Obwohl sein Denken weit über das Cineastische hinausdrängte, wurde der 1889 geborene Siegfried Kracauer als ein Theoretiker des Kinos bekannt. So rückte in den Hintergrund, dass es ihm vor allem darum ging, die geistige Situation unserer Epoche zu ergründen – eine Tätigkei, von der seine Essays, Feuilletons, Rezensionen aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zeugen.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs arbeitet Kracauer überhaupt: an Büchern, eines über den von ihm geschätzten Soziologen Max Scheler, ein anderes über die gesellschaftsanalytische Qualität von Detektivromanen. Daneben entstehen regelmäßige Beiträge für die Frankfurter Zeitung, die ihn im Jahr 1922 als Redakteur einstellt.
Die neue
einstellt.Die neue Werkausgabe erfasst zum ersten Mal auch viele von Kracauers frühen Zeitungstexten. Lokalberichterstattung aus Frankfurt zumeist, wie es eben seinem Aufgabenbereich zu jener Zeit entspricht, doch zeigt sich, dass es Kracauer um mehr als die Erledigung journalistischer Pflichten geht. Beispielsweise sind seine zahlreichen Tagungs- und Kongressberichte derart inspiriert geschrieben, dass die geistige Atmosphäre jener Jahre atemberaubend gegenwärtig wird, der heutige Leser Anteil nimmt an hitzigen Debatten von Philosophen, Soziologen, Theologen, in denen es um nicht weniger als die Selbstfindung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches geht.Materialisierte TräumeKracauer berichtet nicht nur, er engagiert sich, nutzt die Zeitung, um sich mit den damals ungemein populären Positionen Friedrich Nietzsches, Oswald Spenglers, Rudolf Steiners, Ernst Jüngers nachhaltig auseinanderzusetzen. Es ist dies nicht der Ort, um ausführlich darauf einzugehen. Nur eines sei herausgestellt: Immer wieder wendet Kracauer sich den Geschichtsdeutungen Spenglers zu, zeigt etwa, dass diese einen freien Willen der Menschen konsequent verneinen und, ins Gewand wissenschaftlicher Objektivität gekleidet, durch und durch autoritäre Gesellschaftsformen als unvermeidbar hinstellen. In dem Kracauer darüber aufklärt, versucht er, dem deutschen Bürgertum ein Bewusstsein seiner selbst zu geben, es auf die Seite der heftig bekämpften Weimarer Republik zu ziehen, der immerhin ersten Gesellschaftsform in Deutschland, in der es auf Willen und Stimme eines jeden Bürgers wirklich ankommt.Überhaupt tritt Kracauer in schroffen Gegensatz zur deutschen Geisteswelt seiner Zeit. Louis Ferdinand Celine oder Julien Green stehen ihm weit näher als Richard Wagner und Stefan George; wissenschaftlich will er nicht über theoretische Systembauten, sondern über die konkrete Alltagsrealität der Menschen nachdenken. Letzteres intensiviert sich, als Kracauer Mitte der zwanziger Jahre die Schriften von Karl Marx studiert.In der Folge erweitert er das Spektrum seiner Zeitungsarbeit. Er sucht Arbeitsämter, Büros, Fabriken auf, befragt zahllose Menschen, um über die Mentalität einer neu entstandenen Gesellschaftsschicht, die Angestellten, aufzuklären. Er wendet sich Kino, Sport, Tanzrevuen, also der populären Kultur zu, weil die Gesellschaft dort ihre Träume materialisiere, ihr Geisteszustand sichtbar werde. In seinen hinreißenden Städtebildern, den zahllosen Texten über Straßen, Plätze, Kneipen, Warenhäuser vermag er wie kaum jemand sonst, das, was man nicht sieht – geistige Befindlichkeiten und kollektive Stimmungen – zu durchdringen.Der Existenz-SchreckenIn vielen Betrachtungen Kracauers geht es um etwas heute nahezu Vergessenes: den Existenz-Schrecken, den das Einsetzen der Moderne und schon gar die Katastrophe des Ersten Weltkriegs bewirkten. In seinem ausgezeichneten Porträt Max Beckmanns bringt er dies auf den Punkt. Der Maler, schreibt Kracauer, habe erst nach seinen Erfahrungen im Krieg zu einem eigenen Ausdruck gefunden. Seitdem seien seine Bilder nicht mehr auf Sensationseffekte getrimmt, stattdessen stelle er schonungslos dar, was sich vor seinen Augen auftut: die von Trostlosigkeit und metaphysischer Verzweiflung geprägte Situation von Menschen, deren Welt in Tausend Stücke zersprungen ist, und die keine Vorstellung mehr davon haben, welche Idee sie denn zusammenbinden könnte.Was diese neue, historisch unvergleichliche Lage an Möglichkeiten lässt und was sie verbietet, nach welchen Werten das Zusammenleben der Menschen sich nun noch ausrichten kann – solche Fragen stehen im Fokus von Kracauers unermüdlichem Nachdenken. Eigentlich ist er promovierter Architekt, hat einige Jahre als solcher gearbeitet. Dieser Passion geht er auch schreibend weiter nach, berichtet regelmäßig über Frankfurter und Berliner Bauprojekte. In seinen Urteilen über die Architektur zeigt sich vielleicht am besten, was Kracauer unter Moderne versteht. Keineswegs einen Bruch mit allem Vorherigen, sondern: im Späteren etwas vom Früheren erhalten. Das ist auch sein Verhältnis zu Kunst, Literatur, Philosophie. Kracauer achtet moderne Autoren wie Celine ungemein, aber er bringt auch Gedanken und humanistische Einsichten von Goethe, Hölderlin, Heine in aktuellen Debatten zur Geltung.Nach Hitlers Machtübernahme und dem Reichtagsbrand muss der aus jüdisch-deutschem Elternhaus stammende Kracauer ins Exil fliehen, wo es ihm schlecht ergeht. Trotz anders lautender Zusagen kündigt ihm die Frankfurter Zeitung das Mitarbeiterverhältnis. Hernach kann er nur noch sporadisch für Zeitungen arbeiten.Gewiss, ob ihrer Themen ragen seine in gut einem Jahrzehnt entstandenen Essays, Feuilletons und Rezensionen in die Gegenwart hinein, sind auch eine wunderbare Möglichkeit, Reisen in die Frühzeit unserer Moderne zu unternehmen. Vor allem aber zeigt sich Siegfried Kracauer hier als ein Meister der Erzählkunst, zu dessen Gegenständen Baukunst, Kino, Politik, Philosophie, Soziologie zählen.