar vertreten sind. Tabus gibt es nicht: Als fast einziges Medium kritisiert man den Militärrat hier heftig, wirft ihm sogar Versagen vor – in einer Zeit, in der andere private Sender die Machthaber ständig loben. Binnen weniger Wochen erreichte Al-Tahrir traumhafte Einschaltquoten und schlug Al-Dschasira zumindest in Ägypten. Werbeverträge sichern nicht nur die Existenz des Senders, sondern auch seine Unabhängigkeit. Und weil eine Demokratie nur mit unabhängigen Medien funktioniert, die nicht nur „echte“ Informationen liefern, sondern auch die Regierung und die staatlichen Institutionen kontrollieren, gab sich der neue Tahrir-Sender das Motto: „Das Volk will die Köpfe befreien“.