In der Wirtschaftskrise neigt der Staat zu autoritären Reaktionen, wusste Nicos Poulantzas bereits vor dreißig Jahren. Der undogmatische Marxist wäre heute 75 geworden
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) geriet letzten Monat in die Schlagzeilen, weil berichtet wurde, er wolle den Eurorettungsfonds EFSF mit einer Generalvollmacht ausstatten, also mit der Erlaubnis, Eurostabilisierungsmaßnahmen ohne entsprechende Parlamentsentscheidungen einzuleiten. Sein Parteifreund Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestags, protestierte heftig gegen den Versuch, parlamentarische Entscheidungsrechte zu beschneiden. Am 7. September entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der Haushaltausschuss des Bundestags bei Krisenhilfen prinzipiell zustimmen muss. Dennoch sah sich Schäuble bestätigt: Das Urteil ermögliche es der Bundesregierung, die Zustimmung des Parlaments in dringlichen Fällen erst im Nachhinein einzuholen.
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Der griechische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas (1936-1979) untersuchte bereits vor über dreißig Jahren den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen und der Neigung von Regierungen, zu ad-hoc Entscheidungen zu greifen. Auf diese Fragestellung stieß er sicherlich auch deshalb, weil sich die Befassung mit unterschiedlichen Ausprägungen des Obrigkeitsstaats wie ein roter Faden durch seine intellektuelle Biographie zog. In den frühen 1960ern nach Frankreich emigriert, untersuchte er die Militärdiktatur in seinem Heimatland, aber auch den Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus. Als undogmatischer Marxist in der Tradition Rosa Luxemburgs bekannte er sich nach der Spaltung der kommunistischen Partei Griechenlands zu deren eurokommunistischem Block (KKE des Inlands) und kritisierte die autoritäre Entstellung des Sozialismus in Osteuropa.Von bleibendem Wert ist vor allem sein Spätwerk Staatstheorie (1978), in dem er einen Prozess des Umbaus staatlicher Institutionen in der westlichen Welt beschrieb. Poulantzas sah als Reaktion auf die ökonomische Krise der siebziger Jahre einen „autoritären Etatismus“ heraufziehen, d.h. den Ausbau staatlicher Kontrolle über alle Lebensbereiche. Ihm folgend ist es insbesondere in tiefen Wirtschaftskrisen unausweichlich, dass staatliche Apparate Stabilisierungsmaßnahmen zugunsten des Kapitals ergreifen. Die eindeutige Privilegierung von Kapitalinteressen aber lässt keinen Raum für materielle Konzessionen, die sich an die breite Bevölkerung richten. In dieser Situation wird es für Regierungen immer schwieriger, Zustimmung zu organisieren. Sie ignorieren also die Präferenzen der Bevölkerung und setzen ihre politische Agenda im autoritären Stil durch – z.B. durch die Umgehung von Parlamenten, aber auch durch die Untergrabung innerparteilicher Demokratie. Die Krisentendenzen übertragen sich somit auf Staat und Parteien; aus einer Wirtschaftskrise wird eine Krise der Demokratie.Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese über drei Jahrzehnte alte Analyse einen stärkeren Aktualitätsbezug zu haben scheint als die derzeit überall zu vernehmenden Klagen über die ‚Führungsschwäche‘ westlicher Regierungen, und dass sich gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Deutschland mit Rückbezug auf die Arbeiten eines Griechen entschlüsseln lassen. So ist man an Angela Merkels Management der Eurokrise erinnert, wenn man bei Poulantzas liest, dass politische Parteien nicht länger als Instanz der Vermittlung gesellschaftlicher Meinungen fungieren, sondern als „Transmissionsriemen“, mit deren Hilfe führende Politiker ihre Auffassungen in die Bevölkerung hinein tragen. Bemerkt Poulantzas, dass vom parlamentarischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozess enthobene Gremien eine zunehmend wichtigere politische Rolle spielten, fühlt man sich unweigerlich an die fragliche Debatte um den EFSF erinnert. Und wenn bei Poulantzas die Rede davon ist, dass Arbeitslose zunehmend Repressalien ausgesetzt sind, die die Erfassung ihrer Lebensumstände in Datensätzen zur Grundlagen haben, kommt einem unweigerlich die Debatte um Hartz 4 und die Berechnung des Existenzminimums in den Sinn.Radikale TransformationIm Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen auf der Linken lehnte es Poulantzas allerdings kategorisch ab, die von ihm als „Durchkämmung der Bevölkerung“ und „Verfall der Demokratie“ bezeichneten Prozesse als Entstehung eines ‚neuen Faschismus‘ zu begreifen. Dennoch fiel seine Prognose pessimistisch aus: Die Dominanz autoritärer Krisenreaktionsstrategien führe zwar nicht zur vollständigen Zerstörung, aber immerhin zur Zurückdrängung demokratischer Verhandlungs- und Repräsentationsformen, also zu einem Autoritarismus innerhalb der Demokratie.Politisch folgerte Poulantzas aus dieser Einschätzung, dass eine Demokratisierung westlicher Gesellschaften nur durch eine Umwälzung ihrer sozialen und ökonomischen Grundlagen möglich ist, also durch einen Übergang zum „demokratischen Sozialismus“. In Absetzung von der Sozialdemokratie argumentierte er, dass zu dessen Erreichen ein „Prozess wirklicher Brüche“ nötig sei, der nicht lediglich die parlamentarische, sondern auch die direkte Demokratie und die Selbstverwaltung der Produzenten ausdehne. Gegen leninistische und anarchistische Vorstellungen von der ‚Zerschlagung‘ des bürgerlichen Staats wandte er ein, dass die Ersetzung von Parlamenten durch Räte in einem einzigen Schritt zu einem sozialistischen Autoritarismus führe: „Heute wissen wir doch ganz einfach (…), dass immer, wenn es kein Parlament gab (…), auch die Freiheitsrechte verschwunden sind.“ Vor diesem Hintergrund machte sich Poulantzas für eine Strategie der „radikalen Transformation“ stark, nach der linke Kräfte innerhalb des Staats mit den sozialen Bewegung außerhalb von ihm auf Augenhöhe kooperieren müssen.Angesichts seines Freitods ein Jahr nach der Veröffentlichung der Staatstheorie, dessen Ursachen nicht geklärt sind, kam Poulantzas nicht dazu, seine strategischen Überlegungen an Hand von spezifischen Konstellationen zu konkretisieren. In Anbetracht der Umbrüche in der arabischen Welt und der Protestbewegungen in Spanien, Griechenland und Israel ist man sicher nicht schlecht beraten, Poulantzas erneut zu Rate zu ziehen. Gleiches gilt für die Analyse der autoritären Tendenzen von Regierungen und Staatsapparaten in der westlichen Welt. Aussagen wie die, dass man „Freiheiten erst wirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden“, hört man in der aktuellen politischen Debatte allzu selten. Angesichts dessen steht nicht zu vermuten, dass er heute einen unbeschwerten 75. Geburtstag verlebt hätte.