„Wir wissen nichts über unsere Sinne,“ hat der kürzlich verstorbene Medientheoretiker Friedrich Kittler einmal behauptet, „bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen.“ Und verwies darauf, dass Menschen erst seit 1900 vom „Film ihres Lebens“ berichten, der während eines Unfalls vor dem Auge ablaufe. Von Wachstafeln, mit denen man Jahrhunderte vorher das Gedächtnis verglichen hatte, ist seit dieser Zeit nicht mehr die Rede.
Wäre es ein medienwissenschaftliches Gesetz – „Sinne werden durch die zum Zeitpunkt der Definition vorherrschende Medientechnik definiert“ –, es müsste auch für das gelten, was seit Mitte der neunziger Jahre unsere gesellschaftliche Existenz prägt: das Internet.
Internet. Wir würden dann davon sprechen, dass wir Serveranfragen stellen, wenn wir versuchen, uns an etwas zu erinnern, oder dass wir besonderen Erinnerungen eine eigene IP-Adresse zugewiesen haben oder vom Packet-Switching unserer Gedanken oder vom Dazwischenschalten eines Proxys, wenn wir etwas möglichst unbeteiligt und distanziert erleben möchten. Aber nichts dergleichen passiert. Die Metaphern und Modelle, die das Internet bereitstellt, sind fremdes Technogebrabbel und schmiegen sich in keiner Weise an die Situation des Menschen an. Entweder ist das Medienmetaphern-Gesetz doch nicht gültig, oder das Internet unterscheidet sich so sehr von vorherigen Medien, dass wir es auf diese Weise nicht fassen können.Das lässt sich überprüfen, indem man sich fragt, was mit dem Internet eigentlich produziert wird. Mit dem Federhalter, dem Bleistift und der Schreibmaschine werden Texte produziert, mit Telefonen produziert man Gespräche, Kameras erzeugen Fotos und Filme. Aber was kommt aus dem Internet? Irgendwie alles: Briefe, Telefongespräche, Fernsehen, Bücher, Musik. Umgekehrt stopfen wir das alles auch wieder hinein, wenn wir mailen, skypen, youtuben, bloggen, myspacen. Eines davon herauszugreifen und mit dem Internet zu assoziieren ist unmöglich, aber ebenso unmöglich ist es, „das alles“ als das Produkt des Internets zu begreifen. Das metonymische Potenzial des Internets ist äußerst gering, es gibt keinen Teilaspekt, den man verabsolutieren und zur Verkörperung des Ganzen machen könnte. (Ein Grund übrigens, warum Videotext sich nicht durchsetzte: Der Fernsehapparat wurde zu stark mit bewegten Bildern verbunden, als dass Text dort hätte stattfinden können.)Die „Datenautobahn“Und wenn das Internet schon kein metonymisches Potenzial hat, wie sollte man die andere große rhetorische Figur, die Metapher, mit ihm konstruieren können, um über es reden zu können? Dazu müsste es die gleiche Struktur oder die gleichen Eigenschaften haben wie etwas, das uns vertraut ist. Tatsächlich gab es eine solche Metapher, damals in den Neunzigern, als noch niemand Internet hatte und man nur davon hörte, dass es so was an Universitäten geben sollte.Damals hieß es „Datenautobahn“. Der Spiegel etwa schrieb 1994 unter der Überschrift Ganz schön belastet von drohenden „Verkehrsstaus“, denn „derzeit drängen monatlich Hunderttausende private Computerfans neu auf die bislang vorwiegend von Militärs, Wissenschaftlern und EDV-Unternehmen benutzte Datenschnellstraße; täglich entstehen neue Auffahrten.“ Internetnutzer wurden konsequent als „Datenreisende“ bezeichnet, die eine „Datenreisewelle“ erzeugten und auf Internetseiten wie „Schaulustige bei einem Verkehrsunfall“ verweilten. Dass diese unbändige Bildlichkeit bald aufhörte, hatte damit zu tun, dass die Hunderttausende, als sie dann im Internet angekommen waren, mit „Daten“ nichts mehr zu tun hatten. Stattdessen chatteten, mailten, kauften sie ein.Ein gutes Dutzend Jahre blieben die Internetnutzer dann ohne Metapher, und je erfolgreicher das Internet seine technischen Möglichkeiten entfaltete, desto unförmiger und unfassbarer wurde es. Bis eine verblüffende Entwicklung einsetzte: Computer wurden nicht mehr, wie in den vorangegangenen Jahrzehnten, immer leistungsstärker, sondern machten in kürzester Zeit mehrere Schritte zurück und schrumpften zu beschränkten Zwergen namens Netbook und Smartphone, die gerade mal fähig sind, einen funktionierenden Internetzugang zu gewährleisten und einen Browser laufen zu lassen. Und erst jetzt, nach dieser Schrumpfung, wird Metaphorisierung wieder denkbar. Denn plötzlich gibt es die „Cloud“.Milliarden feiner TröpfchenDas Interessante an dieser Metapher ist, dass sie erst funktionierte, als man sie missverstehen konnte. Ursprünglich meinte „Cloud“ nämlich, dass es eine bestimmte Rechner- und Netzwerkstruktur gab, mit der man seine Rechenbedürfnisse flexibel anpassen konnte. Dazu wurde ein Netz von Rechnern aufgebaut, das beliebig erweiter- oder reduzierbar war, das eher eine „Wolke“ darstellte als eine konkrete Architektur.Möglich war das, weil die Anwendungen nicht mehr auf einem der Rechner liefen und von diesem bearbeitet wurden, sondern auf allen Rechnern gleichzeitig. Ein einzelner Rechner war nur ein Teil der Rechen- und Speicherleistung des gesamten Systems. Weil diese Systeme die meiste Zeit überdimensioniert und nur zu bestimmten Hochzeiten vonnöten waren, begannen Firmen wie Amazon sie zu refinanzieren, indem sie Rechen- und Speicherleistung vermieteten. Was erst dadurch nötig und möglich wurde, weil so viele Menschen nun Geräte hatten, die auf externe Leistungen angewiesen waren: die Schrumpfcomputer Smartphone und Netbook. Eine glückliche historische Fügung, die einen technischen Regelkreis erzeugte.Man missversteht den Begriff jetzt, weil man nicht ein bestimmtes Rechnernetz meint, dessen CPU-, RAM- und ROM-Kapazitäten genutzt werden, sondern weil man überhaupt nicht mehr das Gefühl hat, einen Computer zu benutzen. Smartphones und Netbooks sind so anspruchslos, dass sie ins eigene Körpergefühl eingehen und zu einem Sinnesorgan werden. Man ist nicht mehr „am Rechner“, sondern „in der Cloud“, was gegenüber dem vorherigen „im Netz sein“ den entscheidenden Vorteil hat, dass es das Formlose, Unfassbare, Undefinierbare des Internets in einem Bild einfängt. Denn Wolken sind aus Milliarden feinster Tröpfchen oder Kristalle zusammengesetzt, sie verändern ständig ihre Form, ballen sich zusammen und regnen aus, ziehen sich lang und zerfasern, je nachdem, wie der Wind steht, wie die Thermik der Erde ist. Treffender könnte man unsere Wahrnehmung des Internets nicht beschreiben.In Zukunft wird die Wissenschaft, die sich mit dem Internet beschäftigt, zu sich selbst kommen, indem sie sich als Meteorologie begreift. Sich mit klassischen Massenmedien zu beschäftigen, wird jetzt als Astronomie erkenntlich – als die Beschäftigung mit Himmelskörpern, die von bestimmten Axiomen und Naturgesetzen ableitbar sind. Meteorologie beschäftigt sich mit all den Körpern am Himmel, die unerwartet sind, die unvorhersehbar entstehen und vergehen, die nicht aufgrund von nachvollziehbarer Mechanik erzeugt sind. Im Internet ist wie in einer Wolke alles „in der Schwebe“, wie das griechische meteoros übersetzt werden kann.Die „Cloud“ Mit der Metapher der „Cloud“ im Kopf kann man erneut die Frage stellen, was das Internet eigentlich produziere. Und eine gar nicht so esoterisch klingende Antwort würde lauten: Wetter. Klassische Massenmedien produzieren Sternbilder, sich nur langsam verändernde Konstellationen von bestimmten Entitäten, die von vielen Rezipienten in gleicher Weise wahrgenommen werden können. Die große Wolke Internet erzeugt dagegen eine Vielzahl von Zuständen an bestimmten Orten zu bestimmten Zeitpunkten. Man wird beregnet oder beschienen, aber man dünstet selbst auch aus und entlässt Partikel in die Sphäre, lässt sich treiben oder macht Wind.Außerdem gibt es keine festen Zeiten für Wetter, kein Programm oder Veröffentlichungstermine. Wetter ist immer und es betrifft immer jeden, auch wenn man sich vor ihm geschützt glaubt. Bloß weil man sich entschieden hat, keinen Computer und kein Smartphone zu benutzen, heißt das nicht, dass man offline ist. Internet hat den Alltag genauso imprägniert wie elektrischer Strom, fließendes Wasser und Verbrennunsmotoren.Gilt Kittlers Medienmetaphern-Gesetz also noch für das Internet? Wohl nur, wenn man aus seinem eigenen, individualistischen Kopf heraus denken könnte. Denn Wetter ergibt keinen Sinn. Das ist der Antrieb aller Frisörsalondiskussionen auf dem Boulevard: Was soll das für ein Sommer gewesen sein? Individuell hat man ihn als Zumutung erlebt, weil größere Erzählungen wie Urlaub, Gartengestaltung, Freibadsaison nicht funktionierten. Über einen größeren Zeitraum betrachtet war der Sommer dann einer der heißesten und trockensten seit Langem. Würde es gelingen, das Internet nicht als Programmangebot zu begreifen („Was wird mir heute geboten?“), sondern als Umgebung, in der man sich in bestimmter Weise einrichtet („Hier ist das Wetter so, dass ich Wein anbauen könnte“) – das Medienmetaphern-Gesetz könnte wieder greifen. Es bleibt nur abzuwarten, ob uns das auf Dauer nicht zu wolkig ist.